Adventskalender MiniKrimi am 2. Dezember


Eigentlich sollte es heute ein Schneechaos-Krimi werden. War ja selbst mittendrin in den nicht enden wollenden nassen Schneemassen, die sich über München ergossen. Aber dann erzählte mir mein Sohn von einer Krimi-Idee, die ihm – er ist Anästhesist – mal im OP gekommen war. Er warf mir die Gedankenknochen hin. Und ich fand das Thema so spannend, dass ich Fleisch dransetzte (die Allegorie habe ich natürlich mit Absicht gewählt). Et voilà. Schnee kommt dann morgen. Vielleicht.

Am I legend?

„Was ist denn das für ein Geräusch? Der Wecker! Ich hab verschlafen!“ Er setzt sich auf, die Augen noch halb geschlossen, und schiebt die Beine über den Bettrand. Oder vielmehr: er will, aber es gelingt ihm nicht. Irgend etwas fesselt ihn. Das Piepsen wird eindrindlicher. Er öffnet die Augen. „Wo bin ich?“ Das ist nicht sein Schlafzimmer, sondern ein gekachelter Raum mit einer Unmenge an Geräten rund um sein Bett, das nicht mehr als eine schmale Liege ist. „Was hab ich da im Gesicht?“ Er reißt sich die Maske herunter und starrt auf den Tubus, der von ihr zur Quelle des Geräusches führt, das ihn geweckt hat. Ihm wird schwindlig. Er schließt die Augen, lässt sich auf die Liege zurücksinken und versucht, sich zu erinnern. Egal an was.

„Ja. Heute war der Termin für meine Karpaltunnelsyndrom-OP. Ich war schon Tage vorher sp aufgeregt, dass die Ärztin mir zu einer Vollnarkpse geraten hatte. Meine Frau hat mich in die Klinik gefahren. Ich habe die Ärztin gsprochen, dann kam der Anästhesist. Und dann?“

Blackout. Die Ärztin? Die Assistenz? Pflegeperspnal? Keiner da? „Hallo!“, ruft er. Er atmet tief ein. Hebt den Kopf. Schaut sich um. „Verdammt! Bin ich im falschen Film oder hab ich nen Albtraum?“ Um ihn herum verteilt im kleinen Operationssaal liegen die Ärztin und ihre Assistenz, der Anästhesist, eine Krankenschwester. Alle reglos. Langsam und mühevoll richtet er sich auf. Die Ärztin hat noch das Skalpell in der Hand. Sie sieht friedlich aus. Vielleicht ein klein wenig erstaunt. Jedenfalls nicht verwundet. Aber woher kommt dann das Blut. das auf ihre blassen Lippen tropft? „Das bin ja ich! Ich blute! Die haben mich aufgeschnitten und nicht mehr zusammengenäht!“ Tatsächlich klafft in seiner linken Hand eine tiefe Wunde. Zu tief für den geplanten Eingriff. „Was geht hier vor? Wollten die mich umbringen?“ Nun, das scheint jedenfalls gründlich schiefgegangen zu sein.

Er steht auf. Dabei reißt er sich alle möglichen Drähte und Schläuche vom Körper. Ihn fröstelt. Kalt hier. Vor allem in dem dünnen OP-Hemd. Er muss hier raus und jemanden finden, der ihm hilft. Der ihm erklärt. was passiert ist. Was das hier soll.

Im zentralen Aufwachraum stehen einige Betten mit Patienten. Alle reglos. Alle blass. Genauso tot wie die Leute hinter der Theke.

Jetzt wird er wütend. „Was ist denn das für ein Schlendrian? Es ist wirklich höcshte Zeit, dass sich etwas ändert. Als erstes werde ich die Handchirurgie schließen. Die Abteilung bringt nicht nur zu wenig Kohle, die Leute sind die reinsten Zombies.“

Da kommt ihm ein Verdacht. Sollte der kaufmännische Leiter der Klinik nach dem Gespräch mit seinem neuen Investor trotz ihrer Abmachung geplaudert haben? War die OP ein abgekartetes Spiel, um ihn an der Übernahme des Krankenhauses und den geplanten Schließungen zu hindern?

Aber warum sind dann die anderen tot – und nicht er? Systematisch durchkämmt er das Haus. Und findet überall Leichen. Ohne erkennbare Verletzungen, ohne verkrampfte Gesichtszüge. Aber ganz offensichtlich leblos.

Er irrt durch menschenleere Flure, zieht eine rote Blutspur hinter sich her wie den Ariadnefaden. Keine Menschenseele. Oder vielleicht doch, aber dann nur noch Seelen. Schließlich gelangt er zu einer massiven Metalltür. ‚Kontrollraum‘ steht auf einem angegrauten Schild an der Wand. Daneben ein Knopf. EIn leichter Druck, und die Tür gibt die Sicht frei auf die Kommandobrücke eines veralteten Raumschiffs. Gleich wird Käptn Kirk sich von seinem Thron erheben und…. Da ist er schon. Allerdings sieht er weniger wie ein Sterneflotten-Kommandant aus. Eher wie Rambo. Ein Muskelpaket mit tätowiertem Hals.

„Hey, was machst du hier? Warum? Warum? Bist du nicht tot, wie die anderen? Du musst das Cyanid doch auch eingeatmet haben?“ „Cyanid? Keine Ahnung, was für ein Stoff da in meinem Beatmungsgerät war“, anwortet er.

„Sch…..!“ grunzt Rambo und greift in die geräumige Tasche seines weißen Kittels. „Fehler meinerseits. Da hab ich in der Ausbildung nicht aufgepasst. Wenn du beatmet wirst, kriegst du das Gas natürlich nicht mit. Aber egal. Stirbst du eben später.“ Jetzt hält er eine Spritze in der Hand und hebt drohend den Arm. „Aber warum? Was ist denn hier los?“ „Was hier los ist? Ich hab gerade so meine Krankenpflege-Ausbildung geschafft. War tierisch kompliziert. Dann wollte mich keiner nehmen – Pflegenotstand hin oder her. Ich sei zu unberechenbar und psychisch instabil. Und als ich endlich doch ne Stelle gefunden habe, hier, da kommen Sie und wollten einfach meine Abteilung dichtmachen. Aber nicht mit mir! Ich lass euch alle hops gehen. Sie und die anderen eingebildeten Idioten hier. Ihr steckt doch alle unter einer Decke. Hättet mir wenigstens eine Chance geben können!“

Jetzt stehen sie sich gegenüber. Blitzschnell hebt der Pfleger die Hand und jagt die Spritze in seinen Feind.

„So, das war’s. Hallo? Herr Meister? Hallooo! Ah, da sind Sie ja. Willkommen zurück. Hatten Sie einen schönen Narkosetraum?“

Der Investor starrt den Arzt wortlos an. Später, auf dem Weg nach Hause, fasst er den Entschluss, sich nochmal gründlich über das Krankenhaus zu informieren, bevor er endgültig in die Finanzierung einsteigt.

Adventskalender Minikrimi am 2. Dezember


Der Beste seines Fachs

Er ist der Beste. Das weiß er. Und das sagen ihm auch immer wieder alle anderen. Kolleg*innen, Patient*innen. Und vor allem das Pflegepersonal. Die heimliche Leitung der Klinik, wie er lachend sagt, damit niemand merkt, wie ernst ihm diese Behauptung ist. Stell dich mit den Pflegekräften gut, und du bist der uneingeschränkte King der Abteilung. 

Deshalb stellt er sich bei jeder neuen Stelle erst einmal im Pflegestützpunkt vor. Mit gutem Kaffee und einem Korb, prall gefüllt mit all den Sachen, die sie dort wirklich mögen. Keine Schokolade oder Kuchen. Dafür Nüsse, Obst und Nervennahrung. Nach einer Woche fressen sie ihm aus der Hand. Und das ist wichtig! Sie schirmen ihn ab und stehen hinter ihm. Erlauben keine unnötigen Fragen.

So war es bislang immer. Und so ist es auch hier. Seit kaum drei Wochen arbeitet er als Assistenzarzt in der Anästhesie. Inzwischen kennt er sich überall aus, die Handgriffe während einer OP sitzen. Mit schlafwandlerischer Sicherheit überwacht er die Patienten, greift bei Bedarf sicher und routiniert ein. Schwester Lilly wirft ihm bewundernde Blicke zu, und mehr als einmal hat sie ihm schon einen Espresso gebracht – ungefragt. Er kann nicht sagen, dass ihm das missfällt. Auch Lilly selbst gefällt ihm gut, mit ihren langen schwarzen Haaren und den großen grünen Augen. Aber er hält sich zurück. Ist auf der Hut. Persönliche Kontakte kann er sich nicht leisten. Leider.

Es kommen immer mehr Corona-Patienten ins Krankenhaus. Es macht ihm nichts aus, sich im Schutzanzug um sie zu kümmern. Das ist kein wirklich schwerer Job. Leider erwischt das Virus immer mehr Pflegekräfte und Kolleg*innen. Er ist der Meinung, dass sie sich nach ihrem Dienst nicht wirklich in Acht nehmen, sondern den Stress in der Klinik wegfeiern. Und das ist in dieser Situation fatal.


Er tut das nicht. Er lebt zurückgezogen, beinahe mönchisch. Das muss er auch. 

Dann kommt der Tag, an dem Professor T. ihn in sein Büro ruft. Es geht um die junge Luise, eine Covid-19-Patientin. Er kennt das Mädchen, hat es seit der Einlieferung mit Atemproblemen betreut. Sie ist Asthmatikerin. Ihr Zustand schien stabil. Doch in der Nacht hat sich die Situation so sehr verschlechtert, dass eine Operation umgehend notwendig ist. „Und jetzt kommen Sie ins Spiel, Kollege. Kollege F. ist seit heute ebenfalls erkrankt. In Ihren Unterlagen habe ich gelesen, dass Sie bereits mehrere erfolgreiche Lungen-OPs durchgeführt haben, sogar eine Transplantation. Sie übernehmen also. Machen Sie sich fertig, die OP ist für 9 Uhr angesetzt.“

Schweiß tritt ihm auf die Stirn. „Ich, ich…“, setzt er an, doch in diesem Moment geht die Tür auf, Luises Mutter stürmt herein, umfasst seine beiden Hände und bittet ihn unter Tränen, ihre Tochter zu retten. Diesmal ist es eine schlafwandlerische Unsicherheit, mit der er sich vorbereitet. Er sieht alles nur durch einen Schleier. Schwester Lilly hilft ihm beim Ankleiden. „Sie sehen blass aus, ist alles ok?“, fragt sie ihn. „Nein!“ will er rufen. „Nichts ist ok!“ Aber er kann nur nicken. Und dann steht er im Operationssaal. Hält Instrumente in der Hand, die er bislang nur von weitem gesehen hat. Alle warten darauf, dass er anfängt. Er macht einen Schnitt, noch einen – alles ist voller Blut, Luise reißt die Augen auf, schreit ihn an: „Wie können Sie es wagen! Sie Scharlatan. Sie Hochstapler!“ Dann sinkt sie zurück. Tot. 

Der Saal ist plötzlich voller Menschen, Luises Mutter, die Kolleg*innen, Lilly, die Prüfer, die ihn damals haben durchs Examen fallen lassen. Seine Eltern, die ihn seitdem als Versager betrachtet und jeden Kontakt abgebrochen haben. Und noch viele andere, an denen er sich seitdem rächt, indem er das tut, was er wegen ihnen nicht tun darf. Luises Mutter, die ihn anstarrt und immer wieder flüstert: „Warum nur? Warum?“Er will sich umdrehen, weglaufen. Aber er klebt fest. In diesem Raum. In diesem Albtraum.

Schließlich wacht er doch noch auf, schweißgebadet. Es ist vier Uhr morgens, die Stadt schlummert im Winterdunkel. Er schüttelt sich. Was für ein Traum. Er steht auf und geht zum Schreibtisch. Dort liegt er, der Beweis, dass das alles wirklich nur ein Albtraum war: seine Approbation!