MiniKrimi Adventskalender am 8. Dezember


Heute, meine Lieben, geht’s mir ans Leder. Oder das hat sich zumindest die liebe M. gedacht, als sie mir folgende Clues für diesen MiniKrimi geschickt hat: blutiges Tangahöschen/ weisser Rauschebart/ Kristallkugel/ Trommel/ Kirchenglocken/ Seemöwe/ hohe Nordseewellen/ Pirat(enkostüm)/ Messwein. Na, dann schau’n wir mal, ob ich daraus was aus dem Hut, nein, aus meinem Kopf zaubern kann.

Agentin Feli’s erster Fall

Ich habe lange gezögert und bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich das Richtige tue. Mein Alltag verläuft in geregelten Bahnen. Aufstehen, essen, putzen, schlafen, das Haus inspizieren, essen, putzen, schlafen, den Garten inspizieren – aber nur im Sommer, denn der Winter in diesen Breiten jagt mir beständige Kälteschauer über den Rücken. Ich lebe nun schon seit 8 Jahren in Deutschland, aber an das milde Klima meiner Heimat Mallorca erinnere ich mich noch immer mit Wehmut. Allerdings ist es das einzige, was ich hier vermisse. Wäre ich geblieben, wäre ich schon lange tot. Aber Mia hat mich gerettet und zu sich nach Hause geholt. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Deshalb passe ich gut auf sie auf, allein schon in meinem Interesse. Und deshalb bleibe ich bei meinem Entschluss. Immerhin habe ich berühmte Vorbilder, die es nicht nur zu Ruhm, sondern auch zu einigem finanziellen Erfolg gebracht haben. Denkt nur an die Wanze Muldoon und seine berühmte Gartendetektei. Oder an den von mir wegen der politischen Entgleisungen seines menschlichen Mitbewohners nicht besonders geschätzten Francis. Da ich selbst Ausländerin bin, bin ich da sehr empfindlich. Aber ich schweife ab.

Mia ist Schriftstellerin. Sie hat es nicht leicht. Und stellt mir und den anderen trotzdem jeden Tag ein gutes Essen hin. Und nicht etwa irgendein Billigzeug, nein! Sie informiert sich immer wieder über die beste und bekömmlichste Ernährung. Dabei übertreibt sie es manchmal zwar mit ihrer Fürsorge. Kürzlich hat sie auf einer dubiosen esoterischen Internetseite gelesen, dass Messwein stimulierend auf den Organismus alternder Katzen wirken soll, wegen der positiven psychogenen Vibrationen. Ein völliger Quatsch, natürlich. Ich habe mit dem Essen solange gewartet, bis meine Mitbewohnerin Bruna in der Küche war, und dann so getan, als sei ich kurz abgelenkt. Die Arme ist nicht die hellste Birne am Kronleuchter, aber – Achtung: Trommelwirbel – extrem verfressen. Sie hat meinen Napf in Sekundenschnelle leergefressen, Messwein hin oder her. Mia hat nicht mal bemerkt, dass Bruna den Rest des Abend tänzelnd durchs Wohnzimmer ging. Müssen die Vibrationen gewesen sein.

Aber ich schweife schon wieder ab. Verzeiht. Das ist mein erster Versuch als Geschichtenschreiberin, ich verliere noch leicht den Faden. Also: ich will euch von meinem ersten Fall – und dem ersten Erfolg – als Privatdetektivin berichten. Und das kam so:

Stop. Bevor ich besagten Fall aufschlüssele, muss ich euch erst mehr über unsere kunterbunte Hausgemeinschaft erzählen. In unserem kleinen Hexenhäuschen am Stadtrand von München leben wir zu sechst: Meine beiden älteren Schwestern Chiara und Bruna, ich, dazu ein Mafioso aus Dubai, nennen wir ihn Mischief, und seit neuestem noch ein Baby namens Pepa. Ach ja, und Mia, natürlich. Ihr gehört das Haus. Chiara und Bruna sind schon in die Jahre gekommen und, wären sie Menschen und hätten sie jemals sozialversicherungspflichtig gearbeitet, Rentnerinnen. Das heißt, die beiden haben schon immer mal wieder beim Film gejobbt, vor allem Chiara, sie hat in ihrer Jugend viel gemodelt und hatte ihr letztes Shooting noch in diesem Herbst. Statt eines Honorars hat sie drei maßgeschneiderte Mäntel bekommen, über die Mia zunächst gelacht und gesagt hatte, Chiara sähe darin aus wie in einem Piratenkostüm. Jetzt ist es Winter und Chiara besteht nur noch aus Haut und Knochen. Ohne Mantel wäre sie augeschmissen.

Das muss man sich mal vorstellen! Ein Schlittenhund im Mantel! In einem früheren Leben wäre sie mit wehendem Fell an einem einsamen skandinavischen Strand durch die Brandung gerannt, über sich kreischende Seemöven und die Gischt hoher Nordseewellen wie Diamanten im Fell! Ach ja. Traurig. Aber ihr Verstand funktioniert noch und ist scharf wie das japanische Küchenmesser, an dem Mischief sich beim Abschlecken schon mal die Zunge aufgeschnitten hat, weil es nach Lachs roch.

Ja. Also das ist unser bunter Haufen. Chiara, eine 15 Jahre alte Malamute-Dame, Bruna, ein 11 Jahre alter Dobermann-Verschnitt (das hört sie gar nicht gerne, ihr Vater sei rein und rassig gewesen, nur kleingewachsen, behauptet sie), Pepa, das vorlaute Zwegdackelmädchen und – Mischief, der Hahn im Korb. Mitten in der Pubertät, Arabic-Mau und 7 Kilo schwer, ein Kraftprotz, wie er im Buche steht, immer darauf aus, anderen eins auszuwischen und Unruhe zu stiften. Ob er Mias Hausschuhe verschleppt, den handgeknüpften Teppich aufdribbelt oder mitten in der Nacht die Haustür aufmacht und uns – theroretisch – der Gefahr aussetzt, von Mördern gemeuchelt zu werden. Ich habe zwar in Erfahrung gebracht, dass die Kriminalitätsrate in diesem Stadtteil äußerst niedrig ist, aber das binde ich Mischief natürlich nicht auf die Nase.

Achso, ihr fragt, wer ich eigentlich bin? Ja. Ich bin Feli, bin 8 Jahre alt, stamme aus Mallorca, und die Menschen nennen mich eine Glückskatze. Warum? Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich das große Glück hatte, Mia zu begegnen. Sie hatte natürlich genauso großes Glück, denn was würde sie ohne mich tun? Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre der Fall, von dem ich euch jetzt endlich berichten werde, vermutlich tödlich ausgegangen. Und wir hätten einen Störenfried weniger im Haus. Aber „psst“, das habt ihr nicht gehört!

Gut. Vorgestern war ein Tag wie jeder andere. Chiara verweigerte ihr Essen und pinkelte stattdessen aufs Parkett – warum Mia ihr nicht immer diese WIndeln anzieht, die schon ihre Mutter getragen hat, also Mias, versteh ich nicht. Bruna lag auf der Seite und knurrte unentwegt prophylaktisch, falls Pepa auftauchen sollte. Aber die war damit beschäftigt, Mischief durchs Haus zu jagen. Treppauf treppab. Hach – das sind die Momente, die ich liebe. Früher hat er das nämlich mit mir gemacht. Tja, so kann das Blatt sich wenden….

Mia saß in ihrem Zimmer und versuchte, das Seitenpensum für ihren neuen Roman zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis sie in Fahrt kam, aber dann fing sie an zu schreiben – udn vergaß die Zeit. Wie schön, wir alle hatten Ruhe!

So wurde es Nachmittag. Stille lag über dem Haus. Nur einmal schien es mir, als hörte ich ein Scheppern ganz oben. Vielleicht ein loser Dachziegel?

Um kurz vor sechs stand ich auf und beschloss, nach Mia zu sehen. Wenn sie so in Schreibwut ist, vergisst sie leicht, dass bei uns um Punkt 18 Uhr Abendbrotzeit ist. Und gewisse Regeln müssen einfach eingehalten werden. Dafür sorge ich. Auf dem Weg ins Arbeitszimmer begegnete mir Chiara. „Gerade wollte ich Mia holen“, sagte sie. Wer’s glaubt! Bruna schloss sich uns an. Pepa bellte, kam alleine aber nicht die Treppen hoch. Also standen wir drei vor Mias Schreibtisch und sahen sie an. Erst mal ganz still. Dann bellte Chiara kurz. „Jaja, was ist denn?“, fragte Mia. Bruna jaulte. Sie ist immer gleich so ne Heulsuse. „Bruna, ist ja gut.“ Mia starrte weiter auf den Bildschirm. Zeit, zu handeln! Kurzentschlossen sprang ich auf die Tastatur und starrte sie auffordernd an.

„Achso, ist es schon Essenszeit? Kann nicht sein, Mischief hat sich noch nicht gemeldet.“ Er ist eigentlich immer der erste, der nach Futter schreit. Und jetzt fiel es auch mir auf: ich hatte den dicken Kater den ganzen Nachmittag über nicht gesehen! Weshalb ich auch so ruhig hatte dösen können.

„Wir gehen einfach runter und fangen schon mal mit dem Essen an,“ schlug ich vor. „Wenn er das Rascheln der Tüte mit seinem Trockenfutter hört, kommt er ganz sicher angerannt.“ Ob Mia mich verstanden hatte oder nur dem gleichen Gedankengang wie ich gefolgt war, weiß ich nicht. Aber sie ging in die Küche und bereitete unser Abendessen zu. Dabei rief sie immer wieder „Mischief!, Komm, lecker lecker!“ Wie albern. Ich reagiere auf sowas gar nicht erst. Doch bei ihm klappte das normalerweise. Als wir dann aber alle um unsere Töpfe versammelt waren, war von dem roten Mafioso immer noch nichts zu sehen.

Wir aßen dann schließlich ohne ihn. Aber jetzt war Mia richtig besorgt. „Wo kann er nur stecken? Das ist noch nie passiert!“ Und hier musste ich ihr recht geben. Egal, welchen Unsinn er wieder angestellt hatte – sein Futter hatte er noch nie verpasst. Also fing auch ich an, mir Sorgen zu machen.

Mia begann mit einer systematischen Suche im ganzen Haus. Waschküche – den warmen Platz hinter der Heizung nicht vergessen! Und auch nicht den ausrangierten Wäschekorb mit den Kissen für die Hollywoodschaukel, die dort in Erwartung des nächsten Sommers vor sich hin staubten. Nichts. Unter den Betten, unter den Matratzen – dort fand Mia, das hörte ich an ihren erpörten Ausrufen, alte Kotknöllchen und ein Mauseskelett. Dann die Schränke. „Ich habe doch gar keinen aufgemacht, heute?“ Sie wühlte sich durch Wintermäntel und Daunendecken bis in die hintersten Ecken. Überall das gleiche: Spuren seiner Anwesenheit, wie etwa einen zerrissenen Wollschal, Berge zerkauter Computer- und Ladekabel („Dieses Monster, ich bring ihn um!“), Reste von Kaustäbchen, obwohl die auch von Pepa stammen konnten, sie war ja nur halb so groß wie er und folgte ihm gerne in seine geheimsten Verstecke. Aber diese Spuren hatten eines gemeinsam: sie waren alle alt.

Nach zwei Stunden vergeblicher Suche ließ Mia sich auf das Sofa fallen. „Es ist wie vom Erdboden verschluckt. Wo kann er nur sein?“

Ich war Mia die ganze Zeit gefolgt, beobachtend, darauf achtend, dass sie nichts übersah. Aber nein – auch ich hatte den Kater nicht entdeckt. Jetzt war es an der Zeit, andere Methoden anzuwenden. Da ich nichts davon halte, meditirend in einer Kristallkugel nach Lösungen zu suchen, befragte ich zunächst die Zeuginnen im Haus. Und stieß dabei auf eine Mauer des Schweigens. Weder Chiara noch Bruna oder Pepa wollten Mischief in den letzten Stunden gesehen haben. „Ich finde übrigens nicht, dass er hier sonderlich fehlt“, bemerkte Chiara. Die alte Dame hatte so manches Haarbüschel in seinen Fängen verloren. „WIr sind als reiner Frauenhaushalt doch viel besser dran“, stellte Bruna fest. Und Pepa? Die Kleine verfügte noch nicht über eine besonders ausgeprägte Beobachtungsgabe. „Keine Ahnung. Also das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als ich mir sein Kaustäbchen ausleihen wollte. Da ist er wie der geölte Blitz in den Flur gerannt und ab durch die Katzenklappe.“

Moment mal, da hatte Mia noch gar nicht nachgesehen. Eigentlich ist der Kate rnämlich zu dick, ehm, zu groß, um sich durch die Klappe zu zwängen, und ruft immer nach Mia, wenn er raus will. Aber wie sollte ich sie dazu bewegen, das nachzuholen? Da kam Chiara ins Spiel. „Auf dich hört sie am meisten. Sag ihr, dass du piseln musst. Dann rennt sie sofort mit dir raus. Und dann schaust du dich um. Bitte!“ „Na gut“, meinte Chiara. Auch, wenn sie Mischief nicht besonders mochte, legte sie doch Wert darauf, ihre Rolle als Rudelchefin zu betonen. Gesagt, getan. Als sie nach einer Viertelstunde wieder ins Haus kamen, wartete ich schon ungeduldig. „Und?“ „Du hattest recht, ausnahmsweise“, sagte sie. „Draußen vor der Tür roch es irgendwie seltsam. Nach Mischief, aber so, wie er riecht, wenn er Angst hat“.. Ich hatte noch nie bemerkt, dass der Kater so ein Gefühl überhaupt kannte. „Und dann auch fremd. Nach einem fremden Menschen. EInem Mann.“ „Und? Ist das alles?“ Ich war enttäuscht. Hier kamen immer mal Fremde her. Der Gärtner, der Schornsteinfeger. Allerdings nicht in den letzten paar Stunden. Aber wie zuverlässig war der Geruchssinn einer uralten Dame? Litten die nicht alle unter Anosmie? „Nein, das ist natürlich nicht alles“, triumphierte Chiara. „Auf dem Boden vor der Haustür lag ein Stück Papier. Braun, sah aus wie ein Blatt. Mia hätte es übersehen. Aber ich habe dran rumgekaut, da hat sie es mir weggenommen. Und es stand was drauf.“ „WAS?“ „Keine Ahnung, ich kann Menschenschrift nicht lesen.“

Wie enttäuschend. Ich auch nicht! Was nun? Aber da kam Mia wieder ins Zimmer. Setzte sich mit dem Stück Papier – es sah aus wie ein abgerissener Streifen einer Brottüte, und es roch auch so – aufs Sofa, und ich daneben. Ich kenne meine Mia. Wenn sie nicht weiterweiß, fragt sie immer uns um Rat. Ihre besten Freundinnen. „Chiara, Feli, das ist furchtbar. Hier steht:

Ihr Kater hat nun zum wiederholten Mal in meinen Garten gekackt. Gekackt. Wie vulgär! Jetzt reicht es mir. Ich habe ihm einen Denkzettel verpasst, von dem er sich so schnell nicht erhoien wird. Und wenn er überlebt, dann bringe ich ihn das nächste Mal ganz sicher um.

Typisch. Ohne Unterschrift. Der arme Mischief. Wer weiß, was er mit ihm gemacht hat! Wenn er verletzt ist, hat er sich bestimmt verkrochen. Und wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden, verblutet er vielleicht. Oder erstickt. Oder…. „

Chiara und ich sahen uns an. WIr mochten den einfältigen Kater nicht besonders. Aber den Tod wünschten wir ihm deshalb noch lange nicht. Jetzt hieß es konzentiert nachdenken.

Und genau das tat Agentin Feli. Ich ließ die letzten Stunden Revue passieren. War mir irgend etwas aufgefallen? Etwas Außergewöhnliches? Dann fiel es mir ein: ich hatte ein Geräusch gehört. Irgendwo oben. Vielleicht auf dem Dach.

Das Dach! Der Nachbar hatte einen alten Kastanienbaum, dessen Äste in unseren Garten hinüberwuchsen. Mia hatte damit kein Problem, sie erntete die Nüsse, die zu uns runterfielen, und aus den Blättern kochte sie Tee. Igitt. Aber bitte. So weit, so gut. Ich hatte einen Anhaltspunkt. Aber wie brachte ich Mia dazu, auf den Dachboden zu gehen? Dort hatte sie nicht mal gesucht, denn der Zugang war von innen für den Kater unerreichbar, und er war dort noch nie gewesen.

Ich begann, zu miauen. Lauter und lauter. Bis ich Mias Aufmerksamkeit hatte. Dann sprang ich vom Sofa und ging zur Treppe. Chiara hinterher. Ich miaute, sie bellte. Schließlich fiel bei Mia der Groschen. Menschen sind manchmal unendlich langsam! Sie folgte mir. Chiara blieb unten, Treppen sind mit ihrer Artrose nicht mehrmals am Tag zu meistern. Immer, wenn Mia zögerte, schaute ich sie intensiv an. Wozu hat man schließlich einen hypnotischen Blick?

Vor der Treppe zum Dachboden blieb ich stehen. Und rief nach dem Kater. Auch Mia fing an, ihn zu locken. Rufen. locken, Stille. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hörten wir einen Ton. Ein Scharren. Dann ein leises Klagen. Ganz untypisch für den Mafioso. Aber vielleicht ging es ihm wirklich schlecht? Mia öffnete die Luke zum Dachboden und machte sich an der Leiter zu schaffen. „Mist, ich hab mein Handy nicht dabei. Kein Licht.“ Sonst hat sie das blöde Ding permant in der Hand. Aber zum Glück leuchtete durch die beiden Dachluken noch etwas Spätabendsonne. Ich klettere nicht gerne, aber manchmal muss man über seinen Schatten springen. Vor allem als Agentin. Ich zwängte mich also an Mia vorbei. Staub, Spinnweben, kaputte Schindeln, alte Kacheln und Bretter. Kisten mit Gerümpel, Faschingsklamotten, kaputtes Spielzeug. Was die Menschen so alles ansammeln, ohne sich trennen zu können. Ich blieb stehen. „Mischief“, flüsterte ich. „Wo bist du?“ Plötzlich kam aus der Dunkelheit ein Ungeheuer auf mich zu. Ich schrie und pralle gegen Mias Bein. Auch sie war endlich oben angekommen. Und stieß ebenfalls einen erschrockenen Schrei aus. Das Monster kam jetzt direkt auf uns zu. Unter einem Wust feuerroter Haare hing ein riesiger, schmutzigweißer Rauschebart. Und um den Körper gewickelt – ein blutiges Tangahöschen. Getränkt mit dem Blut, das aus einem Riss im buschigen Fell unseres Katers tropfte. „Mischief“, riefen Mia und ich erleichtert. Der dumme Kerl hatte sich über die Kastanie auf unseren Dachboden geschleppt und war prompt in die Kiste mit den Faschingssachen geplumpst.

Ganz benommen humpelte er auf uns zu, un in meiner Euphorie hörte ich jubilierende Kirchenglocken läuten.

„Du hast ihn gerettet“, sagte Mia später, als ich neben ihr auf dem Sofa lag. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, auf dem Dachboden nachzuschauen. Ich hatte keine Ahnung, dass man da von der Kastanie aus reinkommt.“ Naklar, wie auch, du bist ja ein Mensch, dachte ich. Die Tierärztin hatte Mischiefs Wunde verarztet und uns geraten, Anzeige zu erstatten. Der Zettel sei Beweis genug. Aber ich denke, Mischief wird in Zukunft einen großen Bogen um Nachbars Garten machen.

Und ich? Habe schon den nächsten Fall. Vorhin kam Pepa zu mir. Sie kann ihren Quietscheteddy nicht finden, ohne den sie nicht einschlafen kann. Und ich habe jetzt eine gewisse Reputation. ich bin mir fast sicher, dass Mischief dahinter steckt. Ich fange gleich an mit der Spurensuche.

Freie Liebe


Auf der Ladies Crime Night in Leipzig fragte mich eine Zuhörerin, der meine „Agentur zweites Glück“ offenbar sehr gefallen hatte: „Und wie geht es weiter? Wo steht die Fortsetzung? Ehm – das war ein Einzelkrimi. Aber die Idee war geboren. Elvira und ihre Agentur sind mir viele weitere MiniKrimis wert. Und dann werde ich das Buch natürlich auch drucken. Wenn Ihr Vorschläge habt, wen, wann, wo und wie Elvira ihre Paare zursammenbringen soll – her damit! Ich erwähne euch als Ideengeber*in – Ehrensache!

Ein augenzwinkernder MiniKrimi über Lieben und Sterben im Europa ohne Grenzen

„Guten Morrrgen, Zeit zum Aufstöhn!“ Thea reißt erschrocken die Augen auf und schaut sich sekundenlang orientierungslos um. Weiß gekalkte Wände statt weicher Klippen, Betonboden statt Sand und ein Flickenteppich dort, wo gerade noch ihr leuchtend rotes Handtuch lag. Das Meer rauscht ungehört jenseits des Fensters. Eben hat sie sich noch wohlig in der schaumigen Brandung geräkelt. So ein schöner Traum. Aber eben nur ein Traum. Die Wirklichkeit ist eng und riecht nach ungewaschenem Körper, Urin und altem Fett. Und sie ist laut. „Guten Morrrgän“, schreit es wieder, diesmal energischer.

„Thea, heast du ned, Odysseus ruft. Wenn du runter gehst, bring mir glei an Kaffee rauf“.


Das „Bitte“ ist auf dem Weg vom ersten Kennenlernen bis zu Theas Einzug in das Exchikò, das strahlende Ferienhaus mit den blauen Fensterläden hoch über der schönsten Bucht von Kefalonia, verlorengegangen. Geblieben sind Harrys starke Hände. Nur, dass sie jetzt nicht mehr streicheln, sondern Theas Handgelenk umkrallen. „Thea!“ Harrys Stimme ist heiser von zu viel Ouzo und Zigaretten. Aber immer noch kräftig. Genau wie sein Griff.

„Ich geh ja schon. Hatte nur gerade so einen wunderschönen Traum. Ich – wir, korrigiert sie hastig – haben gebadet, unten am Xi. Das Wasser war ganz weich und warm. Du, wollen wir da heute mal hin?“

„Ich glaub, du spinnst. Wie soll ich denn da hinkommen? Willst mi die Klippen runterkippen, im Rollstuhl, oder was? Seit i di kenn, bin i doch a kompletter Krüppel worn!“

Thea beißt sich auf die Lippen, während sie ihr graugesträhntes Haar von den Schultern schiebt, ein T-Shirt über ihr Nachthemd streift und in die Mules schlüpft. Dabei lehnt sie sich kurz an den Bettrand. Und schon greift Harrys Hand in ihren Schritt. „So verkrüppelt dann doch nicht, was?“ Unwillkürlich muss Thea lachen. „Lass los, Odysseus wird ungeduldig.“ Von unten ist jetzt ein Rasseln zu hören, ein Geratter wie von einem startenden Motorrad. „Ruhe, Odysseus. Ich bin schon da.“

Mit geübtem Schwung zieht sie das Laken von der großen Voliere und öffnet die Tür. Odysseus, der 40 Jahre alte Graupapagei, starrt sie an. „Guten Morrgen“, krächzt er in perfekter Harry-Parodie. Zwei Gestrandete auf einer Insel. Schade, dass Harry das Federvieh nicht Freitag genannt hatte. Vielleicht wäre er dann freundlicher geworden. Oder wenigstens handzahm.

Während Thea den Kaffee kocht und einen Apfel in mundgerechte Bissen schneidet, trippelt der Papagei auf dem Holztisch hin und her. „Hungerrrr“, krächzt er. „Thea, Kaffee!“ Das ist Harry. „Ja doch!“ Sie füllt das heiße Gebräu in eine Tasse, dazu ein paar Tropfen aus einer Phiole und vier Löffel Zucker. Gestern hat Harry nur am Kaffee genippt. „Der schmeckt so bitter, was hast da reingetan?“ Heute wird er ihn hoffentlich trinken. „Thea, Kaffä“, schnarrt Odysseus. Sie schleudert dem Vogel ein Apfelstück hin, knapp an der Tischkante vorbei. Doch statt sich den Kopf anzuschlagen, fängt der Papagei es geschickt auf. „Dankä“, schnarrt er. Das Tier wird ihr zunehmend unheimlich. 

Thea schaut in den sonnigen Morgen und seufzt. Das dauert alles viel zu lange. „Kein Angst, diesmal klappt alles wie am Schnürchen“, hatte Elvira, ehemalige Krankenschwester und jetzt Inhaberin der Agentur „Zweites Glück“ ihr versichert. Und tatsächlich hatte es auch so ausgesehen, im Mai, auf Elviras Agentursofa im regnerischen München, mit dem umfangreichen Ordner und seinen vielversprechenden Junggesellen vor sich auf dem Couchtisch. „Das hast du bei Jean Claude und Salvatore auch gesagt“, hatte Thea gemurmelt. Und dann – ein Fiasko nach dem anderen.

„Na ja, wer konnte schon ahnen, dass Jean Claudes romantisches Schloss in der Normandie tatsächlich nur ein rostiges Vorhängeschloss an einer klapprigen Fischerhütte war, seine florierende Kreuzfahrflotte ein marodes Schmugglerboot und das Foto auf seinem Profil ein Fake?“, hatte Elvira gefragt. „Jeder, der sich mit KI auskennt. Und eigentlich hättest du auch sehen können, dass das Porträt bearbeitet war. Zuviel Haare und zu wenig Bauch.“ „Ach kommt, du konntest doch nicht schnell genug aus München wegkommen. Die Normandie war dir ja gerade mal weit genug entfernt. Warum eigentlich?“

Die Antwort darauf war Thea Elvira schuldig geblieben. Was hätte sie auch sagen sollen? Die Wahrheit? Ich habe versucht, meinen Mann zu vergiften, bevor er mein ganzes Geld mit seinem blonden It-Girl durchbringt. Leider hat sie den Cocktail getrunken, er ist nur um Haaresbreite dem Gefängnis entkommen, und jetzt jagt er mich durch ganz Europa?

Jean Claude war ihr wie ein rettender Engel erschienen. Allerdings hatte er sich als komplette Nullnummer erwiesen. Kein Schloss, keine Erotik, dafür jede Menge gefährliche Macken. Als er sie auf der Rückfahrt von einer Schmuggeltour bei rauer See – Windstärke 7 mindestens – mitsamt der Ladung schottischen Whiskys über Bord gehen ließ, um der Gendarmérie Maritime zu entgehen – zog Thea die Reißleine. Aber nicht, ohne Jean Claude noch eine Flasche auf den Kopf zu schlagen. Der Whiskyverkauf reichte gerade mal für die Rückfahrt nach München. Dort las sie von dem bedauerlichen Tod eines international bekannten Schmugglers im Ärmelkanal. Die genaue Todesursache war – zu Theas Glück – nicht mehr zu ermitteln gewesen. Zu starke Brandung, zu viele Verletzungen.

Mittellos und immer noch auf der Flucht hatte Thea erneut Elviras Ordner studiert. Salvatore war ein in die Jahre gekommener italienischer Selfmademan im maßgeschneiderten Nadelstreifen-Anzug. Er versprach Thea eine sorglose Zukunft, gependelt zwischen seiner Luxusjacht auf dem Pazifik und seiner Villa auf Sizilien. Leider hatte er bis zu ihrer Landung in Messina vergessen, zu erwähnen, dass ihr Aufenthalt stets räumlich begrenzt sein würde – nämlich auf Schlafzimmer und Küche. Offenbar hatte er Thea für so schüchtern, einfältig oder beides gehalten, dass ihn ihr Angriff mit seinem eigenen Stilett völlig überrascht hatte. Sie stand in der Küche über die Spüle gebeugt, wo sie für ihren neuen Gebieter eine Flasche Champagner öffnen sollte. Er drängte sich von hinten an sie, wobei ihm das Klappmesser – unglücklicher Zufall oder göttliche Fügung? – aus der Hosentasche fiel. Thea bückte sich blitzschnell und zu Salvatores ausgesprochenem Vergnügen – welches aber nur so lange währte, bis sie ihm das Messer bis ins Heft in die Brust stieß. „Das schöne Hemd“, dachte sie noch.

Die Polizei schien ihrer Version der Ereignisse – brutaler Angreifer aus dem Dunkel, Blutrache eines verfeindeten Clans – Glauben zu schenken, im Gegensatz zu Salvatores Familie. Und so war Thea, lediglich im Besitz ihrer Kleidung, einer Rolex und einem Platinarmband, wieder auf der Flucht.

Mit Harry sollte alles anders werden. „Er ist ein solider Bayer. Vor zwanzig Jahren hat er seine Liebe zu Griechenland entdeckt, seinen Job als Manager eines IT-Konzerns an den Nagel gehängt und sich auf Kefalonia niedergelassen. Mit seiner Abfindung hat er sich ein nettes Häuschen gekauft und den Rest seines Vermögens in sicheren Aktien angelegt. Er führt Wandergruppen über die Insel und wird von den Bewohnern dafür geliebt, dass er zuverlässig für einen Strom angenehmer Touristen sorgt. Nicht die Partyheinis, sondern Leute, die das Land, die Natur und die Kultur lieben. Er sieht zwar nicht umwerfend aus, ist aber für sein Alter recht gut in Form. Und seien wir ehrlich, liebe Thea, du ähnelst deinem Profilbild auch nur noch im Dunkeln und ohne Brille. Wir werden eben alle älter. Er sucht eine Frau in den besten Jahren – also dich! Auf geht’s!“

Zur Sicherheit und quasi als Entschädigung für die beiden fehlgeschlagenen Vermittlungen hatte Elvira Thea ein Fläschchen aus ihrem „Insektengiftschrank “ mitgegeben. Nur für den äußersten Notfall. Also um sich und ihr eigenes Leben zu retten. „Du scheinst ja vom Pech geradezu verfolgt zu sein“; hatte sie gesagt. „Da ist es vielleicht am besten, wenn du sowas wie eine Versicherungspolice bei dir hast. Aber Vorsicht: Missbrauch von Neonicotinoiden ist strafbar und wird mit Gefängnis bis zu 25 Jahren geahndet.“ Denn das ist in Deutschland die tatsächliche Verweildauer hinter Gittern für eine lebenslängliche Haftstrafe.

Thea schaut aus dem Fenster auf das immer gleiche Bild. Ein Wirrwarr malerischer Dächer, bergabwärts meandernde Sträßchen und Gassen, umrahmt vom wogenden Graugrün einer dank des Inselklimas wollüstig üppigen Vegetation. Und dann das Meer. Bis zum Horizont, und dahinter der Himmel. Blau in schwelgendem Blau. Tag für Tag.

Aber was nützt mir das alles?, fragt sie sich. Was habe ich davon? Ich bin eingemauert in diesem gleißenden Haus. Mit einem mürrischen Alten und einem schizophrenen Papagei.

Sie hat sich nichts vorzuwerfen. ist von Anfang an ehrlich gewesen. „Ich suche ein neues Zuhause“, hat sie Harry gesagt, als er sie von der Fähre abgeholt hat. Der erste Eindruck war gar nicht so schlecht gewesen. Weiße Leinenhose, gestreiftes Matrosenhemd, ein keck gewinkelter Panamahut über dem tief gebräunten Gesicht. „Ein neues Zuhause.“ Keinen neuen Mann. Aber Harry hat es nicht so mit Worten, und er zerklaubt auch keine Sätze nach Mehrdeutigkeiten.

Gut, die ersten Nächte waren anstrengend. So ein alternder Lebemann ist halt auch nur in seinen eigenen Augen ein Adonis. Für andere kommt er eher als Nereus daher, allerdings ohne die dazugehörige Portion Weisheit. Aber schlau ist er schon, der Harry. Er weiß sich in Szene zu setzen. Es dauerte ein paar Wochen, bis Thea das Viagra-Versteck fand. Und einen Monat, bis sie herausbekam, dass seine Beliebtheit im Dorf in direkter Beziehung zu der Menge an ausgegebenen Ouzo-Runden in der Taverne am Platz steht. Und dass Harry von vielen sogar gefürchtet wird. Denn von ihm und seiner Schilderung der Insel und ihrer Bewohner hängt es ab, ob der Strom angenehmer Touristen auch im nächsten Jahr munter fließt – oder versiegt.

Die Deutschen geben eben viel auf die Meinung so genannter Spezialisten. Und Harry ist so einer. Mit jeder Veröffentlichung in einem Abenteuerblatt, einem Blog oder auch einer populären Tageszeitung kann er Kefalonia bewerben – oder die Insel in Misskredit bringen. So jemanden behandelt man mit Vorsicht, mit Ehrfurcht – aber nicht mit Vertrauen oder gar Zuneigung.

Sei’s drum. Thea bemühte sich um die Gunst aller. Um Harrys, um die der Dorfbewohner und auch um die des Papageien, der um die gleiche Zeit wie Harry auf dem griechischen Eiland gestrandet ist. Seitdem bilden die beiden eine unzertrennliche Einheit. Während Harry und die Dorfbewohner sich bald Theas schüchternem Charme öffneten, blieb Odysseus misstrauisch. Und er ist, im Gegensatz zu den Menschen auf Kefalonia, unbestechlich. Weder gekochte Kartoffelstückchen noch Obst, Nüsse oder – heimlich hinter Harrys Rücken zugesteckt, feine Schokolade schienen die Abneigung des Papageien gegenüber der Neuen im Haushalt aufzuweichen. Im Gegenteil. Odysseus hatte die Schokolade vorsichtig mit seiner rechten Kralle ergriffen, zum Schnabel geführt, beäugt und dann, ohne Vorwarnung in Harrys unnachahmlich heiserem Bariton trompetet: „Schokolaaaaade. Schlächt für Odyssois. Sehrrr schlecht! Mörrrder.“  Was zum ersten Streit zwischen Harry und Thea führte. Oder eigentlich nur zur ersten offenen Konfrontation.

Denn wie Thea schnell bemerkte, war Harry durch ihre Anwesenheit immer wieder irritiert. „Schließ die Küchentür ned ab. Das machen wir im Dorf ned. Nein, hier klaut niemand.“ Glaub ich nicht, dachte Thea, als sie ihr silbernes Armband nicht finden konnte. „Warum trägst du auch sowas“, war Harrys einzige Reaktion. „Geh ned mit kurzen Hosen ins Dorf. In deinem Alter machen das die Frauen hier ned.“ Kein Wunder, bei der Figur, die die meisten haben, dachte Thea. In diesem griechischen Dorf scheint die Welt stehengeblieben zu sein. Die verheirateten Frauen, Mütter und Großmütter, tragen dunkle, lange Röcke, viele sogar ein Kopftuch. Wenn ich das bei uns erzähle, glauben die, ich sei in einem islamischen Land und nicht in einem unserer beliebtesten Urlaubsziele. Überhaupt merkt Thea, dass sie die kulturellen Unterschiede nicht nur unterschätzt, sondern überhaupt nicht „auf dem Schirm gehabt“ hat. Das Leben ist hier ganz anders. Das fängt beim Umgang miteinander an und hört bei der Struktur der Tage nicht auf. Thea hat das Gefühl, auf der Dorfstraße durch ein Lasergitter neugieriger Blicke zu laufen. Was kauft die Deutsche ein? Wann steht sie auf? Wann fegt sie den Hof, wann geht sie zum Strand und wie und wie lange? Schau mal, sie hat sich einen tüchtigen Sonnenbrand geholt – typisch deutsch. Wer bleibt schon über Mittag am Meer?

In den ersten Wochen hat Thea versucht, sich anzupassen. „Musst du immer so auffallen?“, hatte Harry sie gefragt, als sie am Abend an „seinem“ Tisch in der Taverne saßen, vor sich einen Teller mit würzigem Schafskäse, zart hellgrünen Paprikaschoten und glänzenden Oliven. „Wie meinst du das?“ „Die Frauen hier tragen koan knallroten Lippenstift. Und sie trinken koan Schnaps. Des schadet meinem Ruf im Dorf.“

Ihr erster Impuls war, jetzt erst recht und ganz gezielt aufzufallen. Aber das wäre nicht klug gewesen. Also hat Thea versucht, sich, wenn schon nicht anzupassen, dann wenigstens im Schatten aufzuhalten. Unauffällig. Leise. Unsichtbar, außer, wenn es darum geht, Harry zu unterstützen. Ihn zu stützen. Denn seit ein paar Wochen scheint er an Kraft zu verlieren. Die letzte Wanderführung über die Insel musste er abbrechen. Seine Beine versagen ihm immer öfter den Dienst. Starrsinnig wie er ist, weigert er sich, auch nur an Hilfsmittel zu denken. Einen Arzt will er ebenfalls nicht aufsuchen. Das einzige Zugeständnis ist der Bergtee, den ihm die bucklige Nachbarin vor die Tür gestellt hat.

Immer öfter schreit er Thea jetzt an – mit dem ganzen Dorf als Zeugen, da Thea die Fenster meist geöffnet hat. Wenn sie danach im Dorfladen Eier kauft, Honig oder Harrys Zigaretten und Schnaps, wird sie von Daphne, der Inhaberin, freundlich angelächelt. Ihr Mann hat ihr neulich den Korb mit den schweren Kartoffeln vor die Haustür getragen. Sonntagmorgen ist sie in die Kirche gegangen, ohne Lippenstift, im grauen Kleid und mit einem passenden Schultertuch. Der Pfarrer hat die Brauen hochgezogen. Aber vor der Tür der kleinen Kapelle haben ihre mehrere Frauen still die Hand auf den Arm gelegt.

Läuft doch. Sogar an die vielen Katzen und Mücken kann man sich gewöhnen. Wenn der Papagei nicht wäre, könnte Thea sich vorstellen, einen der streunenden Hunde aufzunehmen. Den schwarzen mit den treuen Augen. Kommt Zeit, kommt Rat.

Im August geht es Harry zunehmend schlechter. Er nimmt ab, wird immer aggressiver und lässt eigentlich nur noch Odysseus an sich ran. Anfang September hält Thea es nicht mehr aus. Sie packt einen Koffer und bittet Daphnes Ehemann, sie nach Argostoli zu fahren, der Inselhauptstadt. Der alten Nachbarin hat sie 50 Euro zugesteckt mit der Bitte, einmal am Tag nach Harry zu schauen. Für alle Fälle hat sie ihr ihre Mobilnummer aufgeschrieben.

Es dauert drei Tage. Dann ruft die Alte an. Sie hat Harry tot im Bett gefunden. Der Arzt aus dem Nachbardorf stellt einen natürlichen Tod fest. Wegen des Deutschen machen sie kein großes Aufheben. Zumal er keine Angehörigen hat. Außer Thea. Und die hat es in letzter Zeit schwer genug gehabt, mit ihm.

Als sie ins Dorf kommt, hat der Bürgermeister schon die Beerdigung organisiert. Die griechischen Behörden sind zufrieden mit der Versicherung von Daphne und Harrys alter Nachbarin, dass Harry Thea das Haus überlassen wollte. Er hat ja sonst niemanden. Von den Aktien weiß hier ohnehin keiner.

Thea sitzt auf der Terrasse und schaut hinunter auf den Strand von Xi. Die Luft ist schwer mit dem würzigen Duft von Lavender und Thymian. Ein leichter Wind trägt Spätsommergeräusche herüber. Lachen und Musik. Thea legt ihre Hand auf den Kopf von Hades, dem schwarzen Hund. Odysseus hackt mit dem Schnabel auf die Stäbe der Voliere ein. Thea lässt ihn täglich raus und hofft, dass er einfach fortfliegt. Aber er bleibt im Garten und krächzt „Harrrriiiie“, „Harriieee, komm zu Odyssois“. So täuschend ahmt er die Stimme seines toten Freundes nach, dass Thea jedes Mal zusammenzuckt und nervös über die Schulter schaut.

Jetzt sieht sie einen Wagen die Dorfstraße hochfahren. Die schwarze Limousine hält vor ihrem Haus. Ihrem Haus in ihrer neuen Heimat. Ein blonder Mann im Anzug steigt aus. Klopft an die Tür. Eine Klingel hat Harry nie gewollt, und Thea hat noch keine Zeit gehabt, sich darum zu kümmern.

„Frau…?“ „Friedrich.“ „Sie sind, äh, Sie waren die Lebensgefährtin von Herrn Müller?“ „Ehm. Ja.“ „Bergengrün von der Deutschen Botschaft. Ich… wollte nur mal nach dem Rechten sehen.“ Thea ist ganz kurz versucht, die Tür zu schließen. Die Kette vorzulegen. Und abzuwarten. Aber das würde nichts nützen. Im Gegenteil. Also: „Kommen Sie doch rein.“

Bergengrün wartet im hellen Vorraum. Die Küchentür steht offen. Plötzlich fliegt ein grauer Schatten herein. Lässt etwas aus seinem Schnabel fallen. Direkt vor Bergengrüns Füße. Der Mann ist schneller als Thea. Nachdenklich dreht er die Phiole in seinen Händen. Sie ist leer. „Harriiie, Harriiee“, krächzt der Vogel mit der Stimme des Toten und dann, laut und deutlich: „Mörrderr!“

MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Diesen MiniKrimi hat die wunderbare Birgit Schiche geschrieben – Ihr erinnert euch sicher an sie, sie hat schon letztes Jahr den Kalender mit ihren bezaubernden, amüsanten und tiefgründigen Geschichten bereichert. Ihr könnt sie direkt besuchen auf www.planb-schiche.de.

Viel Spaß mit ihrem MiniKrimi.

Advent des Schreckens

Diana wohnte noch nicht lange in der kleinen Reihenhaussiedlung. Sie war hierhergezogen, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Sie hatten sich immer mehr auseinandergelebt, nicht mehr am Leben des jeweils anderen teilgenommen, sich gestritten und angeschrien – bis ihr Mann schließlich sogar gewalttätig wurde. Die Scheidung war sehr unschön gewesen, Ralf hatte sie partout nicht gehen lassen wollen. Diana war seitdem ängstlich und sehnte sich nach Ruhe und einem Neuanfang. Hier, in der kleinen Stadt, wo sie niemand kannte, wollte sie sich ein neues, unbeschwertes Leben aufbauen. Ihre Nachbarn hatte sie bisher nur flüchtig kennengelernt, man grüßte sich freundlich. Doch jetzt in der Adventszeit hatten offenbar alle zu viel zu tun, gingen zu Familientreffen, besorgten Geschenke, erledigten bei der Arbeit schnell noch die letzten wichtigen Aufgaben zum Jahresabschluss. Da blieb keine Zeit für nachbarschaftliche Treffen.

Diana war allein, ohne Angehörige und in der neuen Stadt auch noch ohne Freunde. Auf weihnachtlichen Schmuck hatte sie weitgehend verzichtet, ihr war gerade nicht nach besinnlicher Stimmung zumute. Die sonst so geliebten Lichterketten und Christbaumkugeln blieben im Umzugskarton, in ihrer Wohnung war es eher dunkel und trist, ebenso draußen auf der Terrasse und im Garten. Sie fand es gruselig, aus dem Fenster nur in tiefe Dunkelheit zu starren. Die Treppen im schon etwas betagten Reihenhaus knarrten hin und wieder einfach so, als hätte das Haus ein eigenes Leben, es war unheimlich. Manchmal schien es ihr auch, als raschelte etwas in den Wänden. Am liebsten verzog sich Diana abends schnell ins Schlafzimmer und ins Bett. Dort fühlte sie sich sicher.

Zum wiederholten Mal bemerkte sie, dass Kleinigkeiten von ihrer Terrasse verschwunden waren. Einer von ihren Garten-Clogs aus Plastik, nacheinander beide Gartenhandschuhe. Sie hatte die Dinge zuletzt gebraucht, als sie ihre Beete am Rande der Terrasse mit Tannenzweigen abgedeckt und so winterfest gemacht hatte. Ihre Mütze, die sie auf der kleinen Terrassenbank vergessen hatte, war ebenfalls verschwunden. An der Vorderseite des Hauses fehlte plötzlich der kleine Weihnachtsmann, den sie vorne als einzigen Adventsschmuck in das Mini-Bäumchen im Blumenkübel gehängt hatte. Und dann diese unheimlichen Geräusche, als würde jemand heimlich in der Dunkelheit durch den Garten schleichen. Leider lag kein Schnee, sonst hätte sie nach Fußspuren gucken können. So malte sie sich in ihrer Fantasie einiges aus und wurde langsam immer panischer. Als eines Abends das Telefon klingelte und gleich, nachdem sie sich gemeldet hatte, wieder aufgelegt wurde, überschlugen sich ihre Gedanken.

Wer machte denn sowas? Die gestohlenen Dinge hatten doch keinen materiellen Wert, höchstens einen persönlichen. Und dann dieser Anruf gerade. Langsam wuchs der Verdacht in ihr: Sie hatte einen Stalker. Ob ihr Ex-Mann ihre neue Adresse herausbekommen hatte? Sie erneut bedrängen und ihr drohen wollte? Oder hatte er einen seiner unsympathischen Kumpel dafür angeheuert? Diana fröstelte. Angst stieg in ihr auf und ließ sie nicht mehr los. Tag für Tag kreisten ihre Gedanken um die neue Bedrohung, jeden Tag neue Horrorfantasien, das war ihr ganz persönlicher Adventskalender. Inzwischen war der vierte Advent bereits vergangen.

Diana war allein mit ihren angsterfüllten Gedanken und inzwischen ein schreckhaftes Nervenbündel. Es war erneut etwas verschwunden – die kleine Kunststoffschaufel, mit der sie jeden Tag Vogelfutter aus dem großen Eimer ins Vogelhäuschen an der Terrasse füllte. Wer stahl so eine billige kleine Schaufel? Doch nur jemand, der sie nervös machen wollte. Ihr sagen wollte: „Ich bin hier, fühle dich ja nicht zu sicher!“

Inzwischen hatte sie sich billige dunkle Vorhänge fürs Wohnzimmer gekauft. Sie fand sie absolut nicht schön, konnte sich aber abends dahinter verstecken und die Welt vor dem Wohnzimmerfenster und der Terrassentür ausschließen. Doch die Geräusche, leises Rascheln wie von Schritten im Garten, drangen dennoch zu ihr durch und ließen sie aufschrecken. Der eisige Wind, der abends ums Haus blies und an den Baumkronen rüttelte, machte es noch unheimlicher.

„Advent, das lateinische Wort für Ankunft“, dachte sie. Ob Ralf ein perfides Spiel damit trieb? Das würde zu ihm passen. Sie schauderte und bemerkte, dass ihre Hände ständig ein wenig zitterten.

An den letzten Tagen vor Weihnachten wollte es gar nicht richtig hell werden. Morgens war es noch stockdunkel, wenn Diana nach der abonnierten Tageszeitung schaute. Als dem Nachbarn nebenan der Schlüssel klirrend aus der Hand fiel, schrie Diana leise vor Schreck auf. Der Nachbar, ein Mann in den Fünfzigern, immer noch ganz gutaussehend, sah besorgt zu ihr rüber und machte einen Schritt auf sie zu.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

„Ja, ja“, winkte sie ab und verschwand schnell wieder im Haus.

Am Abend sah sie den Nachbarn nach Hause kommen, bepackt mit mehreren Einkaufstaschen und einer großen Packung Katzenstreu. Eine Katze hatte sie hier noch gar nicht gesehen. Eigentlich mochte sie Tiere. Damit hatte der Nachbar zumindest einen Pluspunkt bei ihr.

Am nächsten Morgen passte sie ihn ab, als er das Haus verlassen wollte. Natürlich ließ sie es möglichst zufällig aussehen. Sie entschuldigte sich für ihren ängstlichen Schrei vom Vortag und stellte sich als neue Nachbarin vor. Er hieß Martin und wohnte auch erst seit einem knappen Jahr hier.

Sie verabredeten sich zum Abend auf ein Glas Wein. Es tat Diana gut, endlich mal nicht allein zu sein und von ihren ängstlichen Gedanken an Ralf und den Stalker abgelenkt zu werden.

Martin erzählte gerade, dass er eigentlich gar kein Haustier haben wollte. Doch der pechschwarze, etwa acht Jahre alte Kater gehörte quasi zum Haus.

„Katzen sind sehr territorial, sie verlassen manchmal lieber ihre Menschen als ihre gewohnte Umgebung. So bin ich nun Katzenbesitzer geworden“, meinte er leise lachend. „Und das Lustigste ist dabei“, sagte er und legte eine spannungsfördernde Kunstpause ein, „dass Baghira mir ständig Geschenke nach Hause bringt und auf die Fußmatte legt. Nicht etwa erjagte Mäuse, die hier in den alten Häusern durchaus vorhanden sind – man kann sie manchmal in den Wänden rascheln hören. Nein, dieser dusselige Kater schleppt mir ständig Sachen an, die er irgendwo findet oder klaut. Schuhe, Gartenhandschuhe, Kinderspielsachen, Tücher, kleine Schäufelchen, letztens sogar einen kleinen Plüschweihnachtsmann!“, zählte er nun laut lachend auf. Für einen Moment war Diana wie versteinert, doch dann brach es auch aus ihr heraus, ein fröhliches, ungebremstes Lachen über Baghira, den samtpfötigen Stalker und Dieb, und über Mäuse, die in den Wänden und im Garten raschelten.

Sie hatte einen Freund gefunden. Nein, eigentlich zwei: Martin und Baghira. Diana war angekommen in ihrem neuen Leben, und Weihnachten konnte ein unbeschwertes Fest werden. Hallelujah.

MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Krieg der Schneesterne

Es gibt Kriege, die dauern Jahre an. Jahrzehnte, sogar. Der längste über ein Vierteljahrhundert, ungefähr von 1618 bis 1648, der Vietnamkrieg wütete von 1955 bis 1975. Dagegen ist die Auseinandersetzung, die Christiane seit ihrem Einzug in das Eckhaus im ruhigen Villenvorort vor 10 Jahren mit der Firma führt, die von der Stadtverwaltung mit der Reinigung ihrer kleinen Seitenstraße betraut wurde, rein zeitlich gesehen eine Lappalie.

Aber emotional gleicht der Kampf einem Atomkrieg. Zumindest, was Christiane betrifft. Im Laufe des Konfliktes ist sie von einer erhöhten Reizbarkeit über nervös bedingte Unruhezustände mit Schlafstörungen in eine handfeste Depression hinübergeglitten, die sie, vor allem in den Wintermonaten, nur mit starken Psychopharmaka in den Griff bekommt.

Und das kam so: Christiane und ihre Familie konnten ihr Glück kaum fassen, als sie aus einer Schar von über 100 Beweber*innen ausgewählt wurden und in die frisch renovierte kleine Eckvilla an der putzigen Spielstraße einziehen durften. „Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, hatte die Vermieterin ihnen noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahegelegt. Woraufhin Christianes Mann nach einem langen Blick aus dem Fenster gemurmelt hatte: das ist ein Eckgrundstück. Gefühlt müssen wir mehrere hundert Meter Straßenrand ‚pflegen‘!

Christiane hatte in ihrer Begeisterung über den positiven Ausgang ihrer Überzeugungstaktik („Wir sind die idealen Mieter: fast erwachsene Kinder, eine Gärtnerin als Großmutter, keine Haustiere – und wir sind so oft unterwegs, wir haben gar keine Möglichkeit, das Haus zu ver-, ehm zu bewohnen.“ Was natürlich – fast – alles nicht wirklich stimmte. Die Kinder waren kaum aus der Pubertät heraus und gerade in dem Alter, in dem Parties in Haus und Garten, laute Rockmusik zu jeder Tages- und Nachtzeit und eine permanente Durchflutung des Hauses mit Gleichaltrigen gang und gäbe sind. Die Oma praktizierte Ikebana und lebte 500 Kilometer weit weg. Und auch wenn Asta, Rex, Kugel und Mäuschen von Christiane wie Menschen behandelt wurden, waren sie für Außenstehende Dobermann, Afghane, Siam und Kartäuser) nur beiläufig geantwortet: „Naja, das müssen wir ja nicht allein machen, dafür gibt es ja die Straßenreinigung.“

Beim süffisanten Lächeln der Vermieterin hätte sie eigentlich Verdacht schöpfen müssen. Tat Christiane aber nicht. Denn es war Sommer. Sommer in der Stadt. Die Straße war und blieb sauber, und das Thema Straßenreinigung geriet in Vergessenheit. Bis im September die ersten Blätter zu fallen begannen. „Hallo Frau Müller, ich bin vorhin zufällig bei Ihnen vorbeigefahren. Also, da liegen immens viele Blätter auf der Straße. Die müssen Sie entsorgen. Das hatten wir doch besprochen! Und außerdem – kann es sein, dass ich einen Hund bellen gehört habe? Und ich hätte beinahe eine Katze überfahren, die dann auf Ihrem Grundstück verschwunden ist….“ Die Vermieterin klingt gereizt.

„Alles gut, Frau Huber. Da müssen sich mich wohl in dem Moment verpasst haben, als ich im Baumarkt einen Laubbläser geholt habe. Hundegebell? Ich habe noch nie was gehört. Tja, die Nachbarskatzen fühlen sich bei uns sehr wohl, offensichtlich…. Ja, tschüss dann, Frau Huber! Ach, Moment, Frau Huber?“

Aber da hatte die Vermieterin schon aufgelegt. Minuten später hörte Christiane ein Geräusch, an das sie sich dunkel aus ihrer Schwabinger Wohnung erinnerte. Eine Straßenreinigungsmaschine. Christiane rannte vor die Tür, riss das Gartentörchen auf – und sah die Maschine gerade noch um die Straßenecke verschwinden. Sie hastete hinterher. „Moment!“, rief sie. „Sie haben vergessen, unsere Straßenseite zu kehren.“ Tatsächlich war die gegenüberliegende Seite, die an einen kleinen öffentlichen Park grenzte, blankgeleckt, kein Blättlein lag mehr auf dem Asphalt. Während entlang ihres Gartenzauns ein bunter Blätterhaufen vor sich hingammelte. „Halt, warten Sie!“ Endlich hörte der Mann in der Kabine Christianes Rufen. Er kurbelte die Scheibe runter und erklärte unwirsch: „Das ist ne Spielstraße hier. Da müssen die Bewohner ihre Seite selber kehren. Nur im Winter nicht.“ Sprachs und ward nicht mehr gsehen.

Also nahm Christiane den Laubbläser in Betrieb und die Blätterhaufen in Angriff. Doch bereits nach zwei Minuten klopfte ihr die erboste Nachbarin aus Nummer 7 auf die Schulter. Christiane, ganz berauscht von der Macht der Maschine, verstand zunächst nichts. Als die Frau immer wilder gestikulerte, schaltets sie den Bläser ab. „Nicht in der Mittagszeit zwischen zwölf und drei“, brüllte die Nachbarin in die plötzliche Stille.

„Ach so, das wusste ich nicht, entschuldigte sich Christiane. „Aber am Nachmittag habe ich einen Kundentermin…..“ „Egal. Gesetz ist Gesetz“, sagte die Frau und kehrte in ihre Jägerzaunburg zurück. Um 17.30 Uhr war Christianes Termin vorbei, und sie ging, mit Laubbläser bewaffnet, wieder auf die Straße. Dort traf sie ihre Tochter Isabella, die aus der Schule zurückkam. Sie riss der Mutter wortlos das Gerät aus der Hand, schaltete es aus und dozierte erbost: „Sag mal, bist du total übergeschnappt? Weißt du nicht, dass diese Dinger GIFT für die Tiere sind? Und übrigens auch für alle Menschen unter 50, bei denen das Gehör noch funktioniert. Nimm gefälligst den Besen, Mama.“

„Na hör mal, damit dauert das ja ewig. Gut, dann machst du das eben, Madame Umweltbewusst.“ „Das könnte dir so passen. Ich muss bis morgen die Seminararbeit fertigschreiben. Ne, ne, das machst du gefällgst selbst, wenn du deinen Putzfimmel jetzt schon auf die Straße ausweiten musst.“

Um es kurz zu machen: Christiane konnte weder Mann noch Kinder von der Notwendigkeit des Straßenreinigens überzeugen. Auch das Argument „Vermieterin“ zog nicht, weil nur sie von zuhause aus arbeitete und die Anrufe von Frau Huber entgegennahm. Also kehrte und blies (wenn isabella nicht daheim war) Christiane den ganzen Herbst über im Schweiße ihres Angesichts über 50 Straßenmeter – gefühlt waren es 5000. EInmal die Woche kam das von der Stadt beauftragte Reinigungsiunternehmen, putzte die gegenüberliegende, an einen kleinen Park angrenzende Straßenseite- und blies die Blätter gegelmäßig gegen Christianes Gartenzaun. Sie beschwerte sich per Mail. Sie rief in der Stadtverwaltung an. Sie rannte auf die Straße udn stellte sich von das Gefährt. Alles umsonst. Im Gegenteil. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Der Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung, die Straßenreinigungsfahrer – und sogar die Blätter, die vermehrt dann runtersegelten, wenn sie gerade ihren Straßenanteil reingefegt hatte. „Nimm dir das noch nicht so Herzen. Du wirst ja regelrecht hysterisch“, sagte ihr Mann, statt sie zu trösten oder, besser noch, zu unterstützen.

Christiane wachte jeden Mittwoch, dem Tag der Straßenreinigung, mit Bauchschmerzen auf. SIe hastete vor die Tür, fegte alle über Nacht gefallenen Blätter auf die andere Straßenseite – und erlebte mit, wie der Fahrer diese mit einem höhnischen Grinsen wieder zu ihr hinüberschob.

Egal. Christiane ertrug all dies und tröstete sich damit, dass sie im Winter wenigstens keinen Schnee schippen musste.

Im ersten Winter war das auch so. Denn die paar wenigen Flöckchen, die zwischen Dezember und März vom Himmel rieselten, waren getaut, noch bevor sie das Wort Schneeschippen auch nur angedacht hatte.

Doch dann kam der vierte Winter in der Spielstraße. Püntklich zu Weihnachten schneite es, als hätte Frau Holle das ganze dänische Bettenlager ausgeschlagen. 3 Tage und Nächte. Der Schneeräumer kam – nicht. Auf der kleinen Straße häuften sich Schneemassen. Ein Nachbar klingelte und erklärte der erstaunten Familie Müller, dass sie für das Straßenstück an ihrem Haus verantwortlich seien, wie alle hier. Nur, dass die anderen kaum 10 Meter hatten, jeweils. Während das Eckgrundstück….. „Ich wusste es!“, schimpfte Christianes Mann. „Aber nein! Im Winter räumt die Firma. Das haben die mir so versichert“, wandte Christane ein. „Ja, theoretisch schon. Aber Spielstraßen liegen in der Priorität an letzter Stelle. Erst kommen die Haupt-, dann die Nebenstraßen. Und dann wir. Das kann bei so ’nem Wetter eine Woche dauern. Und bis dahin sind wir, also SIE verantwortlich.“

Schließlich schippten alle Männer der Straße – ganz ausnahmsweise – gemeinsam, und Christianes Mann baute aus dem aufgetürmten Schnee eine Bar, an der sie dann bis in die Nacht standen und Bier tranken.

Inzwischen begann es zu tauen, und nach 7 Tagen erschien die Straßenreinigungsfirma und streute tonnenweise Split in die Pfützen.

Im darauffolgenden Herbst startete Chrtiane, gestärkt durch die Einnahme eines Nerventonikums, einen erneuten Anlauf, um sich gegen die blättrigen Übergriffe der Firma zu wehren. Inzwischen begegnete ihr der Fahrer mit blankem Hass, denn sie hatte sich „ganz oben“ über ihn beschwert und angeregt, dass die Spielstraße einer anderen Firma übergeben würde. Doch damit hatte sie in ein Wespennest gestochen. „Der Sachbearbeiter kassiert gutes Geld für den Auftrag, vom Firmenchef“, erklärte ihr eine andere Nachbarin, die offenbar über alles informiert war – woher, das gab sie nicht preis. Jedenfalls erhielt Familie Müller daraufhin mehrere Bußgeldbescheide im vierstelligen Bereich, weil angeblich ihre Bäume über das zulässige Maß in die Straße hineinragten. Nur, weil ihr Mann zufällig früher als üblich nach Hause kam, entging Christiane einer Verhaftung wegen tätlichen Angriffs auf einen städtischen Beamten, der ihr den letzten Bescheid zustellen wollte.

In den folgenden Wintern tobte der Krieg der Schneesterne immer heftiger, beide Seiten fuhren immer schärfere Geschütze auf. Der Reinigungsdienst schob die Schneemassen aus der gesamten Spielstraße zunächst an den Müllerschen Zaun, der unter der Last zusammenbrach. Frau Huber verlangte Schadenersatz von den Mietern. „Schnee ist höhere Gewalt, die damit verbundenen Risiken müssen von Ihnen getragen werden.“

Daraufhin vereiste Christiane die Fahrbahn, so dass der Schneeräumer auf der Spiegelfäche ins Schleudern kam, gegen eine Garagenwand prallte (nicht die Müllersche!) und der Fahrer eine leichte Gehirnerschütterung erlitt – angeblich.

Beim nächsten Schneefall stand Herr Müller morgens beim Öffnen der Gartentür vor einer zwei Meter hohen Schneemauer. Er konnte gottseidank über die Garage ausweichen.

Christiane machte Fotos und mobiliserte die Presse. Der Artikel mit der Überschrift „Familie unter Schneeterror, Reinigunsmafia am Werk?“ kostete den Fahrer, den stellvertretenden Firmenchef und den Sachbearbeiter ihren Posten.

Und dann ging im kommenden Winter alles gut. Eine andere Firma reinigte die kleine Spielstraße, und Christiane brachte dem Fahrer frühmorgens einen heißen Espresso ans Fenster.

Woraufhin ihr Mann anonyme Schreiben erhielt, die seiner Frau eine Affäre mit einem Straßenreininger andichtete. Das gleiche Schreiben fand seinen Weg auch in die Stadtverwaltung und wurde dort, im Gegensatz zum Hause Müller., ernst genommen. Der Mann musst gehen. Und die alte Firma wurde wieder beauftragt.

Wir schreiben das Schneesternenjahr 2022. Vor Weihnachten hüllt ein Tiefdruckgebiet ganz Deutschland fest in eine dicke weiße Umarmung. Auch die kleine Spielstraße ist schneebedeckt.

Christiane kennt den Tagesablauf der Straßenreinigung auswendig. SIe schreckt um 4 Uhr früh aus einem unruhigen Schlaf, zieht sich an, bewaffnet sich mit Schneeschaufel und Besen und wartet am Gartentor auf den Schneeräumer. Da kommt er auch schon. Mit seiner mächtigen Schaufel nimmt er eine Riesenladung gefrorenen Schnee auf und schiebt ihn gegen Christianes Gartenzaun. Rollt zurück. nimmt die nächste Ladung auf, gibt Gas und rammt das ganze an den Holzzaun. Die dahinter liegende Eibe knirscht, knackt und bricht unter der Last zusammen. „Halt“ schreit Christiane. „Halt, SIe, Sie, Sie…. MÖRDER“! SIe reißt das Gartentürchen auf und rennt dem Schneeräumer entgegen, der mit einer neuen Schneemasse auf sie zurast. Die Schaufel schleift am eisigen Boden entlang, nimmt Schnee und etwas Schwrzes, Gestikulierendes auf, fährt in die Höhe – und schleudert alles über den Zaun direkt in Müllers Garten.

Später wird der Fahrer beteuern, er hätte Christiane nicht gesehen. „Die Frau war ja rabenschwarz angezogen. Keine Warnweste und nichts. Und draußen war’s stockdunkel.“

Als Christiane das Krankenhaus nach drei Monaten verlässt, ist ihre Hüfte noch nicht ganz geheilt. Der Schädelbruch verursacht ihr immer wieder höllische Kpfschmerzen. Im Sommer zieht Familie Müller um. In eine Dachterrassenwohnung am anderen Ende der Stadt.

„“Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, legt die Vermieterin Christianes Nachmietern noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahe. Mal sehen, wie lange die hier bleiben, denkt sie, und fügt hinzu: „Ein gutes Verhältnis zur Straßenreinigung kann Vorteile haben.“

Adventskalender MiniKrimi vom 10. Dezember


Der heutige Krimi wurde von Birgit Schiche geschrieben. Ganz lieben Dank dafür! Viel Spaß beim Lesen – und vielleicht denkt Ihr danach auf einmal anders über Eure lieben Nachbarn…

Eine liebe, nette Nachbarin

Claudia mochte ihre Wohnung. Drei Zimmer, Küche, Bad mit Badewanne und ein schöner, sonniger Balkon mit Blick ins Grüne mitten in der Großstadt. Seit fast dreißig Jahren wohnte sie nun schon in diesem gutbürgerlichen Stadtteil und es fühlte sich einfach richtig an. Das war auch gut so, denn seit Beginn der Corona-Pandemie arbeitete sie nur noch im Homeoffice. Also in ihrem Wohnzimmer am Esstisch, im Sommer sogar auf dem Balkon, was schon ein bisschen als Luxus gelten durfte. Doch nun im November war es kalt, grau und ungemütlich. Sie saß zum Arbeiten immer noch an ihrem Esstisch und langsam hasste sie ihren harten Stuhl, der ihr Rückenschmerzen bereitete. Die Tage waren seit Monaten bestimmt von Online-Meetings, Online-Workshops, Online-Vorträgen und Arbeiten am PC. Später dann Spiele-Abende oder Klönschnack mit Freundinnen, online natürlich. Was sie zu Beginn der Pandemie noch begeistert hatte und wovon sie kaum genug bekommen konnte, saugte ihr nun allmählich die Energie aus der Seele. Auf Dauer waren Online-Kontakte eben doch kein Ersatz für echte Sozialkontakte. Das machte was mit ihr, sie veränderte sich in kleinen, schleichenden Schritten. Aber so war das eben im Lockdown, und sie hielt sich an die Regeln. Aus Überzeugung. Und aus Respekt vor der bedrohlichen Krankheit, denn sie gehörte wegen einiger Vorerkrankungen zur Risiko-Gruppe. Außerdem wollte sie nicht klagen, sie wollte durchhalten. „Schlimmer geht immer“, dachte sie. Und vielleicht war das ein Fehler. Denn genauso kam es.

Vor kurzem erst waren neue Mieter in die Wohnung über ihr eingezogen, ein Pärchen. Vorgestellt hatten sich die beiden Neuen natürlich nicht, sowas war leider aus der Mode gekommen. In der Dachgeschosswohnung hatten die Mieter in den letzten dreißig Jahren schon so einige Male gewechselt. Claudia war inzwischen die „dienstälteste“ Mieterin im Haus, was sie ein bisschen stolz machte. 

Die neuen Mieter hatten den Oktober durchgängig genutzt, um die Wohnung zu renovieren. Den ganzen Tag hörte Claudia ein Schrabbeln wie beim Tapetenlösen, dazu Poltern, Hämmern – auch während der Mittagsruhe und am Wochenende. Die Schritte in der Dachgeschosswohnung klangen wie das Stampfen einer Elefantenherde. Zweierlei Stimmen, mal fröhlich plappernd oder schräg singend, mal fluchend oder streitend, klirrten Tag für Tag, Stunde für Stunde wie zu Geräuschen gewordene spitze Scherben auf sie herab. 

„Wenn sie mit der Renovierung fertig sind, wird es schon ruhiger werden“, versuchte sie ihren wachsenden Unmut zu beruhigen. Doch der ständige Lärm drohte, ihr den letzten Nerv zu rauben. Als wären die Belastungen durch die Corona-Pandemie nicht schon genug.

In Online-Veranstaltungen konnte Claudia kaum noch folgen, so fahrig und unkonzentriert war sie inzwischen. Wegen der Störgeräusche musste sie dauerhaft ihr eigenes Mikrofon ausschalten. So konnte sie sich kaum noch aktiv beteiligen, was auch bei ihren Vorgesetzten nicht gut ankam, verdammt. Den Ärger fraß sie in sich rein, wortwörtlich. Sie stopfte sich das Maul mit selbstgebackenen Weihnachtskeksen, schokoladigen Lebkuchen, buttrigem Stollen. Sie bekam wieder häufiger Migräne, vielleicht auch wegen der ungesunden Ernährung. Aber sie wollte nicht die Nachbarin sein, die sich „immer gleich beschwerte“. So wollte sie nicht gesehen werden, so war sie nicht. Alle kannten sie als nette, liebe Nachbarin!

Als endlich der Umzugswagen kam und die Helfer laut polternd die Möbel und Kisten ins Dachgeschoss schleppten, atmete sie auf. Jetzt würde bestimmt bald Ruhe einkehren. Darum sagte sie auch nichts, als das gerade am Morgen frisch geputzte Treppenhaus abends schon wieder völlig verdreckt war. Eigentlich hätten das die neuen Mieter selbst bereinigen müssen. Aber um des lieben Friedens Willen putze Claudia die Treppe abends noch ein zweites Mal. Es gab ja Hoffnung.

Doch auch zwei Wochen nach dem Umzug war es keineswegs leiser. Man hatte sich in der Dachgeschosswohnung inzwischen eingerichtet. Aber Teppiche schien es keine zu geben. Die trampelnden Elefantenschritte waren jedenfalls weiterhin laut und deutlich zu hören. Ebenso das Singen, Plappern, Streiten. Hinzugekommen waren mehrere Heulanfälle der jungen Nachbarin. Sie hatte dabei wirklich Ausdauer. Er schien eher der sportliche Typ zu sein, hatte er doch einen Boxsack aufgehängt, auf den er täglich enthusiastisch einprügelte. Tack, tacktack, tacktacktack, dazu die Beinarbeit, mindestens eine Stunde lang. Vorab übte er sich zum Warmwerden im Seilspringen. Klack-stampf, klack-stampf, klack-stampf, leichtfüßig war er wahrlich nicht. Sie hatte schon einige Male unwillkürlich nach oben an die Wohnzimmerdecke geschaut in der Erwartung, dort müssten sich Risse zeigen oder Staub würde bei jedem Sprung auf sie herab rieseln. Viele Male war sie schon unwillkürlich zusammengezuckt, hatte wütend geschnaubt. Außerdem liebte der neue Nachbar Sportsendungen, insbesondere Fußball, und konnte sich dabei regelrecht cholerisch ereifern – er brüllte jedenfalls wie im Fußballstadion. Offenbar war er HSV-Fan, da gab es gerade viel zu brüllen. Und zu fluchen.

Wenn er nicht mit seinem Sport beschäftigt war, widmete sich seine Lebensgefährtin ihrem offenbar noch recht neuen Hobby: Sie übte sich im Cello-Spielen. Man konnte zwar eine Weihnachtsmelodie erahnen, aber es war nicht gerade ein Vergnügen die ersten Takte von „Oh, Tannenbaum“ wieder und wieder zuhören, tagaus, tagein – Disharmonie pur. Manchmal spielte sie auch auf einer Blockflöte. Hier hatte sie offenbar einen Übungsvorsprung und konnte verschiedene Lieder wie „Jingle Bells“ und „Oh, du fröhliche“ anstimmen. Aber schöner klang das auch nicht wirklich. Claudia reagierte mittlerweile geradezu allergisch auf jedes aus der Dachwohnung auf sie wie klebriger Honig herab tropfende, polternde, an den Nerven zerrende Geräusch. So ging es nicht weiter.

Sie war diese Woche wieder mit der Treppenhausreinigung dran und machte sich gleich am Montagmorgen an ihre Reinigungspflicht. Jetzt, um acht Uhr früh, war es noch nicht einmal richtig hell. Claudia drückte auf den Lichtschalter – nichts. Auf ihrem Treppenabsatz war mal wieder die Birne kaputt. Dann musste sie die Stufen eben im Halbdunkel reinigen, irgendwie würde das schon gehen. Quasi im Blindflug fegte sie über die Stufen. Die Dachgeschossmieter und ihre – trotz Corona! – zahlreichen Gäste hatten reichlich Schmutz ins Haus getragen, statt sich unten die Füße ordentlich abzutreten. Nun musste sie ihnen auch noch hinterher putzen. „Bestimmt tragen die auch keine Masken und waschen sich nicht die Hände“, steigerte sie sich maßlos in ihren Ärger hinein. Und überschritt eine Grenze. Ein Plan reifte in ihren Gedanken. Claudia grinste böse, aber zufrieden. 

Hätte sie jetzt einer der anderen Hausbewohner gesehen, sie hätten die liebe, nette Nachbarin nicht wieder erkannt.

Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr hallte ein lautes Poltern gefolgt von einem Schreckensschrei durchs Haus. Dann: Stille. Claudia hielt den Atem an und widerstand nur mühsam der Versuchung, sofort nachzuschauen. Erst als sie die Stimmen anderer Nachbar:innen hörte, öffnete auch sie ihre Wohnungstür und trat hinaus. 

„Oh, mein Gott, wie schrecklich!“

„Ist er schlimm verletzt? Lebt er noch?“

„Hat schon jemand einen Krankenwagen gerufen?“

„Kann hier jemand Erste Hilfe?“

„Ja, ich“, rief Claudia den aufgescheuchten Nachbar:innen zu. Mit zwei Handgriffen löste sie die verräterische Nylonschnur von der unteren Kante des Treppengeländers, damit sie nicht auch noch selbst stolperte, und lief vorsichtig die vom Wischen noch feuchten Stufen hinunter. Ja, er war schon ein sportlicher, gut aussehender Kerl. Gewesen. Claudia spürte keinen Puls mehr, drehte ihn jedoch trotzdem gekonnt in die stabile Seitenlage. Die anderen nickten anerkennend. Sein Kopf lag in einem merkwürdigen Winkel zum Körper.

„Wie ist das denn passiert?“

„Er muss wohl auf den feuchten Stufen ausgerutscht sein. Es brennt im dritten Stock mal wieder kein Licht im Flur, und er hat es morgens immer sehr eilig.“

Na bitte, Claudia musste gar nichts sagen.

Mit dieser Erklärung gaben sich alle zufrieden, auch die Sanitäter und die später eintreffenden Polizeibeamtinnen, die routinemäßig den Todesfall untersuchten. Sie hatten keinen Verdacht und notierten „Tod durch Unfall“. Claudia hatte endlich wieder Ruhe. Dachte sie jedenfalls.

Denn die nun alleinstehende Mieterin aus dem Obergeschoss weinte jede Nacht laut jammernd und schluchzend. So war es auch Claudia unmöglich, erholsamen Schlaf zu finden. Sie hatte bereits dunkle Ringe unter den Augen, wirkte um Jahre gealtert und ließ deshalb seit neuestem in Online-Veranstaltungen ihre Kamera ausgeschaltet. Auf diese Weise war sie unhörbar, unsichtbar. „Untragbar!“, fand daraufhin ihr Arbeitgeber, der sie ausdrücklich rügte. Dabei war sie doch vor dieser verdammten Corona-Pandemie eine unverzichtbare Spitzenkraft gewesen! 

Tagsüber versuchte die junge Nachbarin, sich mit Musizieren von der Trauer abzulenken, „Oh, Tannenbaum“, immer wieder von vorne. Und zu Claudias Entsetzen kam sie zusätzlich auf die Idee, sich mit Springseil und Boxsack zu betätigen, um sich ihrem verstorbenen Liebsten nahe zu fühlen. Claudia war verzweifelt. Der Lärm bohrte sich unerbittlich in ihr Hirn und ihre Seele. Klack-stampf, klack-stampf. Tack, tacktack, tacktacktack. Elefantentrampeln, Cello-Geschrammel, Heulerei. 

„So nicht! Nicht in ihrem Haus! DAS war untragbar!“, schnaubte sie wütend, als ihr die harschen Worte ihres Arbeitgebers wieder einfielen. 

Als sie turnusmäßig erneut mit der Treppenhausreinigung an der Reihe war, überlegte Claudia, was sie tun könnte. Gerade wischte sie mit einem Tuch über das Geländer zum Dachgeschoss, an dem sich die trauernde Nachbarin seit dem Tod ihres sportlichen Lebenspartners beim Treppensteigen regelrecht festklammerte. Ja! Das war es!

Claudia verschwand in ihre Wohnung und stöberte in ihrer umfangreichen Krimisammlung. Richtig, hier stand es – sie wusste, was sie besorgen musste. Abermals erschien dieses kleine böse Glitzern in ihren Augen – und dieser fiese Zug um die Mundwinkel herum. Die liebe, nette Nachbarin.

Als zehn Tage später die junge Dachgeschossbewohnerin in ihrer Wohnung bewusstlos von einer Freundin aufgefunden wurde, stellte der Notarzt eine Vergiftung fest. 

„Sie hat so um ihn getrauert! Deshalb versuchte sie, den Schmerz zu betäuben, um endlich mal wieder schlafen zu können“, gab die Freundin später dem Polizeibeamten zu Protokoll. „Konnte doch keiner ahnen, dass sie eine Überdosis nimmt, wovon auch immer! Als ich einige Tage nichts von ihr gehört habe, bin ich mit meinem Zweitschlüssel in ihre Wohnung gegangen und hab sie gefunden.“ Die Freundin schluchzte. Die junge Nachbarin konnte nicht mehr gerettet werden und wurde zwei Tage vor Weihnachten neben ihrem sportlichen Lebensgefährten beigesetzt. „Tod durch Suizid“, stand auf dem Totenschein. Die Ärztin hatte mit all den schweren Corona-Fällen so viel zu tun, dass ihr gar keine Zeit blieb für Zweifel, Fragen, Untersuchungen oder gar eine Autopsie. 

Claudia summte leise vor sich hin: „Stihille Nacht, hei-lige Nacht …“, während sie ein letztes Mal in diesem Jahr das Treppenhaus putzte. Dem oberen Treppengeländer widmete sie sich dabei besonders sorgfältig. Endlich war in ihrem Haus wieder Ruhe eingekehrt. „Frohe Weihnachten“, wünschte die liebe, nette Nachbarin aus Corona-gerechtem Abstand allen Hausbewohner:innen, „und ein geruhsames Fest!“

SMS-Adventskalender. 20. Dezember: Die „Türkenvilla“


Das seit dem Sommer freundlich modeblau gestrichene Mietshaus steht an einer kleinen Ausfallstraße. Vereinzelt hängen Blumenkästen auf den einsamen Balkonen, oben weht ein Sonnenschirm unverdrossen im Dezemberwind, und das schon seit drei Jahren. Satellitenschüsseln räkeln sich von Fensterbrettern in die Welt. Der Name „Türkenvilla“ stammt angeblich noch aus der Zeit abblätternder Fassaden. Wintersonnenwende und die Nacht bedroht den dunklen Tag. Sturm kommt auf. Tannen verbiegen sich, und aus dem Himmel grollt es laut und lauter. Am Parkrand stehen plötzlich schwarze Limousinen Kette. Davor hurtige Graugestalten, so bemüht, mit dem Straßenalltag zu verschmelzen, dass sie keine Tarnung brauchen.

Ihre Telefone schrillen, summen. Der Helikopter steht direkt über dem Haus. Zerschneidet grell den Abend. Ich gehe trotzdem raus. Der Hund muss mal. Seine Uniformphobie macht sich in heiserem Gebelle Luft. Bald kommen alle Nachbarn vor die Tür. „Was geht hier ab?“ „Ach nichts. Wir sind schon weg. Ein Helikopter? Wo?“

Wie ein Spuk bin ich die Geister wieder los. Und nicht nur ich. Hinter dem Sonnenschirm erscheint ein Arm und wirft ein Päckchen auf den Gehweg.