Adventskalender Minikrimi am 13. Dezember


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Freitag, der Dreizehnte

Heute versuche ich mich an einer Variation zum gestrigen Thema der Vorlese-Oma. Wie findet Ihr die Idee, verschiedene Autorinnen über das gleiche Sujet schreiben zu lassen? Viel Spaß beim Lesen… ach ja, und Kommissar Schaller ermittelt in der TV-Serie „München Mord“. Mein Geheimtipp….

Rund 50 Weihnachtsmärkte gab es in der Stadt. Aber der verhältnismäßig kleine „Adventszauber“  war längst kein Geheimtipp mehr und erfreute sich jedes Jahr wachsender Beliebtheit. Das lag sicher an den mit großer Liebe dekorierten Hütten und den vielen Details, die die Besucher in ein winterliches Bergdorf in Après-Ski-Stimmung versetzten: mit Kunstschnee verzierte Holzdächer, mit roten, grünen und goldenen Kugeln und Lichtern beladene Schlitten, aufgestellte Skier und natürlich ein riesengroßer Schneemann. Dazu ein buntes Programm von besinnlichen Adventschören bis hin zu zünftigem Alpenrock.

Die Hauptattraktion war jedoch bereits seit einigen Jahren der Auftritt der Vorlese-Oma. An sich ein diskriminierender Name, aber Hedwig von Stetten hatte nichts dagegen einzuwenden, dass sie auf Plakaten im ganzen Stadtgebiet so angekündigt wurde. Sie hatte bis weit über das Pensionsalter hinaus eine bedeutende Mädchenoberschule mit Internat geleitet. Wenn sie die einstigen Schülerinnen als ihre „Töchter“ betrachtete, war sie heute mehr als hundertfache Oma – und sicher auch bereits Ur-Oma. 

Als Lehrerin und Direktorin war von Stetten kühl, unnahbar, manche mochten sagen, hart erschienen. Als Vorlese-Oma entwickelte sie einen ganz eigenen Charme, der kleine und große Zuhörer und Zuhörerinnen verzauberte. Sie las nicht nur, sie lebte die Geschichten. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, sie war in einem Moment das schüchterne Rotkäppchen, im nächsten die gebrechliche Großmutter und dann der furchteinflößende Wolf. Aber auch wenn  ein Kind zuweilen sein Gesicht im Pullover der Mutter verbarg und sogar Erwachsene erschrocken zusammenzuckten – die Vorlese-Oma war so beliebt, dass die Leute vor der Lesehütte Schlange standen, lange, bevor es losgehen sollte.

So auch an diesem 13. Dezember. Einem Freitag. Hedwig von Stetten war in keiner Weise abergläubisch. Wäre sie es gewesen, hätte sie vielleicht auf dem vom nächtlichen Blitzeis noch gefrorenen Boden mehr Vorsicht walten lassen, wäre nicht ausgerutscht und hätte sich auch nicht den Knöchel gebrochen. Sie hätte  – pflichtbewusst wie sie war – nicht aus dem übervollen Notaufnahme-Wartebereich des Krankenhauses ihre Freundin Senta Möbius angerufen – und Senta hätte demzufolge auch nicht an ihrer Stelle in dem roten Ohrensessel am künstlichen Hüttenkamin gesessen. Hätte, hätte, hätte.

Stattdessen fand sich die zuverlässige Senta um 15 Uhr in der Lesehütte ein, erklärte ihre Anwesenheit und nahm den Veranstaltern jeden etwaigen Zweifel an ihrer Qualifikation als Lese-Oma-Ersatz, in dem sie ihnen erklärte, dass sie von Beruf Sprecherin war und bereits unzählige Hörbücher aufgenommen hatte.

Sie setze sich probeweise in den Ohrensessel und bemerkte, dass dieser nur von einer üppigen Lichterkette beleuchtet wurde, die sich schlangengleich um einen Christbaum im Eck der Hütte wand. Ihre Bitten um „mehr Licht“ verhallten allerdings ungehört. Hätte sie ihre Bitte mit mehr Nachdruck geäußert, hätte der junge Mann an der Bar oder der Veranstalter ihr eine Lampe zur Seite gestellt und wäre ihr Gesicht deshalb nicht so im Schatten gewesen…… hätte, hätte, hätte.

So nahmen die Dinge an jenem 13. Dezember ungehindert ihren fatalen Lauf. 

Senta hatte zur größten Freude ihrer Zuhörerschaft nach Andersens Märchen vom Christbaum gerade damit begonnen, aus der „Schneekönigin“ zu lesen, als ein leises aber deutliches Sirren die Stille zerriss. Senta spürte nur einen Stich im Herzen, dann war sie tot. In dem allgemeinen Durcheinander entkam der Blasrohschütze – oder war es eine Schützin?

Die umgehend eingeleiteten polizeilichen Ermittlungen gingen zunächst nur schleppend voran. Bis der Fall – wohl aufgrund seiner offenbaren Aussichtslosigkeit – Kommissar Schaller und seinem Team übertragen wurde. Wie nicht anders zu erwarten, kam Schaller mit seinen unkonventionellen Ermittlungsmethoden zu einer für die Öffentlichkeit überraschenden aber dennoch richtigen Lösung. Um den Minikrimi nicht über Mitternacht hinaus auszudehnen, sei hier nur das Ergebnis notiert:

Senta Möbius war am falschen Tag am falschen Ort, bzw. in der falschen Rolle gewesen. Eine frühere Schülerin des von Hedwig von Stetten geleiteten Internats hatte die Veranstaltungs-Plakate gesehen. Das Porträt ihrer Peinigerin, die jahrzehntelang der Misshandlung unzähliger Schülerinnen in Form von physischer und psychischer Gewalt Vorschub geleistet hatte, hatte ihre aufgestaute Wut entfesselt. Das Blasrohr gehörte ihr – Blasrohrschießen ist in bayerischen Schützenvereinen ein durchaus gängiger Sport. Die in langen Jahren verblasste Erinnerung und das schlechte Licht hatten dazu gefürt, dass die Täterin Senta für Hedwig gehalten hatte.

Zwei Opfer, zwei Täterinnen. Aber nur eine kam vor Gericht. Die andere war indes ins Ausland entkommen.

Adventskalender MiniKrimi vom 19. Dezember 2018


 

Der Tausch

Frank hatte sein ganzes Leben lang um sich gehabt. Als Kind. als Jugendlicher, und auch als Erwachsener. Bis auf ein kurzes Intermezzo an Akademie der Bildenden Künste in Wien war er immer für seine Mutter da gewesen. Nachdem der Vater gestorben war, erwartete sie von ihm ganz selbstverständlich, dass er seinen Platz einnehmen würde. Und das hatte Frank getan,  ganz selbstverständlich. Geld war genug da. Frank musste sich nur im seine Mutter kümmern, einmal am Tag kochen, jeden zweiten Tag eine Spritztour mit ihrem Sportwagen ins Blaue Land, einmal im Monat in den Zoo und am Sonntag essen gehen, mal im Bayerischen Hof, mal bei Schuhbeck. Die restliche Zeit verbrachte Frank damit, zu malen oder mit Freunden auszugehen. Aber nie nach Mitternacht, damit seine Mutter sich keine Sorgen zu machen brauchte. Sie wurde im Alter immer ängstlicher. Deshalb waren sie aus dem Haus in eine Wohnung in der Minervastraße gezogen.

Und dann starb seine Mutter. Ihr Tod kam weder plötzlich noch unerwartet, sie war weit über neunzig und inzwischen schon so dement, dass sie sich nicht mehr alleine zurechtfand. Aber Frank hatte insgeheim angenommen, dass sie ewig leben würde. Irgendwie.

Seitdem ertappte sich Frank dabei, ältere Damen zu beobachten. Im Sommer beim Spaziergang im Tierpark, in den er eigentlich nicht mehr hätte gehen müssen. 

Im Supermarkt um die Ecke, vor dem Regal mit den Keksen. Die alte Dame mit dem Kamelhaarmantel sah so aus, als könne sie genau die Sorte nicht finden, die sie am liebsten mag. Frank blieb neben ihr stehen, beobachtete sie. Sie sah ein bisschen so aus wie seine Mutter, und er wollte ihr helfen. Aber da griff sie zielsicher nach dem Shortbread und legt es in den Einkaufswagen.

Vor dem Schaufenster des großen Kaufhauses am Marienplatz. Diese alte Dame trug die Haare so kurz wie seine Mutter, die Lippen waren kräftig rot geschminkt – mit ungenauen Konturen, die Nägel rot und die Schuhe spitz. Unschlüssig tippelte sie von einem Fenster zum andern. Die Hüte oder die Röcke? Die Röcke oder die Hüte? Er näherte sich ihr, vorsichtig. „Möchten Sie einen anprobieren?“, wollte er grade fragen. Da kam unter den Arkaden ein korpulenter Herr herangeschossen. „Irmi, wo bist Du denn? Komm, die Kinder warten schon“, sagte er und zog die Dame am Ärmel weiter Richtung Marienplatz.

Als er den beiden nachsah, kam ihm auf einmal dieser Gedanke. „Warum nehme ich mir nicht einfach eine andere Mutter?“ Gleich darauf musste er lachen. Wie albern! Aber er legte den Gedanken nur beiseite, ohne ihn zu verwerfen.

Eine Woche später stand Frank an der Ampel an der Schleißheimer Straße. Da hörte er neben sich eine leicht verzitterte Stimme: „Junger Mann, würden Sie mich wohl über die Straße begleiten?“ Als die Ampel grün wurde, schritt Frank mit einer eleganten, zierlichen alten Dame im schwarzen Kostüm, mit Hut und Handschuhen, über die Straße. Drüben angekommen sahen sie sich an, und aus der Laune des Augenblicks heraus fragte er: „Kaffee?“

Abends machte er ihr pochierten Lachs, und als sie im Bett lag – er hatte die Daunendecke mit der Lieblingsbettwäsche seiner Mutter bezogen – las er ihr noch etwas aus dem Zeit-Magazin. „Morgen gehen wir in den Zoo“; sagte er, aber da war sie schon eingeschlafen. 

In den Spätnachrichten auf Antenne wurde die Meldung durchgegeben, dass Frau Mathilde Richter, 93, seit dem frühen Nachmittag vermisst wurde. Sie war im Entenbachstift zur Kurzzeitpflege untergebracht, während ihre Familie den Umzug in ein Haus mit Einliegerwohnung organisierte, wo die demente Mutter mit einer Pflegerin wohnen konnte. „Familie Richter vermisst ihre Mutter und Großmutter schmerzlich und hat eine Belohnung von 1000 Euro für sachdienliche Hinweise ausgegeben“, hieß es. 

Frank brauchte kein Geld.

Adventskalender MiniKrimi vom 24. Dezember


Natale 15

Buon Natale, pace al mondo! Merry Christmas, peace to the world! Joyeux Noel, paix et amours au monde!

Meine diesjährige Weihnachtsgeschichte: ein kleiner, ganz normaler Familienkrimi mit fröhlichem Ausgang als Tipp für die Gestaltung des Heiligen Abends:

Die Weihnachtserbin

Was bisher geschah:

Heiligabend: Frida hat ihren Mann Jan und die Kinder auf den Weihnachtsmarkt geschickt, um in Ruhe die letzten Vorbereitungen für das Weihnachtsfest zu treffen. Alles wie jedes Jahr, sie erwarten Oma Anita, Opa Bernd und Jans arroganten Bruder David. Sie gilt als perfekte Gastgeberin. Aber heute fragt sie sich, ob sie in den letzten Jahren, seit sie in das Haus am Stadtrand von Berlin gezogen sind, nicht zu oft nachgegeben und zu wenig an sich gedacht hat. Ihr Blick fällt auf die rote Küchenuhr, die ihre besten Tage hinter sich hat. Vielleicht geht es mir genauso, denkt Frida. Und sie spürt, wie so etwas wie Unmut in ihr aufsteigt und Unzufriedenheit. Da klingelt es an der Tür. Wer kann das sein?

„Ja, bitte?“, fragt sie in das Schneegestöber. Vor ihr steht ein Mann mit roter Mütze. Nein, nicht der Weihnachtsmann, das erkennt Frida an der grimmigen Miene, mit der er ihr einen aufgeweichten Umschlag entgegenstreckt. „Frida Rosenzweig?“, schnauzt er sie an. „Ja. Haben Sie was gegen meinen Namen?“ „Ist mir egal, solange er auf dem Briefkasten steht.“ „Aber das tut er doch nicht!“ „Eben. Deshalb musste ich so lange suchen. Eilauftrag vom Kunden. Und das an Heiligabend. Hier, unterschreiben!“ Natürlich passt ihr ganzer Name, Kahler-Rosenzweig, nicht auf das Signaturpad. Ebenso wenig wie auf den Briefkasten. „K. Rosenzweig“ krakelt Frida auf das Pad, dann stürmt der Mann zurück auf die Straße. „Frohe Weihachten“, ruft sie ihm hinterher, um ihrem perfekten Image noch irgendwie gerecht zu werden.

Dann setzt sie sich mit dem Brief in die Küche. Dr. Ernst R. Schreck, Notar, steht auf dem Umschlag. Er enthält die Einladung zur „Testamentseröffnung im Erbfall Pepita Rosenzweig“ am 24.12.2015, 13 Uhr, in der Straße zum Löwen 12 in Wannsee. Frida schaut auf die Küchenuhr. Fünf vor zwölf. Wie passend, denkt sie. Was mache ich jetzt? Du kannst da unmöglich hin, sagt die perfekte Gastgeberin in ihr. Die Vorbereitungen! Na und, antwortet eine Stimme, die Frida nicht mehr gehört hat, seit sie hier eingezogen ist. Denk an dich! Pepita muss Oma Anitas totgeschwiegene Zwillingsschwester sein. Bestimmt hat sie dir was vererbt, sonst hätte dich dieser Schreck nicht eingeladen.

Frida schaut sich in der Küche um, sieht die abblätternde Farbe an den Fensterrahmen, die angeschlagenen Kacheln. „Willst du so weitermachen? Das Haus muss dringend renoviert werden. Aber dafür fehlt euch das Geld. Jan ist lieb und nett, aber er verdient nicht genug. Nimm die Sache selbst in die Hand. Zieh den Mantel an und geh.“

Und das tut Frida. Der Weg nach Wannsee über leergefegte Straßen ist kürzer als gedacht. Das Anwesen Nummer 12 entpuppt sich als majestätische Gründerzeit-Villa mit Auffahrt und Freitreppe. Frida parkt den alten Familienvolvo direkt neben einem grün funkelnden Jaguar XJ. Sie wird erwartet, in der Tür steht ein untersetzter Mann mit Kugelbauch und schütterem Haar. Auch kein Weihnachtsmann, konstatiert Frida mechanisch. „Frau Rosenzweig, schön, dass Sie da sind. Schreck“, sagt er mit öliger Stimme.

Die nächste Stunde vergeht wie im Traum. Das getäfelte Arbeitszimmer, die hohen Stühle. Das Video, in dem eine Frau wie ein Rabe im schwarzen Kleid mit funkelnden Knopfaugen sagt, dass sie Haus, Auto und Bankkonten ihrer Großnichte Frida vererben will. „Die einzige Bedingung, die du erfüllen musst“, krächzt ihre brüchige Stimme aus den Lautsprechern, „ist, zu beweisen, dass du nicht so verlogen bist wie der Rest meiner Familie.“ „Und wie?“ fragt Frida. „Ganz einfach“, erklärt der Notar, „Sie müssen vollkommen ehrlich sein. Und zwar alle.“ „Das sind wir doch immer“, strahlt Frida. Wenn’s weiter nichts ist. In Gedanken zieht sie schon in die prachtvolle Villa ein. Das Treppengeländer ist eine prima Skater-Rail für Finn, und im Garten könnte Annas Pony stehen. „Gehen wir?“ Dr. Schreck sieht sie auffordernd an. „Wir? Wohin?“ „Zu Ihnen nach Hause. Ihre Großtante hat mich mit der Überprüfung Ihrer Ehrlichkeit betraut“.

Die Rückfahrt verläuft schweigsam. Bestimmt würde Dr. Schreck den Heiligen Abend lieber woanders verbringen. „Mein Gänsebraten ist vorzüglich“, flötet Frida und öffnet die Tür. Rauchschwaden vernebeln die Sicht, ein beißender Geruch nach verbranntem Fleisch straft ihre Behauptung Lügen. Mit einem Schrei stürzt Frida in die Küche. Sie hantiert immer noch hektisch mit Töpfen und Pfannen, als Jan und die Kinder nach Hause kommen. „Was ist denn hier passiert?“ Anna rümpft die Nase. „Das stinkt.“ „Kinder, riecht doch lecker.“ Jan will die Stimmung retten. Da sieht er den rundlichen Mann, der Frida ein spöttisches Lächeln zuwirft. „Das gilt noch nicht“, sagt sie hastig. „Erst muss ich alles erklären.“

Jan runzelt kritisch die Stirn. Aber die Kinder sind begeistert. „Zum Glück ist die dumme Gans angebrannt“, ruft Finn. „Jetzt gibt’s Spaghetti mit Tomatenketchup, ok?“ „Das fängt ja gut an“, wispert Frida ihrem Mann zu. „Das wir noch viel besser“, antwortet er.

Statt eines „Du wirst immer jünger, wie machst du das bloß?“ hilft Jan Oma Anita mit der Bemerkung aus dem Mantel: „Du hast ganz schön zugenommen!“ Und Finn brüllt: „Pelz ist Mord! Freiheit für alle Tiere jetzt sofort!“ Opa Bernd erlangt nach Fridas Erklärung zu diesem „etwas anderen“ Heiligabend als erster die Fassung wieder. „Wir können endlich aufhören mit dem Theater, Anita.“ Dann fragt er: „Frida, darf mein Mann dazukommen?“ Denn Bernd und Anita gehen schon lange getrennte Wege. Sie unterhält einen Swingerclub auf Malle, und er hat seine heimliche Liebe Adam geheiratet. „Glaubt bloß nicht, dass ihr den Sommerurlaub bei mir verbringen könnt“, warnt Anita vorsorglich. “Ihr seid viel zu spießig für meine Gäste.“ Frida wundert sich, warum Anita und Pepita sich nicht vertragen haben. Wo sie sich so ähnlich sind. Zwillinge eben.

Als David kommt, macht es ihr sogar richtig Spaß, ehrlich zu sein. „Du bist viel zu spät. Wie immer. Gut, so haben wir wenigstens ohne deine Anzüglichkeiten essen können“, wirft sie ihm an den Kopf. Und setzt noch eins drauf: „Wir haben kein Geschenk für dich. Du bringst ja auch nie was mit.“ „Stimmt nicht“, antwortet David, zieht ein zerknülltes Päckchen aus der Manteltasche und beweist seine Anpassungsfähigkeit an die besonderen Umstände mit der Bemerkung: „Beim Ausmisten habe ich deine alten Topflappen gefunden, die musst du bei mir vergessen haben, als du zu Jan gezogen bist. Hier – stehen dir ganz wunderbar“.

Da stößt Finn einen Wutschrei aus. Anna und er haben ihre Geschenke ausgepackt. Der Junge hält einen Chemiebaukasten in die Höhe. „Papa. Was soll das? Wo ist mein neues Skateboard?“ „Kannst du mir mal sagen, warum dieses Kind sich für nichts von alledem interessiert, was mir als Kind Spaß gemach hat?“, fragt Jan leise seine Frau. „Das liegt vielleicht daran, dass er gar nicht dein Sohn ist, sondern der deines Bruders“, flüstert Frida zurück. Was für ein Albtraum, denkt sie. Und: hätte ich bloß diesen Brief nie bekommen!

Der Rest des Abends versinkt im Chaos. Bernd hat sich von Adam abholen lassen. David haben die beiden gleich mitgenommen, mitsamt dem Veilchen, das ihm Jan verpasst hat. Anita sitzt mit Dr. Schreck auf der Terrasse und raucht einen Joint. „Das habe ich mir auf Malle angewöhnt. Hilft super gegen Arthrose“. Jan hat die Kinder ins Bett gebracht. Jetzt steht er im Schlafzimmer und packt seinen Koffer. „Mensch Jan, bitte. Es tut mir so leid. Das war einfach alles zu viel für mich“, sagt Frida und macht eine ausladende Armbewegung. „Alles“ meint dieses Leben. „Wollen wir es nicht noch mal versuchen? In Tante Pepitas Haus? Ohne Sorgen?“ „Und wie bringen wir Dr. Schreck dazu, in uns eine ehrliche Familie zu sehen?“, fragt ihr Mann. „Hm, wir geben ihm einfach so viel zu trinken, dass er sich morgen an nichts mehr erinnert!“

Am 25. sitzen alle beim Frühstück. Frida und Jan, Finn, Anna und Oma Anita, als Dr. Schreck die Treppe hinunter kommt. Sein Aussehen macht seinem Namen alle Ehre. „Guten Morgen“, ruft Frida gut gelaunt. „Schauen Sie, die perfekte ehrliche Familie!“ „Von wegen“, sagt Schreck. „Sie sind verlogen! Sie haben mich gestern betrunken gemacht, damit ich mich an nichts erinnere. Aber hier, ich habe alles aufgenommen“, und er zeigt auf sein Handy. Da klingelt es an der Tür. „Das ist mein Taxi. Auf Nimmerwiedersehen, Familie Kahler-Rosenzweig,“ „Halt, Sie können uns doch nicht so einfach sitzen lassen, nach allem, was wir wegen Ihnen durchgemacht haben“, ruft Frida verzweifelt und versucht, ihn festzuhalten. Es klingelt ein zweites Mal. „Lassen Sie mich los“, faucht Dr. Schreck.

Als es zum dritten Mal klingelt, fährt Frida zusammen. Ist sie doch glatt am Küchentisch eingenickt! Es riecht nach verbranntem Braten, und durch dicke Rauschschwaden fällt ihr Blick auf die rote Uhr. So spät! Sie rennt zur Tür. „Schatz, wir haben die Zeit vergessen, nicht böse sein!“ Jan legt ihr mit beschwichtigender Mine den Arm und die Schultern. „Macht nichts!“ Frida strahlt ihre Familie an. „Ich bin auch noch nicht fertig. Hatte wichtigeres zu tun. Was haltet ihr davon, wenn wir Heiligabend heute mal anders feiern? Nicht perfekt, aber dafür so, dass alle Spaß haben?“ „Au ja“, ruft Anna. „Können wir statt dem Gänsebraten Spaghetti essen?“ Und Finn ergänzt hoffnungsvoll: „Mit Tomatenketchup?“

Loslassen. Ziehen lassen. Zurückbleiben.


KinderschildEs regnet aus nachtdunklem, gewitterschweren Himmel. Die Rücklichter blitzen wie ein schnelles Lachen, dann ist er weg. Knapp vierhundert Kilometer trennen ihn von dem Wünscheort seiner Kindheit. Der Zuflucht vor Elternstreit und Schulgelächter. Von dem Sofa mit der rein wollenen Decke, dem Allerlieblingsessens-Tisch. Der Märchenmarypoppins seiner Kindheit. Telefonseelsorge, Kummerkasten, Mutmachfrau.

Heute fährt er in die Nacht, gleich doppelt. Zum ersten Mal allein. Und nicht als Gast. Als Kind. Als Schützling. Heute fährt er Richtung Großmama, um aufzuräumen, um zu helfen, um das Chaos zu bannen, wieder monatsweise. Um ein Feuer zu entfachen, ganz weit hinten im dem großen Garten, wo die Tannen nicht mehr hänselgretelhoch über ihm ragen, sondern nur noch Bäume sind mit altem Astwerk, trockenen Nadeln.

Vielleicht erinnert er sich an die Lagerfeuer mit dem Stockbrot und den Steckerlwürstchen, sicher weiß er noch, wie er die Sommertage zwischen Schwimmbadrutsche und Erlebnispark verteilte. Hinten auf dem Kindersitz. Heute sitzt er selbst am Steuer, froh, dass sie ihm das Auto heil und kampflos übertragen hat. Und wird sie morgen durch die Dörfer fahren.

Erwachsen werden heißt, Verantwortung erkennen und nicht vor ihr fliehen.

Ich sitze hier. Die Mutter macht derweil im Omahaus zum x-ten Mal die Gästebetten fertig, schimpft mich herzlos, weil der Enkel nachtfährt, ausgerechnet. Ich sitze hier und schreibe, weil ich lieber neben ihm gesessen wäre. Vor mir sorgenfaltig lange Stunden. Und weiß dabei, dass ich ihn fahren lassen muss, damit er ankommen kann, in seinem eigenen Leben.

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