MiniKrimi Adventskalender am 5. Dezember


TOD MIT TIEFGANG (Auszug)

von Joyce Summer

Prolog

Der alte Löwe streckte seine Glieder und sprang. Das kalte Wasser umhüllte seinen Körper und ein belebendes Prickeln durchströmte Arme und Beine. Als er auftauchte, schüttelte er die Wassertropfen aus seiner Mähne und atmete tief die salzige, nach Algen riechende Luft ein.

Fast wie im Herbst zu Hause, dachte der Mann. Nur ist die Ostsee wärmer als der Atlantik im Schatten des Tafelberges.

Er rückte seine Schwimmbrille zurecht und setzte zum Freistil an.

Mal sehen, wie viele Bahnen ich heute schaffe. Achte auf deine Wasserlage, die Phasen des Armzuges und die Rotation des Körpers, zitierte er seinen alten Schwimmtrainer bei der Marine und begann das Morgentraining.

Sein Körper glitt mühelos durch das Wasser. Für einen alten Mann wie mich gar nicht schlecht. Gleich bin ich am Anschlagbrett.

Die nächsten langen Züge. Er schaute kurz nach vorne, um sich zu orientieren. Dann atmen nach links. Als er den rechten Arm ins Wasser tauchte, fühlte es sich an, als ob er seine Hand in Watte steckte. Hmm, heute scheint mir die Kälte doch etwas mehr zuzusetzen als erwartet. Ein Krampf zog sich durch seinen linken Fuß und kroch langsam die Wade hoch. Sofort reduzierte er seinen Beinschlag, um die beanspruchten Beinmuskeln zu entlasten. Seine Schläfen begannen zu pochen und sein Kopf fühlte sich an, als steckte er in einem überdimensionalen Schraubstock, der langsam immer fester gezogen wurde. Die verfluchte Kälte! Plötzlich war das Schwimmen kein Spaß mehr. Jeder Zug wurde zum Kampf. Aber Aufgeben kam nicht infrage. Was würde der Löwe tun? Das Vorgehen anpassen und sich dem Kampf stellen. Wieder hob er leicht den Kopf, um sich zu orientieren. Das Anschlagbrett war kaum nähergekommen.

Was ist nur mit mir los?, fragte er sich, während sein rechter Ellbogen aus dem Wasser auftauchte. Er drehte den Kopf nach rechts, um Luft zu holen, und öffnete den Mund. Tausend Nadeln stachen in seine Brust. Kein angenehmes Prickeln wie beim Eintauchen in das kalte Wasser, sondern purer Schmerz. Anstatt belebender Luft schluckte er salziges Ostseewasser. Aus seinem Magen suchte der Frühstückskaffee mit einem sauren, beißenden Geschmack seinen Weg nach oben. Er stoppte und versuchte sich umzudrehen, zurück zum Steg zu schwimmen, zu den Menschen, die dort gerade ihre Utensilien auf der Plattform aufbauten. Das klare morgendliche Blau des Himmels und des Wassers verschwammen zu einem dumpfen Gelb‑Grün. Als wäre er in einem alten Farbfilm gelandet, dessen Farben durch das Alter verblasst und verändert waren. Seine Glieder wurden schwer und zogen ihn nach unten. Anstatt eines Schreis entwich ihm nur ein leises Gurgeln. Kraftlos glitt er in Richtung Meeresboden. Wieder umhüllte ihn das kalte Wasser. Nur diesmal würde es kein Auftauchen für ihn geben.

Seebadeanstalt Holtenau

Die grün‑graue Welt breitete sich vor ihr aus, ihre Sicht getrübt und durch das kleine Fenster begrenzt. In klobigen, schweren Stiefeln stapfte sie langsam über den Grund. Einzelne zarte Pflanzen, zerdrückt durch ihre Masse, zierten als traurige Überbleibsel ihren Pfad.

Als wäre ich eine große orange‑gelbe Walze, die hier alles platt macht, was sich mir in den Weg stellt.

Sie widerstand dem Drang, Schwimmbewegungen zu machen, um endlich an die Oberfläche zu gelangen. So lange war sie noch nie unter Wasser gewesen und sie fühlte sich immer beklommener in ihrer Lage. Von wegen hier würde sie das Gewicht der Ausrüstung nicht mehr spüren. Es war zwar nicht so schwer wie über Wasser, aber sie empfand Hilflosigkeit. Sie wedelte mit den Armen, um voranzukommen und das an ihr zerrende Gewicht der Bleischuhe zu verringern.

Um sie herum blubberte und zischte es. Luftblasen entwichen dem historischen Kupferhelm, der fest an ihrem Anzug verschraubt war. Als Leif vor zehn Minuten mit einem riesigen Schraubenschlüssel ankam, um den Helm zu befestigen, hielt sie das zunächst für einen Witz. Aber das hier war keiner. Die lebensnotwendigen Schläuche lagen hinter ihr auf dem Grund, und jeder Schritt war ein Kampf gegen den Widerstand des Wassers. Bestimmt bin ich, wenn ich wieder aus diesem kalten Wasser komme, nass geschwitzt vor Anstrengung. Diese wollene Unterwäsche, die sie mir wegen der Kälte aufgedrängt haben, hätte ich gar nicht gebraucht. Wahrscheinlich ist das nur für Berufstaucher gedacht, die bei solchen Tauchgängen nicht unter Adrenalin stehen, sondern die ganze Zeit tiefenentspannt sind. Sie drehte langsam den Kopf, und Michael, ihr Sicherungstaucher, erschien vor der Scheibe.Im Gegensatz zu ihr war er nicht mit Schläuchen an die Außenwelt gebunden, sondern tauchte mit Pressluft. Fast neidisch beobachtete sie, wie er sich ohne das schwere Gerödel schwebend über den Boden bewegte. Michael machte irgendwelche Zeichen mit den Armen.

Was will er mir damit sagen?

Sie schaute an sich herunter. Ihre Arme standen beinahe im rechten Winkel zu ihrem Körper und der Anzug war dick aufgeblasen. Verdammt, sie hatte die letzten Minuten vergessen, über das Ventil im Helm Luft abzulassen. Wenn sie so weiter machte, würde sie wirklich gleich nach oben treiben. Stine neigte den Kopf zur Seite und betätigte das Ventil. Mit der entweichenden Luft schmiegte sich der Anzug wieder an. Endlich gelang es ihr, die Arme zu senken. Michael nickte ihr zu und formte das Okay‑Zeichen mit Daumen und Zeigefinger.

Zu dem Zischen im Helm kam ein Knacken und die metallene Stimme von Leif hallte im Helm wider.

»Alles okay bei dir, Stine? Versuch mal, die Arme nicht nach oben zu strecken, dadurch strömt Luft über die Armmanschetten in die Handschuhe. Und die werden dir dann von den Händen geblasen. Das willst du nicht. Also schön regelmäßig Luft ablassen. Pass außerdem ein bisschen auf die Versorgungsleitung auf, damit du dich darin nicht verhedderst. Wenn du irgendwo lang gehst, immer schauen, wo die Leitung ist und den Rückweg immer daran entlang.« Seine Stimme klang ruhig, aber Stine meinte, Sorge darin zu hören.

Denkt er auch, dass ich lieber oben geblieben wäre und den anderen bei ihrem Helmtauchversuch zugeschaut hätte?

Ihr Blick folgte dem Luftschlauch. Leif hatte ihr gezeigt, dass nichts passieren konnte, wenn sie aus Versehen darauf trat, weil der Schlauch mit Stahldraht verstärkt war. Aber sie wollte nichts riskieren. Sie ging weiter, den Blick leicht nach hinten auf den Schlauch gerichtet. Bloß nicht verheddern, dachte sie, als ein dumpfes »Klong« in ihrem Helm dröhnte und sie gegen ein Hindernis stieß. Holzplanken ragten vor ihr auf. Von hinten klopfte ihr Michael auf die Schulter.

Wieder ertönte Leifs Stimme: »Du bist jetzt direkt unter uns. Vielleicht solltest du die Richtung wechseln, wenn du nicht unter der Seebrücke feststecken möchtest. Hier gibt es auch nicht viel Interessantes zu sehen, glaub mir. Lass dich von Michael in Richtung Anker führen. Den wollen wir später noch bergen. Du kannst ja schon mal die Lage erkunden. Achte beim Zurückgehen darauf, dass du an der Versorgung entlanggehst, damit du sie nicht um die Pfähle wickelst.«

Stine tastete sich an dem Balken entlang. Vor ihren Augen tauchte eine Plastikdose auf, die sich anscheinend dort verklemmt hatte.

Auch in der Ostsee gibt es schon überall Müll, sinnierte sie, als sie wieder Michaels Hand auf ihrer Schulter spürte. Mit sanftem Druck korrigierte er ihren Kurs in die entgegengesetzte Richtung. Dankbar bemerkte sie, dass er sie keinen Moment aus den Augen ließ. Ihr Puls beruhigte sich ganz langsam und sie fing an, die Unterwasserlandschaft zu beobachten. Kleine abgerissene Fetzen von Algen und Seegras schwammen um sie herum. Ab und zu nahm sie das silberne Glitzern eines Fisches wahr. Eine große Feuerqualle glitt vor ihr durch das Wasser. Als Schwimmerin hätte sie jetzt das Weite gesucht, aber geschützt durch den Anzug konnte sie in Ruhe die Schönheit dieses Lebewesens beobachten. Rot und Orange schimmerte sie in dem Licht, das von der Wasseroberfläche in die Tiefe fiel. Die Tentakel streiften Stines Sichtfenster und sie konnte sogar die Organe der Qualle erkennen. Ein Schwarm kleiner Fische zog direkt an ihr vorbei. Er und Michaels fester Griff leiteten sie in Richtung Anschlagbrett der Seebadeanstalt. Wieder tauchten Holzpfähle vor ihr auf. Das musste das Brett sein, welches für die Schwimmer des Seebades die 50 Meter begrenzte. Als sie sich näherte, konnte sie kleine Krebse sehen, die sich, festgeklammert an den Pfählen, vom Wasser umspülen ließen. Direkt unter dem Steg wiegte sich etwas Weißliches im Wasser. Ein großer Plastikbeutel? Oder eine Boje? Kann sich das Plastik an dem ominösen Anker verfangen haben?

Sie räusperte sich und sofort ertönte wieder Leifs Stimme: »Du müsstest gleich bei dem Anker sein. Geht es dir gut? Kein Schwindel so weit?«

»Ja, alles gut. Magst du mir noch mal sagen, warum wir den Anker suchen? Stellt er eine Gefahr für die Schiffe dar?«

Eine kurze Pause folgte, dann hörte sie jemanden im Hintergrund lachen.

»Nein, keine Gefahr für die Schiffe. Aber es ist gut, wenn wir das Ding bergen.«

Eine zweite Stimme meldete sich. Es klang nach Astrid, Leifs Frau. »Leif will nur nicht zugeben, dass er ›grabbeln‹ will.«

»›Grabbeln‹? Was soll das sein?«

Sie hörte Astrid erneut lachen. »Das bedeutet, dass mein Mann noch mehr unnützes Zeug vom Meeresboden bergen und zu seiner Sammlung zu Hause packen will. Du musst bei Gelegenheit mal bei uns vorbeikommen und dir sein Museum ansehen.«

Stine überlegte kurz, ob sie umkehren sollte, da der Notfall des am Boden liegenden Ankers ja keiner mehr war. Aber dann siegte ihre Neugier, und sie setzte ihren Weg fort, Michael immer in ihrer Nähe wissend. Wann würde sie wieder die Gelegenheit haben, am Boden der Ostsee entlangzulaufen? Sie war keine Taucherin, Schnorcheln konnte sie so leidlich, aber das war kein Vergleich mit dieser Erfahrung. Sie tat den nächsten Schritt und versuchte, durch die kleine Scheibe die gesamte Umgebung im Auge zu behalten. Diesmal wollte sie keine Holzpfähle rammen. Keine Sekunde später blieb ihr rechter Fuß hängen und ihr Körper bewegte sich in Richtung Boden. Nur die Trägheit hinderte ihren Fall.

Dieses beschränkte Sichtfeld macht mich wahnsinnig! So muss es sich anfühlen, wenn man alt wird. Angeblich soll man dann ja auch alles nur noch ausschnittweise wahrnehmen können. Was musste das für eine Belastung sein? Stine merkte, wie ihr Herz immer heftiger klopfte. Ich möchte zurück, raus aus diesem Anzug! So langsam wird es mir hier unter Wasser unheimlich.

»Hast du was gesagt, Stine?« Leif wieder.

Habe ich laut vor mich hin gebrabbelt? Hoffentlich nicht.

»Nein, nein. Alles okay hier. Aber ich glaube, ich möchte wieder zurück zum Steg. Lass lieber einen von den erfahrenen Tauchern nach dem Anker suchen. Ich …« Sie stockte. Während sie sich auf das Gespräch mit Leif konzentrierte, war sie viel zu nah an die Unterwasserbauten des Anschlagbretts geraten.

So ein Mist, schimpfte sie. Notiz für mich: Unter Wasser bin ich definitiv nicht multitasking‑fähig.

Die weißliche Masse, die sie von weitem schon gesehen hatte, schob sich in ihr Gesichtsfeld.

Das war keine Plastiktüte. Das Gesicht eines Mannes starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Politik und Intrigen kennt die Autorin nach jahrelanger Arbeit als Managerin in verschiedenen Banken und Großkonzernen zur Genüge: Da fiel es ihr nicht schwer, dieses Leben hinter sich zu lassen und mit Papier und Feder auf Mörderjagd zu gehen. Die Fälle der Hamburger Autorin spielen dabei meistens nicht im kühlen Norden, sondern in warmen und speziell ausgesuchten Urlaubsregionen wie Madeira und Südafrika. 

Tod mit Tiefgang, Taschenbuch, 340 Seiten broschiert – ISBN-13: 978-3-758373848Tod mit Tiefgang, Ebook – ISBN-13: 978-3-759219497 bzw. ASIN: B0CW1HP2P2

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Mehr über die Autorin findet ihr auf https://www.joycesummer.de