MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Heute steckt hinter dem Türchen ein spannender Text von Vanne von Ares. Das Buch „Der Marionettenmacher“ ist absolut lesenswert. Habt Freude beim Reinschnuppern. Alle Infos zum Buch findet ihr unter dem Text. Danke für Kommentare und Likes!

Der Marionettenmacher

Berlin, Juni 1952

Der Tanz beginnt

Die Angst kehrt zurück. Sie schlägt die Augen auf, die sich nach Tagen in der Dunkelheit an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben.

Sich bewegen? Ausgeschlossen. Die Knochen und Gliedmaßen, auch jene, die er noch nicht gebrochen hat, sind kunstvoll, fast seemännisch korrekt verschnürt.

Ihr Atem geht schneller. Ist da eben eine Autotür zugeschlagen worden?

Schwere Schritte sind zu hören.

Ihre Augen weiten sich, doch den Kopf zu heben, ist unmöglich. Die Nadel des Grammophons kratzt über die Platte. Die Leander fängt an zu trällern: „Wenn mal mein Herz unglücklich liebt …“

Blank geputzte Armeestiefel treten in ihr Sichtfeld. Man könnte meinen, das eigene Antlitz spiegele sich darauf. Doch das Leder ist zu grob. Die Seile, die ihren Körper aufrecht halten, sind an einem kleinen Lastenschwenkarm unter der Decke angebracht.

Er zieht sie zu sich in die Mitte des Raumes, und seine angenehme, sonore Stimme flüstert ihr ins Ohr: „Gnädiges Fräulein, darf ich bitten?“

Im selben Augenblick legt er seine Hand auf ihre Hüfte, nimmt ihren rechten Arm in seine andere Hand und wirbelt sie herum.

Davon geht die Welt nicht unter …“ ist das Letzte, was sie hört.

„Na toll!“, schnauzte Karl, als er mit seinen frisch polierten Schuhen aus dem Rand der Blutlache stakte, „Die hatte ich gerade geputzt.“

Der Schutzpolizist neben ihm sah ihn entgeistert an, dann wanderte der Blick des Mannes zurück zu der grässlich entstellten Frauenleiche, die gefesselt an mehreren Flaschenzügen und einem Schwenkarm unter der Decke des Bootshauses hing.

„Ach, ignoriere den Kron. Unser Schönling hat halt nichts Besseres zu tun, als sich über Blutspritzer auf seinen Schuhen auszulassen, egal was um ihn herum passiert“, kommentierte ein zweiter Schupo, der einige Schritte entfernt auf dem Boden kniete.

„Es kann ja nicht jeder wie ein Lump daherkommen“, fauchte Karl und griff dabei instinktiv nach dem Kamm in seiner rechten Gesäßtasche, um ihn anschließend durch sein schwarzes, mit Pomade frisiertes Haar zu ziehen und eine widerspenstig abstehende kleine Strähne an ihren Platz zu verweisen.

,Diese naiven Vollidioten von der Inspektion E, wieso muss man sich als höherer Beamter nur mit solch einem Volk herumärgern?‘, dachte er sich.

Er legte nun einmal pedantischen Wert auf sein Äußeres. Die dunklen Anzüge mussten stets akkurat gebügelt, die dazu passenden Schuhe am Glänzen, die schwarzen Haare fein säuberlich nach hinten gekämmt sein. Selbstverständlich vervollständigten eine schmale Krawatte und eine passende Anzugweste das Erscheinungsbild.

Ohne sein silbernes Zigarettenetui und seinen Kamm verließ Karl nie die Wohnung – nur für den Fall, dass doch einmal eine Strähne nicht dort saß, wo sie hingehörte, wie eben gerade jetzt.

Den Damen gefiel sein Auftreten. Zumindest konnte er sich nicht beklagen, was seine Erfolgsquote in diesem Bereich anging.

Karl ließ die Schutzpolizisten stehen und wandte sich aus sicherer Entfernung der Leiche zu. Die Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht, und jedem war klar, dass im Inneren kaum ein Knochen mehr ganz sein konnte. Zudem bildeten mehrere tiefe Stich- und Schnittverletzungen ein bizarres Muster auf dem bleichen Körper.

„Das gibts doch nicht. Noch ein Opfer. Die Misshandlungen und das Aufhängen des Körpers – das habe ich doch gestern erst an einem anderen Tatort gesehen“, murmelte Karl.

Er hatte schon kein gutes Gefühl gehabt, als er und seine Kollegen von der Mordkommission in den Spandauer Norden gerufen worden waren, denn gerade mal zwölf Stunden zuvor hatte er vor einer ähnlich zugerichteten Leiche gestanden. Was er nicht wusste: Das war erst der Anfang…

 
***

„Meine Herren, vielen Dank für Ihr pünktliches Erscheinen. Bitte setzen Sie sich.“

Müller bot dem anwesenden Direktor des Präsidiums eilig einen Stuhl an.

,Dieser Molch. Vorauseilender Gehorsam und bei der Obrigkeit schleimen, aber nach unten treten‘, dachte sich Karl. ,Eigentlich hat sich seit der NS-Zeit nicht gerade viel verändert.‘

„Ruhe, bitte! Zunächst begrüße ich Direktor Doktor Emil Wunst, der wegen der Brisanz des Falles heute bei unserer Sitzung zugegen ist. Ich habe diese außerordentliche Dienstbesprechung einberufen, weil sich durch die gestern sichergestellten Spuren am Tatort und die Obduktionsergebnisse von Doktor Jansen bestätigt hat, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben. Beide noch unbekannten Opfer sind weiblich und zwischen 25 und 30 Jahren alt. Durch etliche Knochenbrüche, Stich- und Schnittverletzungen, wie auch durch massive stumpfe Gewalteinwirkung, trat der Tod nur langsam ein. Sexuelle Handlungen sind laut Aussage der Gerichtsmedizin nicht vorgenommen worden. Die Opfer wurden an Händen und Füßen gefesselt und an Flaschenzugkonstruktionen unter der Decke hängend an den jeweiligen Tatorten aufgefunden. Dabei handelte es sich im gestrigen Fall um ein altes Bootshaus im Spandauer Norden, beim ersten Tatort um einen alten Schuppen in Gatow. An beiden Tatorten konnten Schellackplatten mit Kriegsschlagern sichergestellt werden. Es wird daher die Sondereinheit Strippenzieher gebildet, die mit dem Fall betraut wird. Sie wird aus Kriminalkommissar Karl Kron, Kommissaranwärter Heinz Sellin und den Schutzpolizisten Hans Geiger und Detlef Sauerfeldt bestehen. Jegliche Ermittlungsergebnisse sind mir unverzüglich mitzuteilen. Sie bekommen Einsatzfahrzeuge gestellt. Kommunikation mit der Presse erfolgt ausschließlich über mich. Noch Fragen?“

Einstimmig erklang im Saal: „Nein, Herr Kriminalrat Müller!“

Damit war die Sitzung beendet.

Die Ernennung Karls zum Sokoleiter war für alle insofern keine Überraschung, da Eberhard Müller, trotz seiner Abneigung gegen den Kriminalkommissar, ihm dessen Qualitäten als Ermittler nicht absprechen konnte. Die Brisanz des Falles und das Interesse allerhöchster Stellen, in Form von Direktor Wunst, übten zusätzlichen Erfolgsdruck auf den Kriminalrat aus. Aber nicht nur deshalb biss dieser in den für ihn sauren Apfel und übertrug Karl die Verantwortung – falls die Aufklärung nämlich scheiterte, könnte er seinem verhassten Kommissar die Schuld dafür in die Schuhe schieben, um damit seinen eigenen Posten zu retten.

Doch Karl ärgerte sich auf dem Weg in sein Büro aus ganz anderen Gründen über seinen Chef. Wieso musste er ihn ausgerechnet mit Hans Geiger zusammen in eine Soko stecken? Sie beide waren in der Vergangenheit immer wieder heftig aneinandergeraten. Geiger hatte Karl sogar schon mal um eine Beförderung gebracht – dieser aufgeblasene Tunichtgut.

Normalerweise hätte solch ein kleines Licht schon längst seinen Hut bei der Polizei nehmen müssen. Wer jedoch den Kriminalrat höchstpersönlich hinter sich hatte, konnte sich eben mehr Schnitzer erlauben als die anderen. Aber Karl war nicht unvorbereitet …

Er wollte für den Fall der Fälle etwas gegen seinen Widersacher in petto haben. Wozu arbeitete der beste Freund schließlich bei der Sitte?

Und es sollte auch nicht lange dauern, bis seine Vorsicht belohnt wurde.

„Kriminalkommissar Kron. Was für eine Freude, wieder für Sie tätig sein zu dürfen. Als Chef unserer Einheit haben Sie mit Sicherheit schon eine Idee, wo wir mit unserer Arbeit beginnen wollen.“

Feist griente Hans Geiger Karl unverhohlen ins Gesicht, zog die Lippe hoch, bleckte die Zähne und nahm Haltung an.

Sellin und Sauerfeldt hatten gerade den Sitzungssaal verlassen und näherten sich dem Duo im Gang, waren jedoch noch außer Hörweite.

Karl lächelte zurück und beugte sich leicht vor: „Jetzt hör mir mal zu, Geiger. Ich bin Karl Julius Wilhelm Kron. Beginnend mit dem Namen des ersten Kaisers und endend mit dem des letzten.

Leg‘ dich nicht mit mir an, sonst lasse ich unserem Direktor eindeutige Beweise über pornografischen Besitz und Mitwirkung an der Erstellung von Schmuddelbildern zukommen. Und ich verspreche dir, dass dich selbst Müller dann nicht mehr retten kann. Also kooperiere oder stell‘ dich auf deine unehrenhafte Entlassung ein.“

Geiger, der genau wusste, worauf Karl anspielte, entglitten die Gesichtszüge. Die Bilder von nackten Frauen in eindeutigen Posen waren alt, doch sie durften auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen, wenn ihm seine Karriere lieb war. Schließlich war es nicht gerade schwer, den jungen Komparsen zu identifizieren, der genau an den richtigen Stellen Hand anlegte.

Zähneknirschend kam ein „Jawohl, Herr Kriminalkommissar!“ über seine Lippen, als sich die restlichen beiden Mitglieder der Sonderheit gerade hinzugesellten.

„Na geht doch. Warum nicht gleich so, Herr Geiger? Wir beginnen mit der erneuten Recherche in den Vermisstenmeldungen, da es sonst noch keine Anhaltspunkte gibt, die zur Identifizierung der Toten beitragen könnten. Opfer führen bekanntermaßen zu einem Muster und das letztendlich zum Mörder. Gleichzeitig werden wir uns die Spuren vornehmen, die uns bereits vorliegen.

Geiger und Sauerfeldt werden die Vermisstenanzeigen und auch die Fingerabdrücke mit den entsprechenden Karteien abgleichen, vielleicht finden Sie eine Übereinstimmung. Sellin, Sie übernehmen die am Tatort gefundenen Haarproben und lassen die mikroskopisch untersuchen.

Außerdem möchte ich, dass Sie mir sämtliche Fälle, in denen es im Stadtgebiet zu Tiermisshandlungen oder -tötungen kam, vorlegen.“

Geiger begann, eine Katze zu imitieren und versuchte, eine angedeutete laszive Kratzbewegung mit einem geflüsterten „Miau“ zu untermalen.

„Verdammt, findest du das etwa lustig, Geiger? Es geht hier um Tötungsdelikte!“

„Darf man nicht mal ein bisschen Spaß bei der Arbeit haben?

Haben doch sonst nichts zu lachen hier, Herr Kommissar.“

„Du bist …“, begann Karl.

„Mit Verlaub, aber was haben denn Misshandlungen von Tieren mit unserem aktuellen Fall zu tun?“, fragte Sellin.

Die anderen setzten ebenfalls einen neugierigen Blick auf.

„Ist nur eine Vermutung, aber wenn jemand einen Menschen derart gewaltsam zu Tode bringt, dann hat er seine Schnittführung eventuell vorher an anderen Lebewesen perfektioniert. Ich werde mit dem Dienstfahrzeug diverse Waffengeschäfte abfahren, um mehr über die mögliche Tatwaffe zu erfahren. Antritt morgen in meinem Büro neun Uhr.“

***

Das neue, getupfte Petticoatkleid saß wie angegossen und betonte ihre weibliche und zugleich äußerst sportliche Figur. Auch bei genauerem Hinsehen wäre niemandem aufgefallen, dass sie es sich aus alten Stoffresten selbst genäht hatte. Die dunklen schulterlangen Haare hatte sie sich zu sanften Locken eingedreht und eine Tolle an der Seite mit Haarnadeln festgesteckt. Ihr roter Mantel hing über ihren Schultern, die sich merklich entspannten, als der braune Ford Taunus Spezial um die Ecke bog.

Karl hielt am Straßenrand, stieg aus und hauchte Hilda einen Kuss auf die Wange. 

„Du siehst wunderbar aus“, raunte er ihr ins Ohr und öffnete die Beifahrertür.

Sie ließ sich auf die gepflegten Lederpolster gleiten, strich das Kleid glatt und legte die Handtasche auf ihren Schoß. Karl stieg ebenfalls ein und ließ den Motor an.

Nach dem Tag wollte er jetzt einfach den Kopf freibekommen. Da konnte sein Chef toben, wie er wollte. Die Verabredung mit Hilda hatte nun Vorrang.

„Ich hoffe, du hast Lust, mit mir tanzen zu gehen. Das passende Kleid hast du ja schon an“, grinste Karl schelmisch und bot Hilda eine Zigarette an.

Dankend lehnte sie ab, lächelte jedoch zurück und sagte: „Gern teste ich dein tänzerisches Können.“

Sie fuhren los und Karl stellte das Radio an. 

Es lief der Hit des Jahres – Blue Tango von Leroy Anderson.

Hilda schaute aus dem Fenster und grübelte. Eine Straßenbahn rumpelte dahin, immer mal wieder tauchten Häuserruinen auf. Kleine Verkaufsbuden, die aus Trümmerresten zusammengeschustert waren, bestimmten viele Straßenzüge und hier und da konnte man Einschusslöcher im Putz erkennen. Die Wunden des Krieges waren noch allgegenwärtig. Auch in den Köpfen der Menschen, obwohl niemand darüber sprach. Sollte sie Karl wirklich um Hilfe bitten?

Kaum waren sie an dem neu eröffneten Bio-Filmtheater vorbeigefahren, bogen sie ab und hielten vor dem Corner Café. Der Laden war wie immer gut besucht. Junge Frauen unterhielten sich angeregt mit britischen Soldaten, Musik lief, die Luft war rauchgeschwängert, und die ersten Paare schwangen bereits das Tanzbein.

„Ladies fiiiiiirst“, lallte am Eingang ein sichtlich angetrunkener Offizier mit Zigarre im Mund.

„Wat sacht der? Frauen aufs Dach?“, grinste Karl.

„Na, das lassen wir ma lieber bleiben.“ Hilda musste lachen.

Karl ergriff ihre Hand. „Komm. Lass uns reingehen.“

Sie lächelte und folgte ihm in das mit hellem Holz getäfelte Café. 

Die kleine Tanzkapelle, bestehend aus Kontrabass, Schlagzeug, Gitarre und Gesang, heizte der Menge bereits mit Swing-Stücken mächtig ein. Karl erwies sich als hervorragender Tänzer, hatte er doch schon in jungen Jahren eine Tanzschule besucht. Mit eisernem Griff führte er sie gekonnt über das Parkett. Nach drei Liedern fanden sie ein Plätzchen in der hintersten Ecke.

„Möchtest du etwas trinken, Hilda?“

„Einen Cognac bitte.“

Nun musste sie doch eine Zigarette rauchen und griff in ihre Handtasche.

Nervös zog sie an der Eckstein und kontrollierte noch einmal ihr Makeup in ihrem Handspiegel. Alles perfekt. Als Karl mit den Getränken zurückkehrte und sich setzte, lächelte sie etwas verkniffen.

„Geht es dir gut?“, fragte er und sah sie besorgt an.

Offensichtlich hatte sie ihre Gesichtszüge nicht so unter Kontrolle, wie sie sich das für diesen Abend vorgenommen hatte. „Ja, wieso?“

„Du zitterst ein bisschen, obwohl es hier drinnen alles andere als kalt ist. Außerdem habe ich bemerkt, dass du den ganzen Abend über irgendwie abwesend bist.“

„Oh, nun ja, also …“ 

Sie griff zu ihrem Getränk und stürzte das Glas in einem Zug hinunter. 

Lügen hatte sie noch nie gut gekonnt und sie bereute es fast, die Verabredung mit Karl nicht abgesagt zu haben. Was, wenn er die Sache nicht ernst nahm?

„Hilda, wir kennen uns zwar noch nicht lange, aber ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.“

Sie holte tief Luft, zog noch mal an ihrer Zigarette.

Auch Karl hatte bereits seinen Doornkaat ausgetrunken und zündete sich eine Overstolz an.

„Ich mache mir Sorgen um meine Freundin Bärbel“, begann sie.

Bei Karl schrillten sofort alle Alarmglocken.

Fotos: Buchcover (Quelle: periplaneta), Autorenfoto (Quelle: RingFoto Fehse)

Die Webseite: https://vannevanares.wixsite.com/vannevanares

Mehr zum Buch:

Erhältlich bei https://www.periplaneta.com/Produkt/genre/berlin-inside/der-marionettenmacher/

periplaneta Verlag und Medien

Edition Totengräber

print ISBN: 978-3-95996-266-7

ePub ISBN: 978-3-95996-267-4

Genießt den Sommer bis zum Sch(l)uss. Und noch darüber hinaus


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Ich freu mich über eure Rezensionen!

Habt eine spannende Zeit!

Eure Marie Bastide

MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Kommt Zeit, kommt Rat

von Roswitha Zatlokal

Kommt Zeit, kommt Rat von Roswitha Zatlokal

Widerwillig betrat Otto das Lokal. Ihm war sofort klar, warum Regina ausgerechnet dieses Schickimicki-Restaurant ausgesucht hatte. Er hasste diese eingebildeten Deppen, die in derartigen Lokalitäten verkehrten, und das wusste sie. „Zieh dir gefälligst was Anständiges an“, hatte sie ihn am Telefon noch angekeift. Als ob er nicht immer ordentlich angezogen wäre. Nur weil er kein Anzugträger war, hieß das noch lange nicht, dass er sich nicht zu kleiden wusste. Hoffentlich war dieser Zirkus bald vorbei. Diese Frau brachte ihn noch ins Grab.

Suchend sah er sich um. Ein Kellner watschelte schnurstracks in seine Richtung. Sein Auftreten eine Spur zu hochnäsig, die angedeutete Verbeugung beinahe widerwillig ausgeführt. Herablassend fragte er: „Sie wünschen, der Herr?“

„Ich werde erwartet. Von Frau Mittergruber Regina, um genauer zu sein.“ Otto sah über die Schulter des Kellners. „Ah, da hinten sitzt sie ja und winkt mir zu. Danke.“ Er streifte den Kellner im Vorbeigehen an der Schulter, entschuldigte sich jedoch nicht. Forschen Schrittes ging er auf Reginas Tisch zu. „Wieso hier in diesem Restaurant? Und warum jetzt? Und wie bist du überhaupt an die Reservierung gekommen, wartet man hier nicht wochenlang auf einen Tisch? Ich übernehme mit Sicherheit nicht die Rechnung, meine Liebe.“

„Freut mich auch, dich zu sehen, mein Lieber.“ Sie erhob sich. Angedeutete Küsschen links rechts wurden an seinen Ohren vorbeigehaucht, seine Hände von ihren gedrückt. „Komm, schau nicht so grantig. Setz dich.“

„Was willst du?“ Er traute dem plötzlichen Frieden nicht. „Geht es um die Scheidung? Das Haus? Das Auto?“

„Aber nicht doch, mein Lieber, nichts dergleichen. Ich hab nachgedacht. Alles, was ich will, ist Theo. Sonst nichts.“

„Theo?“ Er spürte die Bleiche in seinem Gesicht aufsteigen, Schwindel ergriff ihn. „Wieso Theo. Du weißt genau, wie viel er mir bedeutet.“

„Schau, ich liebe Theo doch auch. Im Gegenzug verzichte ich auf alle deine Reichtümer.“ Sie zeichnete bei ihrem letzten Wort Entenfüßchen in die Luft. „Sogar auf die mir zustehenden.“ Betont milde lächelte sie, zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

„Ich verstehe nicht ganz. Wieso? Du hast doch bis vorige Woche um jeden Cent gestritten. Ist es, weil du mein Elternhaus nicht kriegst?“

„Ach, komm. Das hab ich doch nur gesagt um dich zu ärgern. Wer will schon dieses alte Haus? Werde doch glücklich damit. Ich habe alles schon geplant. Ich ziehe nach unserer Scheidung zu meiner Schwester nach Spanien, brauche also deinen ganzen Krempel überhaupt nicht. Aber Theo würde ich gerne mitnehmen. Er gehört schließlich nicht nur dir. Wir haben ihn gemeinsam zu uns geholt, falls du dich noch daran erinnerst, mein Lieber.“

„Im Adoptionsvertrag steht aber mein Name.“ Seine Augenbrauen zogen sich unwillkürlich zusammen, die Ader auf seiner Stirn pochte. Er hasste es, wenn er so reagierte. Regina brauchte ihn nur anzusehen, und sie wusste, wie es um ihn stand.

„Otto, Theo ist doch nur ein Hund. Du kannst dir einen anderen aus dem Tierheim holen.“ Sie lächelte zuckersüß.

„Nur ein Hund? Nur ein Hund?“ Seine Stimme überschlug sich beinahe. Die anderen Gäste reckten ihre Hälse. Empörte Blicke wegen der mittäglichen Ruhestörung und aufgeregtes Murmeln waren die Folge seines Ausbruches. Besänftigend hob er die Hände und deutete eine Verbeugung in sämtliche Richtungen an. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, sich in der Öffentlichkeit zu streiten. Er durfte nichts tun, was ihr bei der Scheidung in die Hände spielte.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen …“

„Warum um Teufels Namen holst DU dir nicht einfach einen anderen Hund? Wieso möchtest du unbedingt Theo?“

„Dasselbe habe ich eben zu dir gesagt, mein Lieber.“ Freundlich lächelte sie ihn an.

Sie beobachtete wie er an seinem Hemdkragen zerrte. Jetzt hatte sie ihn genau da wo sie ihn haben wollte. Aufgebracht, polternd und am Rande eines Herzinfarkts. Ein Riese von einem Mann, der wegen eines kleinen Hundes jämmerlich einknickte und vor Verzweiflung am liebsten losgeheult hätte. Insgeheim kicherte sie in sich hinein. Er war so herrlich einfach gestrickt, so berechenbar. Ihn zu manipulieren bereitete ihr eine Mordsfreude.

„Niemals. Nur über meine Leiche“, keuchte er mit hochrotem Gesicht. „Theo ist alles für mich.“ Er griff sich an die Brust. „Du miese kleine …“ Er röchelte.

„Ja, ja. Aber hier trink erst einmal einen Schluck Wasser. Du kriegst ja noch einen Herzinfarkt, wenn du so weitermachst. Ich weiß, Theo erinnert dich an deinen Strolchi aus Kindheitstagen, der für dich gestorben ist, indem er dich von der Straße weggezogen hat, um dich vor einem Auto zu retten. Aber Theo ist nicht Strolchi. Hol dir einen ähnlich aussehenden Hund und gib mir Theo. Dann siehst du mich nie wieder.“

Er griff mit zitternden Händen nach dem Glas, stürzte den Inhalt hinunter. Dann nestelte er eine Packung Tabletten aus seiner Jackentasche. „Los, gib mir noch ein Glas Wasser.“ Sie füllte das Glas nach und sah ihm zu, wie er zwei Tabletten aus der Schachtel nahm und mit dem Wasser einnahm. „Niemals! Du kriegst Theo niemals. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen! Er sprang auf, der Stuhl kippte polternd zu Boden. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, meine Liebe.“ Als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte er aus dem Lokal. Entschuldigend nickte Regina in die Runde. Mitfühlende Blicke streiften sie. Regina deutete dem Kellner, die Rechnung zu bringen.

„Nicht doch, meine Liebe. Ich übernehme das für Sie. Dieser Rüpel hat sie doch tatsächlich mit der Rechnung sitzen gelassen, Menschen gibt`s.“ Der Herr vom Nebentisch gab dem Kellner ein Zeichen, alles auf seine Rechnung zu schreiben.

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen.“ Regina nickte höflich und verließ hocherhobenen Hauptes das Restaurant.

„Was haben wir?“ Major Stettel von der Mordkommision stopfte sich den Rest seiner Leberkässemmel in den Mund und schaute seinen Kollegen Meierhofer, der bereits in einem kleinen Park auf ihn wartete, erwartungsvoll an.

„Gute Frage. Männliche Leiche, Mitte fünfzig, keine äußeren Verletzungen. Gefunden wurde er von der Dame dort drüben. Anfangs dachte sie, er schlafe hier seinen Rausch aus. Als sie ihn nicht wachbekam, hat sie sofort die Rettung und die Polizei verständigt.“

„Und wieso bin ich hier?“ Stettel dachte an die zweite Leberkässemmel im Auto, die er noch gerne gegessen hätte, solange der Leberkäse noch heiß war.

„Weil es auch dein Job ist, hier zu sein. Fürchtest du dich neuerdings vor Tatorten?“

„Quatsch. Aber ein Toter ohne jegliche Gewaltanwendung kann auch bis morgen auf mich warten. Oder schaffst du den nicht alleine? Was sagt denn unser Medikus?“

„Erst wenn der Mann auf seinem Tisch war, kann er mehr sagen.“

„Also wie immer. Gut, dann geh ich wieder zu meiner Leberkässemmel.“

Seufzend sah ihm Meierhofer nach. Stettel war der unmotivierteste Kollege, mit dem er jemals zusammengearbeitet hatte. Welch ein Glück, dass Stettel in drei Wochen in Pension ging.

„Meine Lieben, der Doc sagt, Euer Toter vom Park hatte es mit dem Herzen. Möglich, dass er wegen der Herzattacke panisch wurde und sich zu viele Medikamente eingeschmissen hat. Ihr wisst ja, wenn das Herz rast, sich vielleicht sogar der Hals zuschnürt und man nach Luft schnappt …Aber das müsst ihr herausfinden.“ Inspektor Gruber legte einen Akt auf Meierhofers Schreibtisch.

„Also nix mit Mord. Wie ich es mir ja gleich gedacht habe.“ Stettel grinste selbstgefällig.

„Zumindest auf den ersten Blick, sagt der Doc.“ Gruber stibitzte sich einen Keks von Stettels Schreibtisch. „Ich soll dir übrigens ausrichten, dass du deinen Leberkässemmel-Konsum ein wenig einschränken sollst, deine Blutfette sind nicht gerade ohne.“

„Was zum Teufel gehen dich meine Blutfette an? Hat der Doc nicht so was wie Verschwiegenheitspflicht?“, grantelte Stettel. „Da bittet man ihn um eine Kleinigkeit, und der macht das gleich in der ganzen Abteilung publik.

„Selber schuld, wenn du in die Patho gehst statt zum Hausarzt.“ Meierhofer schüttelte missbilligend den Kopf.

„Ich wollte doch nur Elvira beweisen, dass alles in Ordnung ist.“

„Oh, hat die Frau Gemahlin bemerkt, dass du von ihrer gesunden Jause nicht so zugenommen haben kannst und Euer Hausarzt ihr das stecken könnte?“, feixte Gruber.

Meierhofer griff nach seiner Jacke. „Du, ich möchte trotzdem nochmal mit der Frau von unserem Toten reden. Die hat das doch sehr gefasst aufgenommen, das mit seinem plötzlichen Tod. Findest nicht auch?“

„Die leben schließlich getrennt, wollten sich scheiden lassen. Warum sollte sie sein Tod da noch erschüttern? Hat sie nicht gesagt, dass sie nach der Scheidung zu ihrer Schwester nach Spanien ziehen wollte?“

„Hat sie. Aber was heißt das schon?“

„Frau Bogner, Ihr Mann hatte es mit dem Herzen?“ Meierhofer zückte Bleistift und Notizblock und sah sie erwartungsvoll an. Stettler seufzte insgeheim. Dass Meierhofer immer so eine Getue veranstalten musste. Der guckte echt zu viele Krimis im Fernsehen.

„Ja, das sagte ich Ihnen ja schon. Und auch, dass er sich bei unserem Gespräch furchtbar aufgeregt hat. Es war eine derart peinliche Situation, einfach nur furchtbar.“

„Wir haben im Lokal nachgefragt. Ihre Aussage wurde uns bestätigt. Aber nochmals, nur damit ich es auch verstehe: Ihr Mann hat sich wegen ihrem Hund Theo so aufgeregt?“

„Ja. Ich wollte Theo mitnehmen ins sonnige Spanien. Das hat ihn total aufgebracht. Plötzlich wollte er den Hund behalten und mir im Gegenzug sogar sein Elternhaus überschreiben. Aber der Herr vom Nebentisch hat das ja alles mitangehört. Leider.“

„Nun, das mit Theo hat er mitbekommen. Aber ob ihr Mann ihnen das Haus überschreiben wollte, konnte er nicht bestätigen. Obwohl die Worte Haus und Vermögen gefallen sind, sagt er. Auch hat er gesehen, dass ihr Mann etwas einnahm.“

„Ja, auch das sagte ich Ihnen schon. Seine Medikamente. Aber was wollen Sie jetzt von mir?“

„Laut ihrem Hausarzt Doktor Pichler war ihr Mann doch schon seit zehn Jahren krank und wusste genau umzugehen mit seinen Medikamenten. Wieso also hat er sich dieses Mal wohl bei der Dosierung vertan?“

„Sie fragen mich das im Ernst? Ich meine, ich war doch nicht ständig bei ihm. Woher soll ich das denn wissen?“ Regina zog ihre Augenbrauen derart hoch, dass Stettler befürchtete, sie würden ihr am Haaransatz kleben bleiben.

„Wer alles hatte Zugang zu den Medikamenten?“ Meierhofer ließ nicht locker. Stettler verfluchte ihn dafür. Er könnte jetzt friedlich im Büro bei einem Kaffee sitzen und sich im Internet die Wiederholung des gestrigen Fußballspieles ansehen, welches er versäumt hatte. Er hatte extra keine Zeitung gelesen und keine Nachrichten gehört, damit er das Ergebnis nicht kannte. Aber nein, sein Herr Kollege musste ja nachfragen. Wenn der sich wo festgebissen hatte, gab es kein Erbarmen.

„Auch das kann ich Ihnen nicht sagen, da ich bereits seit Wochen nicht mehr im Haus wohne. Ich hatte doch nicht einmal mehr einen Schlüssel dafür.“

„Aber sie wollten doch gar nichts, sagten sie.“

„Ach du meine Güte. Haben Sie sich noch nie getrennt? Da sagt und tut man Dinge, die man gar nicht so meint und im Prinzip auch gar nicht machen möchte. Hören Sie, wenn Sie mich jetzt nicht bald in Ruhe lassen, rufe ich meinen Anwalt an. Ich fühle mich schikaniert.“ Sie verschränkte die Arme und schaute ihn böse an.

„Wann fliegen Sie nach Spanien?“ Stettler wollte das Thema wechseln. Auch ihm ging Meierhofer mittlerweile gründlich auf die Nerven.

„Ich weiß es noch nicht. Es gibt noch so viel zu erledigen. Die Beerdigung und die Verlassenschaftsangelegenheiten. Keine Ahnung.“

„Sie wandern also trotzdem noch aus?“ Meierhofer konnte es einfach nicht lassen.

„Ich weiß es noch nicht. Würden Sie jetzt bitte gehen?“

„Eine Frage noch“, Meierhofer kratzte sich am Kopf. „Was wollte Ihr Mann wohl in dem Park?“

„Vielleicht sich beruhigen, was weiß ich! Wahrscheinlich ist er rausgerannt aus dem Restaurant und hat sich dort auf diese blöde Bank gesetzt, um sich zu beruhigen.“

„Was war das gerade? Wieso schikanierst du die Frau so? Ich meine, wie soll die Schuld am Tod ihres Mannes sein? Indem sie mit ihm gestritten hat?“, giftete Stettler, kaum dass sie vor dem Haus standen.

„Da stinkt doch was. Ich mein, die bestellt ihn in dieses schicke Lokal, streitet mit ihm, und dann fällt der einfach tot um?“ Meierhofer schüttelte den Kopf. „Das stinkt, sag ich dir.“

„Nein, er ist gestorben, weil er sauwütend war und sich dadurch sein Zustand derart verschlechterte, dass er in Panik zu viele Medikamente zu sich nahm. Das ist ein großer Unterschied, mein Lieber. Nicht alle Witwen haben ihre Männer umgebracht.“

Am Tag der Beerdigung beobachtete Meierhofer griesgrämig aus einiger Entfernung  die Trauerzeremonie. Es ärgerte ihn maßlos, dass der Leichnam trotz seines Protestes freigegeben worden war. Stettler, dieser verfressene Faulpelz, hatte dem Staatsanwalt bestätigt, dass es keinerlei Indizien für einen gewaltsamen Tod gab. Die Witwe veranlasste natürlich sofort eine Feuerbestattung. Hätte er auch gemacht an ihrer Stelle. Einen verdammten Tag mehr hätte es gebraucht, und dieser Vollpfosten wäre in die Pension verabschiedet gewesen. Meierhofer schüttelte verärgert den Kopf.

Erleichtert und mit sich zufrieden stieg Regina vor ihrem Haus aus dem Taxi. Mit dem Wissen, wie es um Otto stand, war alles ein Kinderspiel gewesen. Aufregungen taten ihm nicht gut. Aufregungen am laufenden Band waren mittlerweile lebensbedrohlich für ihn. Ihn zu ärgern war nicht schwer gewesen. Otto kochte schon immer leicht über, geriet wegen Kleinigkeiten in Rage. Ihn dann auf diesem Level zu halten, war das reinste Kinderspiel, je länger sich die Scheidungsgeschichte hinzog. Theo ins Spiel zu bringen, war ihr Meisterstück. Niemals hätte er freiwillig auf seinen geliebten Hund verzichtet. Niemals! Sie grinste zufrieden und schloss die Tür auf.

„Frau Bogner?“ Eine Männerstimme brachte sie zum Innehalten. Langsam drehte sie sich um. Es war der nette Mann aus dem Restaurant, der ihre Rechnung übernommen hatte.

„Ja?“ Misstrauisch beäugte sie ihn.

„Ich denke, wir haben einiges zu bereden.“

„Wir? Ach, wegen der Rechnung vom Restaurant? Wollen Sie das Geld zurück?“

„Geld will ich schon, aber nicht für die Restaurantrechnung. Das wäre doch unehrenhaft, das Geld jetzt von Ihnen zurückzuverlangen, finden Sie nicht auch?“

„Aber, was wollen Sie denn dann von mir?“

„Nun, ich habe alles gesehen. Sie wissen schon, die Tabletten in der Wasserkaraffe, die Sie dann nach all der Aufregung aus Versehen umgeschüttet haben und das alles.“

Verdammt, dieser Mistkerl! Ob er bluffte? „Ich weiß zwar nicht wovon Sie reden, aber kommen Sie doch erst einmal herein.“ Regina hielt ihm freundlich die Tür auf. Nur nicht aufregen, Regina, dachte sie bei sich. Wie hat Großmutter schon immer gesagt? Kommt Zeit, kommt Rat. Sie lächelte und schloss die Tür hinter sich.

Mehr über Roswitha Zatloka findet Ihr hier https://www.roswithazatlokal.com

MiniKrimi Adventskalender am 18. Dezember


Dieser MiniKrimi beruht auf einer ähnlichen Begebenheit, die meine Freundin L. kürzlich erlebt hat.

Familienbande

Je näher es auf Weihnachten zugeht, desto unbehaglicher fühlt sich Agatha in ihrer Wohnung. Ihrem Haus. Ihrer Haut. Nicht einmal ihrem Kater Sylvester gelingt es, sie aufzuheitern. Bei Meyers in der Wohnung nebenan wird am Wochenende Besuch erwartet. Er schleppt Korb um Korb mit Einkäufen herbei. Nicht etwa Aldiware, nein, Agatha hat ganz deutlich die Tüten von Dallmayer und Käfer gesehen. Sicher kommen die Tochter und ihr Lebensgefährte. Der ist irgendein höheres Tier in Berlin. Daher die Schlemmereien. „Es wird ihnen nichts nützen“, weiß Agatha aus Erfahrung. Spätestens nach der Bescherung wird der Streit eskalieren, und die Tochter wird türenknallend die elterliche Wohnung verlassen. Mit Mann und Geschenken, natürlich.

Swobodas in der Etage über Agatha haben heuer jeden Zentimeter ihres Eckbalkons mit Leuchtgirlanden, blinkenden Rehen, einem fassadenkletternden Weihnachtsmann und, tatsächlich, einem am Geländer bis zu Agathas eigenem Balkon reichenden fliegenden Rentierschlitten dekoriert. Schlimmer kann es im Amsterdamer Rotlichtbezirk auch nicht leuchten.

Und so geht es weiter. Die Nachbarn zur Linken und zur Rechten, oben und unten bereiten sich alle auf ihre ganz eigene Weise auf Weihnachten vor. Gemeinsam ist ihnen nur eines: sie posaunen ihre Vorfreude grell und laut in die Welt hinaus. Agatha kann ihre Ohren und Augen nicht davor verschließen. Und auch nicht ihr Herz. Es sagt ihr ganz deutlich, dass sie auch dieses Jahr wieder alleine in ihren vier Wänden sitzen wird, zweieinhalb trübe Tage lang, während rund um sie herum der Bär in Gestalt von Heerscharen verwandter oder befreundeter Besucher tobt. Denn sie, Agatha Höllbeiner, hat niemanden, auf den sie sich freuen könnte. Also niemanden, der oder die sie sehen möchte. Besuchen. Anrufen. Leider!

Wie von Zauberhand berührt klingelt in diesem Moment Agathas Telefon. Festnetz. Sie hat kein Handy, geschweige denn ein Smartphone. Und sie weigert sich auch standhaft, sich mit dem Internet zu beschäftigen. „Dann wärst du jedenfalls nicht mehr so alleine,“ sagt ihre Bekannte – als Freundin mag Agatha sie nicht bezeichnen – Ingeborg aus dem Bibelkreis. Sie treffen sich dort einmal die Woche zum gemeinsamen Bibellesen. Und manchmal auch sonntags im Gottesdienst. Aber zu Weihnachten hat Ingeborg ihre Kinder zu Besuch. Daran, Agatha einzuladen, hat sie nicht gedacht. Und Agatha hat es auch nicht erwartet. Jeder und jede lebt eben sein oder ihr Leben in festen Bahnen. Und wann sich diese Wege kreuzen, ist ebenso präzise festgelegt. Wo käme man denn sonst hin?

„Hallo? Agatha Höllbeiner?“ Sie meldet sich immer mit ihrem Namen. Obwohl ein netter Herr von der Polizei in der Sendung „Vorsicht Falle“ gesagt hat, dass man das nicht tun dürfe. Generell nicht, und als allein lebende ältere Person schon gar nicht. Aber Agatha empfindet es als unhöflich, sich dem Anrufer oder der Anruferin nicht vorzustellen.

„Hallo?“ Eine männliche Stimme. Deutsch. Vielleicht mit einem ganz leichten bayerischen Akzent.

‚Ja. Höllbeiner. Wer spricht?“ Stille. Dann, zögernd:

„Agatha? Bis du das?“ Pause. „Mutter? Mama? Mami?“

Agathas Herz schlägt auf einmal bis zum Hals. Das kann doch gar nicht sein! Und dann auch noch so kurz vor Weihnachten! Sie atmet tief, schluckt, hält nochmal kurz die Luft an und fragt dann: „Justus? Bist du das? Wirklich?“

„Ja. Ja, Mami. Ich bin’s. Entschuldige, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe…..“

„So lange? 10 Jahre, 5 Wochen und drei Tage.“

„Was soll ich sagen? Es tut mir leid! Ich weiß, es gibt keine Entschuldigung. … Aber….“

„Ja?“

„Ich war auf dem Weg zu dir. Von Hamburg. Da wohne ich. Ich bin schon fast in München.“

„Wie schön.“

„Ja, das finde ich auch. Aber dann ist etwas Schreckliches passiert, Mami.“

„Oh Gott!“

„Ja. Weißt du, ich saß so im Auto, und dann kamen die Erinnerungen an dich. Und plötzlich musste ich weinen.“

„Ach, Justus….!“

„Und durch die Tränen konnte ich nicht genau sehen. Und dann…“

„Hast du einen Unfall verursacht?“

„Ja! Woher weißt du das?“

„Was soll es denn sonst gewesen sein“, sagt Agatha vielleicht ein bisschen schroffer, als sie es vorgehabt hatte. Deshalb setzt sie nach: „Ich meine, was sonst könnte so schrecklich sein?“

„Genau. Also es ist niemand verletzt worden.“

„Gottseidank. Ihr habt doch sicher die Polizei geholt? Dann kannst du ja bald weiterfahren. Wann bist du hier?“

„Ach, Mami. das ist jetzt wirklich ein Riesenproblem. Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll…“

„Justus, wir haben doch auch früher nie Geheimnisse voreinander gehabt. Also. Schieß los!“

„Ich glaube, der Typ, also der Mann, dessen Auto ich angefahren habe, ist ein Krimineller. Mafia oder so. Mindestens. Er wollte keine Polizei. Und er will auch nicht, dass ich den Schaden meiner Versicherung melde.“

„Aber…. das ist doch prima. Dann kannst du sofort wegfahren?“

„Ehm – nein! Er will, dass ich ihm den Schaden jetzt gleich bezahle. In bar!“

„Was? Das gibt’s doch gar nicht. Wie sollst du das denn machen? Wieviel will er denn haben?“

„Zwanzig Tausend Euro. Es ist ein nagelneuer Mercedes, und die ganze Stoßstange ist kaputt.“

„Zwanzig Tausend! Hm, aber deine Bank hat doch bestimmt einen Notdienst. Du rufst da einfach an, die erhöhen dein Tageslimit, und du hebst das Geld am nächsten Bankomat ab. Solange muss der Mann eben warten.“

Stille. Dann:

„Mami! Du kennst dich aber gut aus!“

„Ich lebe ja nicht hinterm Mond. Als ich eine neue Waschmaschine brauchte und die über Kleinanzeigen gekauft habe, musste ich mein Limit auch kurzzeitig erhören.“

„Ah ja. Klar. Aber, Mami, leider geht das hier nicht so einfach.“ Stille… Hat er aufgelegt? Nein!

„Ich – habe gerade nicht soviel Geld auf dem Konto. Weißt du, meine Frau hat mich erst kürzlich verlassen. Sie hat das ganze Geld bekommen und alles mit genommen. Die Möbel, meinen Computer. Ich muss sogar aus der Wohnung raus, weil ich die nicht mehr zahlen kann.“

„Justus, das ist ja schrecklich. WIllst du bei mir einziehen, als Interimslösung?“

„Als was? Nein, Mami. Ich habe meine Arbeit hier in Hamburg. Ich komm schon klar. Aber – könntest du mir die Zwanzigtausend leihen? Gleich jetzt? Du weißt ja, wie das geht, mit dem Limit und so. Ich zahle dir alles zurück, in Raten. Ich hab nen guten Job. Ich verdiene 3 Tausend Euro im Monat.“

„Nicht mehr? Als Jurist?“

„Ehm – jaaa. Ich…. bin als Juniorpartner in eine Kanzlei eingestiegen. Da bekommst du noch nicht so viel, am Anfang. Aber deshalb ist es auch so wichtig, dass ich die Sache ohne Aufhebens regele. Sonst kostet mich das meinen Job. Und bei dem Unterhalt, den meine Frau von mir will…“

„Hast du denn auch ein Kind?“

„Nein Mami. Leider nicht. Kannst du mir das Geld jetzt besorgen?“

„Ach Justus, für dich tu ich doch alles. Aber ich brauche ein bisschen Zeit.“

„Kein Problem. Danke, Mami! Sagen wir in einer halben Stunde?“

„Was? Das ist aber kurzfristig.“

„Ja, aber der Typ ist wirklich richtig unheimlich.“

„Na gut, ich tue, was ich kann. Dann bist du in einer halben Stunde hier bei mir? Die Adresse kennst du ja.“

„Ehm – nein, Mami. Der Typ traut mir nicht. Er sagt, er schickt dir einen Boten. Sobald der das Geld hat, unterschreibt er eine Verzichtserklärung und lässt mich weiterfahren. Dann komme ich gleich zu dir! Dann gehen wir schick essen!“

„Ich denke, du bist pleite? Lass mal, ich koch uns was Feines. Aber wie erkenne ich den Mann, der das Geld abholt? Es könnte schließlich auch ein Betrüger sein.“

„Er wird sagen: ich komme von deinem Sohn Justus.“

„Alles klar. Dann rufe ich dich gleich an, sobald ich das Geld übergeben habe. Ich sehe hier im Telefon aber keine Nummer. Gibst du sie mir?“

„Nicht nötig, Mami. Ich rufe dich in 45 Minuten wieder an. Dann müsste alles über die Bühne gegangen sein. Und dann kann ich dir auch gleich sagen, wann genau ich bei dir sein werde. Endlich wieder!“

„Gut, mein Sohn. Ich besorge das Geld. Ich freue mich, dich wiederzusehen.“

+Und ich mich erst, Mami!“

Die nächste halbe Stunde ist hektisch. Aber schließlich hat Agatha alles organisiert wie geplant. Da klingelt es auch schon an ihrer Wohnungstür. Ein Mann mittleren Alters, mit schütterem Haar, dunkler Kleidung und schwarzen Turnschuhen, steht vor ihr. „Das Geld?“, füstert er.

„Habe ich hier. Kommen Sie doch rein“, und Agatha zieht den Widerstrebenden in den Hausflur. Blitzschnell schlägt sie die Tür zu. Mit einer fließenden Bewegung holt sie einen Baseballschläger hinter dem Wintermantel an der Garderobe hervor und zieht ihn dem Mann über den Schädel. Durch die Baseballkappe hindurch ist ein Knirschen zu hören, und einen Moment lang denkt Agatha, dass sie vielleicht zu heftig zugeschlagen hat. Aber als sie ihn mit doppelseitigem Klebeband Arme und Beine verschnürt, stöhnt er leise.

„Guten Abend, Justus. Schön, dich zu sehen.“

„Ich bin nicht Justus. Mach mich los, oder ich zeig dich an.“

„Das glaube ich. Und glaube es nicht. Also ich weiß, dass du nicht mein Sohn Justus bist. Der ist vor 10 Jahren, 5 Wochen und drei Tagen bei einem Autounfall gestorben. Das konnten Sie natürlich nicht wissen, aber es war makaber, mir ausgerechnet die Story von einem Autounfall aufzutischen.“

„Was willst du von mir, du alte Schlampe? Wenn ich nicht in 10 Minuten bei meinen Kumpels bin, dann bist du dran. Und die sind nicht zimperlich, sage ich dir.“

„Und mir sagt etwas, dass Sie diese Betrugsmasche alleine durchziehen. Das hat zumindest der Polizeibeamte in „Vorsicht Falle“ gesagt, Und der wird es ja wissen. Aber jetzt seien Sie mal stll und hören mir gut zu: Wenn Sie tun, was ich sage, passiert Ihnen nichts weiter, und ich lasse Sie irgendwann wieder laufen. Ohne zur Polizei zu gehen. Wenn nicht….“ sie deutet mit dem Kinn auf den Baseballschläger, der direkt nebem dem Betrüger liegt.

„Ok“, stöhnt dieser. „Was soll ich tun?“

„Erstmal setzen wir uns ins Wohnzimmer, und ich erzähle Ihnen von meinem Sohn Justus. Dann sehen wir weiter.“

Im Laufe der nächsten Stunden wird Agatha allerdings klar, dass dieser Typ zu hartgesotten ist, um sich auf ihren Deal einzulassen. Sobald sie ihn freilässt, wird er über sie herfallen. Und Agatha weiß genau, dass sie als 80-Jährige gegen ihn keine Chance hat.

„Ach ja, schade“, seufzt sie. Geht in den Flur, holt den Beaseballschläger und drischt ihn mit aller Kraft gegen die Schläfe des Betrügers.

Dann ruft sie die Polizei.

Zunächst sind sich alle einig, dass Agatha in Notwehr gehandelt hat. Aber dann verstrickt sie sich in Widersprüche. Sie kommt in Untersuchungshaft, mindestens so lange, bis der Mann im Krankenhaus vernehmungsfähig ist. Aber das kann dauern.

Auf diese Weise verbringt Agatha ein abwechslungsreiches Weihnachtsfest. Denn die Beamtinnen und Beamten mögen die resolute alte Dame, die den Betrüger mit dem „Enkeltrick“ zur Strecke gebracht hat, und verwöhnen sie mit allerlei gutem Essen, Kartenspielen und Gesprächen.

Als der Betrüger endlich aussagt, gibt er zu Protokoll, sich an nichts erinnern zu können. Er weiß, dass er ins Gefängnis kommen wird. Und wenn er eine nette alte Dame hat, die ihn ab und zu besucht, auch, wenn sie ihn Justus nennt, dann steigert das sein Ansehen bei den Mithäftlingen.

MiniKrimi Adventskalender am 15. Dezember


Mords-Malefiz (Auszug)

von Monika Nebel

Der Mann wird unruhig, wie soll er reagieren? Werden sie ihm abkaufen, dass er von nichts weiß?

Um ihn herum wird wild getanzt und gesungen. Heute haben die INNfernalischen einen beinahe lässigen Abend mit einem einzigen Auftritt vor sich. Ab morgen bis zum Ende der fünften Jahreszeit am Faschingsdienstag um 24 Uhr sieht es anders aus. Ein Termin jagt den nächsten, die 16 Tänzer und Tänzerinnen sind mit dem Bus quer durch die Dörfer rund um Wasserburg und Rosenheim unterwegs, begleitet von ihrem Team. Der Höhepunkt des Gardeauftritts ist der Tanz des Prinzenpaars Hubert II. und Luise I.

Doch nicht heute! In einer Stunde, so gegen 21 Uhr, werden die Trainerinnen, die Gardemajorin, die Hofmarschallinnen, der Präsident und vor allem der Prinz nervös werden. Und der Mann ahnt, was spätestens am nächsten Tag passieren wird: Ein Höllenfeuer wird bei den INNfernalischen ausbrechen. Entweder verschlingt es ihn selbst oder verbrennt zumindest seine Seele bis zur Unkenntlichkeit.

***

Am Sonntagmorgen gehen Maria und Johann Selbinger aus Griesstätt, dick eingemummelt in winterliche Kleidung, im nahe gelegenen Tal von Altenhohenau spazieren. Der Border Collie des Paars rast begeistert bellend den Inndamm entlang. Auf dem seit Wochen gefrorenen Boden liegt nun eine zarte Schicht Schnee. Der ist in der Nacht gefallen, in feinen Flocken nur, aber über ein paar Stunden. Ihr Auto parkt im Ort, die beiden haben den Weg oberhalb der Felder gewählt.

Das Paar hat Zeit, die Sonne scheint so schön, deshalb wandern sie bis zum nördlichsten Ende der Halbinsel, wo sich der Lambach dem kraftvoll dahinfließenden Inn anschließt. Dort erwartet sie ein wunderbares Panorama, das sie auf der Bank sitzend genießen: eisig wirkendes Wasser, glitzerndes Weiß an den Ästen, eine stille, friedliche Landschaft. Es ist nicht mehr weit bis Wasserburg, nur wenige Kilometer.

Zurück wählen sie einen anderen Weg. Bevor der Mann und die Frau den Wald betreten, leinen sie den Hund an, wie es im Naturschutzgebiet gefordert ist. Die Sonne blitzt durch die nackten Äste des Laubwaldes, ein Bach plätschert ein Stück parallel zum Weg. So kalt war es nicht, dass er ganz hätte zufrieren können. Sie folgen dem Weg und sehen bald darauf den Parkplatz für die Wanderer, auf dem aktuell nur ein Auto steht: ein eleganter blauer Mittelklassewagen, dessen Dach ebenfalls eine weiße Haube trägt.

Mit einem Mal bleibt ihr Hund stehen, sein Kopf in starr erhobener Haltung, er atmet heftiger, ein Zittern läuft über sein Fell. Sein Frauchen stutzt. So kennt sie das fröhliche Tier nicht.

»Ja, Cora, was ist denn los? Komm, geh weiter, gleich sind wir in der Sonne auf den Feldern, dann kannst du wieder von der Leine und sausen.«

Doch der Hund will nicht aus dem Wald, er wendet sich nach rechts und zieht Maria hinter sich her.

»Cora, jetzt bleib stehen!«, schimpft sie und stemmt sich mit den Füßen gegen die Zugrichtung in den Boden. Als sie verwundert ihren ungewohnt unfolgsamen Hund ansieht, bemerkt sie wenige Meter weiter einen farbigen Fleck zwischen den Bäumen. Ihr wird kalt, die Sonne scheint schwächer zu werden, die Welt etwas dunkler.

»Johann!«, sagt sie mit solch angespannter Stimme, dass ihr Mann neben sie tritt.

Gemeinsam starren sie in den Wald. Dort unter zierlichen jungen Ästen im unbelaubten Winterkleid, beinahe verborgen hinter einem kleinen Hügel liegt eine Frau. Ihr rot-schwarzes Kleid hebt sich vom Weiß der Umgebung deutlich ab, obwohl der Körper leicht von Schnee bedeckt ist. Die Spaziergänger werfen einander einen Blick zu, der verrät, wie die Situation sie verunsichert.

»Hallo?«, ruft Johann hinüber, erhält aber wie befürchtet keine Reaktion.

»Wer geht denn im Winter mit einem ärmellosen Kleid spazieren?«, fragt Maria ihren Mann irritiert, um sich selbst von dem Offensichtlichen abzulenken. Der bindet den neugierigen Hund an einem dicken Ast fest. Sie nähern sich mit einem unguten Gefühl. Seite an Seite, keiner mag zurückbleiben oder vorausgehen. So etwas sieht man sonst nur im Fernsehen oder liest darüber in Büchern. Und Maria mag keine Krimis oder Thriller.

Die Reglose hat einen Arm über ihren Augen liegen, als müsse sie sich vor der Sonne schützen, der andere ruht neben ihr im Schnee. Die Finger sind leicht nach innen gebogen. Um sie herum glitzert alles, bemerken die beiden Beobachter. Kommt es von den eisigen Kristallen auf ihrem schlanken Körper und auf dem Boden? Dasselbe Glitzern findet sich in ihrem brünetten Haar wieder, auf dem Kleid, sogar auf den roten Pumps, von denen sie nur noch einen trägt. Der andere liegt, wie willentlich abgestreift, neben dem schmalen Fuß. Sie scheint aus einer anderen Welt direkt in den bayerischen Schnee gefallen zu sein.

»Hallo, hören Sie uns?«, fragt Johann und kniet bei der Frau nieder. Er greift nach ihrer Hand und sieht seine Begleiterin unbehaglich an.

»Eiskalt!« Und einige Sekunden später fügt er ein wenig atemlos hinzu: »Kein Puls!«

Maria hat ihr Handy bereits gezückt und verständigt mühsam mit erstarrten Fingern den Notruf über den Fund der Leiche. Sie gibt ihrem Mann die Anweisung weiter, die sie von ihrem Telefonpartner erhalten hat, ihre Stimme bebt: »Wir sollen uns nicht bewegen, um keine Spuren zu zerstören.«

Sie reibt die Hände aneinander, wagt einen weiteren Blick auf die Frau im Schnee und schüttelt ungläubig den Kopf:

»Ist das ein Diadem, das sie trägt?«

Beide verharren wie angewiesen neben der Toten. Sie rühren sich nicht, bis die Einsatzkräfte eintreffen, obwohl sie frieren und der Hund winselt. Zwei Krankenwagen, ein Polizeieinsatzfahrzeug nähern sich, die Wartenden hören sie schon, als die Wagen die Straße von Wasserburg her den Laiminger Berg hinunterfahren. Nun biegen sie ab. Die Sirenen werden schwächer, weil sie hinter den Bauernhäusern verschwinden, dann wieder lauter, als sie den Weg zum Wanderparkplatz einschlagen. Glücklicherweise ist die Schneedecke dünn, sonst ist hier im Winter oft kein Durchkommen.

Zunächst steigen die Polizeibeamten und nur ein Sanitäter aus. Sie begrüßen Johann und Maria und treten vorsichtig zu der Toten.

Der eine Polizeibeamte pfeift durch die Zähne. »Die abgängige Prinzessin!«

Auf die fragenden Blicke der anderen hin erklärt er: »Sie sollte gestern auf einem Ball auftreten, die INNfernalischen und ihr Mann haben sie als vermisst gemeldet.«

»Und natürlich der Prinz«, kommt es vom Kollegen ein wenig spöttisch. Der Polizist versteht den Tonfall. Sie hatten neulich mit einer Streitschlichtung zwischen zwei hoheitlichen Konkurrentinnen um das schönere Diadem zu tun. Er seufzt.

»Ob der Prinz sie vermisst, weiß ich nicht. Im Fasching geht es manchmal höllisch zu. Auch unterm jeweiligen Hochadel der Saison gibt es sicher die ein oder andere Intrige.«

Mehr zu Monika Nebel gibt es hier: monika-nebl.defacebook.com/MonikaNeblAutorininstagram.com/monikanebl.autorin

Mords-Malefiz ist vor Weihnachten nur bei den Wasserburger Buchhandlungen und im eigenen Shop (https://www.eyedoo.biz/shop/Regionalkrimi) verfügbar.

MiniKrimi Adventskalender am 11. Dezember


Wer Vertrauen schenkt (Auszug)

von Monja Luz

Gemeinsam betreten Chris Muth und Jake Imhof die Küche. Die ist hell erleuchtet und sperrt das spärliche Tageslicht gänzlich aus. Am Bartisch sitzt ein junger Mann mit geröteten Augen, sein Hemd ist blutverschmiert. Die Hände halten eine Tasse.
Er bemerkt sie offenbar nicht. Selbst als sie direkt vor ihm stehen, reagiert er nicht, sondern starrt weiter vor sich hin. Die Tasse ist unbenutzt. Es scheint, als hätte er danach gegriffen und im nächsten Moment vergessen, was er damit wollte.

»Herr Danner? Wir haben ein paar Fragen.«

Unsicher hebt der Angesprochene den Kopf, schaut von Chris zu Jake. Chris stellt sie beide vor, während Jake sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht. Das laute Mahlen der Kaffeebohnen überbrückt das Schweigen. Ein aromatischer Geruch breitet sich aus, der den Zeugen zusehends belebt. Jake verteilt die gefüllten Tassen. Nach einem ersten vorsichtigen Nippen drückt der Zeuge den Rücken durch, blickt Chris fest in die Augen und sagt: »Ich werde Ihnen keine große Hilfe sein. Im Moment kann ich mich nur daran erinnern, hergekommen zu sein. Und plötzlich standen Ihre Kollegen vor mir.«

»Aber Sie haben den Notruf gewählt?«

»So hat es mir Ihre Kollegin geschildert, aber ich kann mich nicht entsinnen, es getan zu haben. Sobald ich versuche, den Morgen zu rekapitulieren, sehe ich Steff, wie sie daliegt …« Wieder verliert sich sein Blick.

»Wie wäre es, wenn Sie uns zunächst einmal Ihre persönlichen Daten nennen, Herr Danner?« Chris zückt seinen Notizblock.

»Mein Name ist Daniel Danner, siebenundzwanzig Jahre, ich bin Germanistikstudent im fünften Semester.«

Kommt daher seine gestelzte Sprache, wundert sich Chris. Dann fragt er: »Wohnen Sie hier?«

»Nein, ich habe eine Wohnung in Gonsenheim, die Adresse hat Ihre Kollegin notiert.«
Sichtlich dankbar lässt sich Herr Danner auf den Plausch ein.

»Und wer wohnt hier?«

»Steff mit ihren Eltern. Wobei die vor einem Jahr auf die Kanaren umgesiedelt sind und sich nur selten in heimatlichen Gefilden aufhalten. Herr Seidel hat ein Lungenleiden, das ihn sehr einschränkt. Die Seeluft und das gleichbleibende Klima dort erleichtern ihm den Alltag.«

»Wie lange sind Sie und Frau Steffanie Seidel ein Paar?«

»Seit zehn Monaten. Wir kennen uns von der Uni. Ich betreue die Erstsemester.«
»Das machen Sie neben dem Studium?«

»Richtig, das hat sich durch die Pandemie entwickelt. Ich habe mich zurückgezogen und mich mit den Möglichkeiten vertraut gemacht, ein Leben ohne direkten Außenkontakt zu führen. Ich bin nicht technikaffin, aber ich kenne mich mittlerweile gut aus. Ich mache auch die Betreuung online, um die Studierenden auf eine erneute Umstellung vorzubereiten. Damit nehme ich ihnen die Angst und zeige, wie die soziale Isolation vermieden werden kann, auch wenn der Individualkontakt nicht möglich ist.«

Chris spürt, wie wichtig seinem Gegenüber das Thema ist. »Wann haben Sie Ihre Selbstisolation aufgehoben?«

»Ich meide weiterhin große Ansammlungen und trage FFP2-Masken, wenn ich einkaufen gehe, beim Arzt, in Bus und Bahn und in der Uni.«

»Auch bei Ihrer Familie und unter Freunden?«

»Ich habe keine Familie. Und Freunde … ich treffe mich im Grunde nur mit Steff.«

»Haben Sie sich gestern gesehen?«

»Ich denke schon.« Die Bemerkung stoppt Danners Redefluss, wieder verfällt er in stummes Starren ins Nirgendwo.

»Herr Danner, was ist gestern passiert?«

»Ich glaube, wir hatten einen Disput. Unseren ersten kleinen Konflikt.«

»Worum ging es?«

Danner richtet sich auf, schüttelt den Kopf. »Es war nichts. Nur eine infantile Bemerkung in der Nachricht einer Freundin. Wir haben es geklärt. Nur wegen des Nachklangs des Streits haben wir uns nicht wie gewohnt verabschiedet.«

»Wie muss ich mir das vorstellen?«, hakt Chris nach und wirft einen Blick auf Jake, der es sich auf einem Barhocker bequem gemacht hat. Dabei trinkt er Kaffee und wirkt abwesend.
»Ich … ich weiß, dass es so war, aber an die Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich heute Morgen dachte, ich muss Steff gleich als Erstes herzen.«

»Sie können sich nicht an den Ablauf erinnern?«, mischt sich Jake nun doch ein.

»Nein«, antwortet Herr Danner mit einer Selbstverständlichkeit, die Chris erstaunt.

»Haben Sie das öfter? Immerhin sind seitdem wohl kaum mehr als zwölf Stunden vergangen. Und es war Ihr erster Streit, den behält man in Erinnerung.«

»Nein.«

»Sie wollen sich nicht daran erinnern?«, fragt Chris.

»Richtig. Negativ belegte Erlebnisse bewahre ich nicht im Gedächtnis. Wozu auch? Ich weiß, dass etwas war, mehr nicht. Warum soll ich mich mit solchen Erinnerungen quälen?«

Darauf kann Chris nichts erwidern, fast beneidet er sein Gegenüber um die Fähigkeit – wenn der Wahrheit entspricht, was er sagt. »Dann erzählen Sie, woran von gestern Abend Sie sich erinnern.«

»Wir haben uns Essen bestellt, thailändisch, die Vorspeise haben wir uns geteilt und beim Hauptgericht nach der Hälfte die Teller getauscht. Das machen wir immer so.« Ein Lächeln blitzt auf. »Dann hat Steff ihre Geschenkliste überarbeitet. Da ist sie sehr penibel. Ich habe versucht herauszufinden, was ich ihr schenken soll.« Das Lächeln wird stärker. Offensichtlich hat Herr Danner seine tote Freundin im Wohnzimmer nebenan ebenfalls vergessen.

»Dann kam der Streit?«

»Nein, der war später.«

»Wann?«

»Ich habe sie nach Hause gefahren.«

»Sie haben ein Auto?«, wundert sich Chris, der sich von seinem Wagen wegen der Parkplatznot und den horrenden Parkgebühren in Mainz vor Längerem getrennt hat.

»Nun, den Luxus erlaube ich mir.«

»Und als Sie hier ankamen, kam es zum Streit.«

»Nein.«

»Sondern?«

Die Antwort kommt zögerlich: »Sie wollte, dass ich das Haus inspiziere.«

»Und? Haben Sie?«

»Nein.«

»Herr Danner, können Sie uns bitte den Ablauf erzählen, wie Sie ihn in Erinnerung haben?«
Der Angesprochene schüttelt erst den Kopf, richtet sich auf und schaut Chris direkt an.

»Gewiss. Ich habe Steff hergefahren. Dann hat sie rumgedruckst. Vorher war sie schon fahrig gewesen, hatte ständig ihr Handy in der Hand und hat Nachrichten und sogar Anrufe bekommen.«

»Von wem?«

»Darüber habe ich keine Kenntnis.«

»Sie haben nicht gefragt?«

»Nein.«

»Und wegen der Nachrichten haben Sie sich gestritten?«

»Gestritten? Nein. Das war später. Sie wurde immer unruhiger. Um kurz nach halb elf wollte sie plötzlich nach Hause. Also habe ich sie gefahren. Dann sollte ich eine Runde durchs Haus machen, nach Einbrechern suchen. Steff hat aufgeschlossen, aber die Alarmanlage war aktiviert. Wie soll da jemand Unbefugtes im Haus sein? Außerdem waren die Katzen unten. Ich bin gleich weg.«

»Ohne Verabschiedung?«

»Ja. Weil es einfach albern war. Ich habe gefragt, was los ist, darauf hat sie nicht geantwortet.«

Scheint, als hätte sich die erste Verliebtheit verflüchtigt und ohne rosarote Brille entsprach die Partnerin nicht mehr hundertprozentig den Vorstellungen. Wie so oft, denkt Chris.
»Sie wollte einfach nur ihren Willen durchsetzen!«

Die Heftigkeit der Bemerkung lässt selbst Jake aufhorchen, der gerade sein Handy hervorgeholt hat. Doch genauso plötzlich, wie das Aufbegehren gekommen ist, erlischt es und Herr Danner sitzt mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern da, knetet seine Hände.

Dann flüstert er: »Bin ich schuld an ihrem Tod?«

Monja Luz verbringt ihre krimifreie Zeit hauptberuflich mit Buchhaltung. Dabei ordnet und schiebt sie die Zahlen so lange hin und her, bis sie stimmig sind. Genauso verfasst sie ihre Krimis. Nach und nach wird das Knäuel aus Verdächtigen und Motiven entwirrt, und am Ende wird das Lügengeflecht des Täters entlarvt.

(copyright Foto: Studioline)

MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Schuldwald (Auszug)

Marie Bastide

Carla 1989

Der Anruf kam um 2.28 Uhr. Das Klingeln weckte Carla aus einem unruhigen, von Albtraumsequenzen durchzogenen Schlaf, und sie tastete panisch nach dem roten Zugseil, um die schwere Eichentür zu öffnen – wohl wissend, dass dahinter ein neunköpfiges Ungeheuer kauerte, zum Angriffssprung bereit.

Die Wirklichkeit übertraf allerdings jeden ihrer Albträume. „Frau Dr. Lemke? Hofmann, Polizeipräsidium Frankfurt. Es geht um Ihre Tochter.“ „Victoria?“, fragte Carla und kämpfte sich vollends an die Oberfläche der Nacht. Als hättest du mehr als ein Kind, dachte sie. Jetzt stieg Panik in ihr auf. „Was ist passiert?“, fragte sie. Polizeipräsidium – also kein Unfall, schoss es ihr durch den Kopf. „Alles in Ordnung, soweit. Ihre Tochter ist hier bei uns. Sie wurde bei einem Einsatz im Flörsheimer Wald … (Pause, dann, zögernd) … mitgenommen. Am besten, Sie kommen gleich vorbei. Dann erledigen wir ein paar Formalitäten, und Sie können sie mitnehmen. Sie finden uns in Raum 232.“ Als wäre Victoria ein liegengebliebener Regenschirm, der aus Versehen von jemandem im Wald eingesteckt worden war und jetzt seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückgegeben werden sollte! Und das möglichst schnell, damit das Präsidium durch die unbotmäßige Anwesenheit nicht unnötig belastet würde. Alle weiteren Fragen zurückdrängend, sagte Carla nur: „Ich komme. Bin in einer halben Stunde da.“

Das Polizeipräsidium wirkte um diese Zeit wie eine aufgelassene Filmkulisse. Gelbes Licht übergoss die wuchtigen Treppen. Die Flure, die sich links und rechts davon öffneten, sanken in sich zusammen. Ohne die arbeitstäglichen Hintergrundgeräusche saugten die Wände alles auf, Bewegungen, Schritte, sogar die halblauten Gespräche der vier Beamten vor Raum 232. Als Carla vom Treppenhaus in den Flur einbog, hoben die Männer ihre Köpfe, gleichzeitig, wie auf Befehl. Sie sahen sie an mit durchbohrenden Blicken, die auf Einschüchterung programmiert waren. Als die Beamten sie erkannten, senkten sie ihre Augen. Denn sie wussten genau, wo solche Lanzenblicke erlaubt waren und wo nicht. „Frau Ministerialdirigentin“, murmelte einer von ihnen, trat einen Schritt zurück und gab den Eingang zu Raum 232 frei, während ein anderer die Tür für Carla öffnete.

Die gleiche Begrüßung, diesmal von einem Mann mittleren Alters in Zivil und graugepfeffertem Schnurrbart. Er saß hinter einem einfachen Büroschreibtisch, auf dem nichts weiter lag als ein Block und ein Kugelschreiber. Ihm gegenüber zwei graue Plastikstühle. Auf dem einen saß Victoria. Sie kippelte mit dem Stuhl nach hinten, bis sie an die Heizung stieß. Das Gluckern des Wassers in den Rohren und das Ticken der schmucklosen Uhr an der Wand waren die einzigen Geräusche im Raum.

Carla nickte dem Mann zu. Dann ging sie zu Victoria. Ihre Tochter baumelte mit den Füßen, die ein paar Zentimeter über dem Boden hingen. Sie starrte auf die Uhr und schien ihre

Mutter nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Victoria“, murmelte Clara und ihre Stimme klang genauso wie damals, als sie ihr Kind von Bauer Hinze entgegengenommen hatte, nachdem es beim Äpfel Klauen in den Misthaufen gefallen war. Oder als sie, mitten in einer klirrenden Winternacht, die 15-Jährige an der vereisten Brücke über den Urselbach abgeholt hatte, in dem das zu Schrott gefahrene Mofa lag.

Seit ihr Mann sie verlassen hatte, weil er nicht damit zurechtkam, dass sie als Frau die Karriereleiter immer weiter emporstieg, während er, der Ernährer der Familie, in seiner Kanzlei nur kleine Fische briet, war Carla eine sehr fürsorgliche Mutter. Mit Tendenz zur Glucke. Wenn sie imstande war, ihr Verhalten mit kühlem Kopf zu reflektieren, nahm sie sich vor, sich zurücknehmen. Leider war ihr Kopf in den Momenten, in denen Besonnenheit gefragt war, meist kurz vorm Explodieren. Entsprechend hitzig fielen ihre Reaktionen aus, wenn „das Kind“ mal wieder über die Stränge geschlagen hatte. Wie und wann und wo auch immer. Was dazu geführt hatte, dass Victoria sich immer weiter in sich selbst zurückzog. Der klassische Dialog zwischen Mutter und Tochter in den Jahren, seit Victoria in die Pubertät gekommen war, verlief immer gleich: „Warum lügst du schon wieder?“ „Warum vertraust du mir nicht?“ „Weil du mein Vertrauen missbrauchst.“ „Weil du mir keines schenkst.“

Und jetzt das. Wie sollte sie einen klaren Kopf behalten, mitten in der Nacht, im Frankfurter Polizeipräsidium, mit Beamten vor der Tür und einem Betonkopf auf der anderen Seite des Schreibtisches, der von ihr das Unmögliche erwartete. Denn Carla wusste genau, was er, was „man“ von ihr wollte. Sie sollte ihre Tochter „zur Vernunft“ bringen, damit die dünne Akte auf dem nackten Holztisch nicht geschlossen, sondern geschreddert werden konnte. Carla hatte keine anderen Menschen in den Fluren des Präsidiums gesehen, die wie Demonstranten aussahen. Und mitten in der heißen Phase der Auseinandersetzungen um die Startbahn West wusste jeder, wie „ein Demonstrant“ aussah. Ein Prachtexemplar dieser Spezies saß auf dem Stuhl an der Heizung, den Kopf demonstrativ von Carla abgewandt. Lange, schmierige Haare, Springerstiefel, lila Haremshosen, schmutziger Wollpulli und darüber ein verdreckter grüner Parka. Um den Hals ein Palituch. Selbst bei Nacht waren Demonstranten unschwer zu identifizieren, denn von ihnen ging unweigerlich ein Geruchsgemisch aus Patchouli, nasser Wolle, Schweiß und Lagerfeuer aus. Victorias ganz persönliche Note war die pudrige Spur von Anais Anais. Ihr Parfum gab Victoria offenbar niemals auf, auch nicht während ihres Guerillalebens im Flörsheimer Wald. Die Erkenntnis hatte für Carla in diesem Moment etwas ungemein Tröstliches. Als sei noch nicht alles verloren, solange noch eine Erinnerung an ihren Lieblingsduft an ihrer Tochter haftete.

Das Gefühl machte Carla stark. „Victoria“, versuchte sie es noch einmal. Zaghaft, mit langem sanftem O, sorgsam moduliert wie eine schüchterne Annäherung. Wie viele Sätze sich in einem Wort stapeln können, wie viele Bedeutungen, Wünsche gar, dachte Carla. Bitte, hör mir zu.

Bitte, schau mich an, nur ganz kurz. Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich stehe hinter dir. Alles wird gut. Nein, alles ist gut. Schau, ich mache den ersten Schritt. Ich reiche dir die Hand. Bitte, Victoria, greif nach ihr.

Stille.

Der Mann in Zivil räusperte sich. Das Telefon klingelte. „Ja? Nein. Gut. Gut. Ja. Bis dann.“ „Also, Frau Dr. Lemke. Fräulein Lemke. Meine Leute hier – er zeigte auf die Tür, hinter der offensichtlich noch immer die Polizisten standen – hätten gern noch ‘ne Mütze voll Schlaf, bevor es hell wird. Wenn Sie nur hier bitte kurz unterschreiben“, er hielt Victoria einen Bogen Amtspapier hin, „dann erhalten Sie von mir Ihren Ausweis zurück und können mit Ihrer Mutter nach Hause gehen. Sie sind doch sicher auch todmüde.“ Da endlich hob Victoria den Kopf und dreht sich zu ihrer Mutter. Sah sie aus großen grünen Augen an. Ihre Blicke kreuzten sich. Eine stumme Bitte der eine, der andere voll trotziger Abwehr.

„Nein“. Ihre Stimme klang müde und brüchig. „Wo sind meine Freunde? Ich will zuerst meine Freunde sprechen. Ich will wissen, wie es ihnen geht. Bringen Sie mich zu ihnen. Ich will keine Sonderbehandlung. Meine Mutter braucht nicht für mich die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Das mach ich schon selbst.“

„…und verbrennst dich dabei“, dachte Carla, doch sie schluckte die Worte unausgesprochen hinunter. Der Beamte wirkte unschlüssig. Er schaute von Mutter zu Tochter zu Mutter. „Das kommt davon, wenn man die Zügel zu locker

lässt“, war deutlich an seinem Gesichtsausdruck abzulesen. Aber er hatte seine Anweisungen. Eine bockige Victoria war darin nicht vorgesehen. „Fräulein Lemke“, er versuchte, überzeugend zu klingen. „Sie wollen ihrer Mutter doch bestimmt keinen Ärger machen.“ Nicht noch mehr, meinte er damit. „Ihre Freunde haben sich doch auch nicht um sie gekümmert. Wenn jetzt einer zu denen kommen und die Zellentür aufmachen würde, einfach so, ganz ohne Bedingungen – meinen Sie, die würden nach Ihnen fragen?“

„Das ist mir egal. Ich will jetzt sofort in eine Zelle gebracht werden, wie alle anderen. Oder vor den Untersuchungsrichter. Oder was auch immer!“ Victorias Stimme war wieder laut und klar. Sie sprang vom Stuhl auf, voller Kraft und geballter Wut. (…)

Victoria 2023

Widerwillig streckt sie die Hand nach dem dünnen, in grünes Leder gebundenen Büchlein aus, misstrauisch, als könnten ihr aus den Seiten jahrzehntealte Vorwürfe und ungeliebte Wahrheiten entgegenspringen. Sie braucht den Eintrag nicht zu lesen. Sie erinnert sich genau an alles, was in jener Nacht passiert ist. Und an die Folgen. Denn was im Flörsheimer Wald begonnen hat, hat sie nie mehr losgelassen. Die ganzen 40 Jahre.

Am Anfang war alles nur ein Spiel. Verstecken im Wald. Uni schwänzen. Und ein paar der Profs waren auch dabei

gewesen. Politische Aktivisten, sozusagen. Ja, einer war zeitweilig sogar mit Berufsverbot belegt worden, wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen linksextremen Partei. Absolut cool, so schien es den Jurastudenten damals. „Wir dachten, die seien auf unserer Seite. Wir glaubten, die wollten mit uns die Welt verändern. Phhh! Als ob“.

Victoria denkt an die Wochen im Wald, an das Hüttendorf. Sie kann den Rauch aus Hunderten von Lagerfeuern riechen, der über allem hing. Kann die Alltagsgeräusche des Dorflebens hören. „Wie alles, selbst etwas so Improvisiertes, aus trotzigem Widerstand Geborenes und zur Flüchtigkeit Bestimmtes ganz schnell seine eigene Normalität entwickelte. Eine Decke aus Gewohnheiten und Ritualen, in die wir uns einkuscheln konnten, als Schutz vor der Außenwelt, vor den Bösen: dem Staat, der Polizei, den Spießern“, wundert sich Victoria.

Sie war keine echte Bewohnerin des Hüttendorfes gewesen. Nur eine Tagesbesucherin. Wenn sie 8 oder 10 Stunden in das „Revoluzzerleben“, wie ihr Kommilitone Kai die permanente Demo vor den Toren der Startbahn nannte, eingetaucht war, sehnte sie sich nach einer Dusche, einem Salat statt der ewigen Suppen und nach ihrem eigenen, frisch duftenden Bett. Kai, der selbst kein einziges Seminar schwänzte und nie in den „Wald“ hinausgefahren wäre, nannte Victoria deshalb liebevoll neckend „Freizeit-Erna“, in Anspielung auf Ernesto Che Guevara. Sie wusste, dass er in sie verknallt war, wegen ihres Aussehens und ihrer mühelos guten Leistungen. „Wie kriegst du die ganzen Paragraphen nur in deinen Kopf“, fragte er, wenn sie zusammen in der Fakultätsbibliothek büffelten. „Das ist keine Kunst. Schwieriger ist es, sie da bei Bedarf auch wieder raus zu kramen“, antwortete Victoria dann unweigerlich und lachte. Ach ja. Rückblickend erkennt sie, wie sorglos diese Zeit gewesen ist. Wie nichtig die Bemühungen vor einer Klausur. Wie lächerlich die Stunde morgens vor dem Kleiderschrank, wenn sie sich auf ein Seminar bei Dolf Unütz vorbereitete.

Da. Jetzt hat sie den Namen wieder gedacht. In letzter Zeit gelingt es ihr immer öfter, ihn zu verdrängen. Natürlich nicht vollständig, das ist unmöglich, denn jedes Mal, wenn sie Carl ansieht, blickt sie in Dolfs Gesicht. Aber sie hat gelernt, weite Teile ihrer Vergangenheit mit einem Tabu zu belegen, abzusperren wie einen Tatort. „Spurensicherung. Halt. Hier dürfen Sie nicht rein.“

Spuren sichern. Genau das hat Victoria vermeiden wollen. Weil sie wusste, nein, fühlte, dass alle Spuren, die zu den Stunden im Flörsheimer Wald führen konnten, ihre Zukunft und ihr Leben in Gefahr bringen würden. Deshalb hat sie alles getan, um sie zu vergraben, ganz tief in ihrem Unterbewusstsein, unter Schichten von Manierismen, Ticks und Marotten, die ihr Umfeld als gegeben hinnimmt und nicht hinterfragt. Etwas so: „Die ist halt ein bisschen komisch. Aber sonst ganz ok.“ (…)

Die Geister, die ich rief. Hatte Victoria sie gerufen? Oder hatte sie sich einfach auf etwas eingelassen, dessen Größenordnung sie nicht erkannt und nicht einmal erahnt hatte? Ihre Mutter hat sie nie verwöhnt. Aber sie hat ihre rebellische Tochter auch nie ins Messer laufen lassen. Hat hinter ihr gestanden, auch, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Die Äpfel. Das Mofa. Statt einer Strafe hat Victoria sich mit ihrer Mutter auseinandersetzen müssen darüber, was richtig war und was falsch. Über die Moral der kleinen und später der immer größeren Dinge. So hatte sie ein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt und tief in sich verwurzelt. Daher das Jurastudium. Und daher letztendlich auch der Einsatz gegen die Startbahn West, gegen Aufrüstung und für den Frieden.

Und natürlich war da der Reiz des Verbotenen gewesen, der die „Freizeit-Erna“ gereizt hatte. Denn auch, wenn Demonstrationen legal waren, das Hüttendorf war es nicht. Revolution im Wasserglas, auch so ein Label von Kai. Das Sahnehäubchen auf der ganzen Aktion aber war er gewesen,

Dolf Unütz. Schwarm aller Studentinnen, vom ersten Semester bis zum ersten Staatsexamen. Anfang vierzig, also ein Grufti, mit schulterlangen dunkelblonden Haaren, schlank und mit ein paar Muskeln dort, wo sie deutlich sichtbar waren, ohne aggressiv zu wirken. Wenn er seinen stechend grauen Blick im Hörsaal über die Bänke schweifen ließ, errötete mehr als eine der Damen. Dolf, der mit dem ersten Buchstaben seines Namens die Last familiärer Vergangenheit gestrichen hatte.

Victoria gehörte nicht dazu. Im Zusammenleben mit Carla hatte sie sich ein perfektes Pokerface antrainiert. Das kam ihr nun zugute. Als er nach der Vorlesung hörte, dass Victoria ins Hüttendorf wollte, kam er auf sie zu und sagte: „Ich nehm‘ Sie mit.“ Einfach so. Keine Frage, kein Angebot, keine Erklärung. Von diesem Nachmittag an fuhren sie täglich zusammen in den Flörsheimer Wald. Irgendwo am Rand parkten sie seinen cremefarbenen Mercedes 380 SL und schlugen sich durch das Unterholz durch bis ins Dorf. Er vorneweg, sie hinterher.

Einmal trafen sie ein paar Hundert Meter vor den ersten Hütten auf einen Mann, den Victoria im ersten Moment für einen Polizisten hielt, ganz in schwarz mit Erde im Gesicht. Wie lächerlich, dachte sie. „Das ist Vicky, eine Freundin“, sagte Dolf. Vicky! Jetzt wurde sie rot, nickte dem Mann, der sich ihr nicht vorstellte, zu und sah auf den Boden. Braune Blätter, die Ränder gekräuselt vom Frost, vermischt mit Schlammkrusten, als sei hier vor kurzem ein Auto gefahren, oder ein Motorrad.

„Soso, Vicky. Dann pass mal gut auf und mach keinen Fehler.“ Und der Mann verschwand zwischen den dicht stehenden Sträuchern. Dolf und Victoria gingen schweigend die letzten Meter zum Hüttendorf. „Wer war das?“, fragte sie, doch Dolf begrüßte schon die ersten Demonstranten. Die Stimmung war aufgeheizt. Den ganzen Tag waren Gerüchte um die Lagerfeuer getragen worden. Die Polizei habe Hundertschaften zusammengezogen, Sondertrupps aus Bayern. Die Räumung stehe kurz bevor. „Wenn es heute tatsächlich zum Angriff kommt, dann versteck dich auf dem Weg zum Auto und warte da auf mich.“ „Aber – und Sie?“ „Ich habe noch was vor. Du wirst schon sehen.“

Als die Polizisten dann kamen, rannten alle schreiend durcheinander. Knüppel kamen zum Einsatz, wahllos wurde auf Alte, Frauen, sogar auf Kinder eingeschlagen. Es war eine Hetzjagd, wie Victoria sie bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Und sie mittendrin. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz am Kopf. Sie stolperte, fiel vornüber auf den dichten Laubteppich – und dann nichts mehr.

Schuldwald ist der Roman, an dem ich aktuell arbeite: Ein Verbrechen, drei Generationen. Erst dem Enkel gelingt es, das Geheimnis aufzuklären, das über 40 Jahre das Leben von Mutter und Großmutter überschattet, und endlich einen alten Fluch zu brechen. Eine Mutter, deren Ideale von Pazifismus und Abrüstung im Schatten des Ukrainekriegs zerbrechen, die sich als Antwort zunehmend radikalisiert und in alten Terrornetzwerken verstrickt. Eine Großmutter, die den 2. Weltkrieg überlebt hat und deren großes Ziel es ist, Krieg für immer zu verhindern. Und ein Enkel, der für sich erkennt, dass er statt der Welt lieber ein Menschenleben retten will. Und am Ende genau daran scheitert.

Was sagt Ihr dazu?

Adventskalender MiniKrimi am 22. Dezember


So langsam wird es ernst. Der Countdown für Weihnachten geht in die letzte Runde. Und wie könnten wir uns besser einstimmen als mit dem heutigen MiniKrimi meiner wunderbaren Autoren- Kollegin Birgit Schiche? Viel Spaß beim Lesen – und wir freuen uns auf Eure Kommentare!

Criminal Santa

Es war eine der längsten Nächte des Jahres, kurz vor Heiligabend. Sturmböen peitschten ihm den Schneeregen ins Gesicht. Er lief noch schneller durch die kleinen Gassen nahe der Innenstadt. Hinter sich hörte er schnelle Schritte und laute Rufe. Sie waren ihm auf den Fersen. Er schlug Haken wie ein Kaninchen und kroch schließlich unter einen lockeren Stapel mit Sperrmüll, wohl übriggeblieben von einem Umzug. Seine Lunge brannte, sein Herz pumpte. Hoffentlich bemerkten sie ihn nicht.

Janik war es gewohnt, nicht bemerkt zu werden. Seine traurige Kindheit hatte überwiegend in Kinderheimen und betreuten Jugendwohnungen stattgefunden. In der Schule hatte er auch nicht mit guten Noten geglänzt. Dabei war er schlau und ein ausgezeichneter Beobachter. Er hatte gelernt, sich auf dem Weg des geringsten Widerstandes durchs Leben zu mogeln. Leider hatte ihn dieser Weg in die Hände von Bruno geführt. Bruno war mit Drogen wohlhabend und mächtig geworden und glaubte, in Janik einen perfekten Drogenkurier gefunden zu haben – der inzwischen 25-Jährige verstand es schließlich, nicht aufzufallen.

Zuerst lockte Janik die Aussicht auf leicht verdientes Geld, doch dann war der Job keineswegs so bequem, wie er es bevorzugte. Polizei, konkurierende Drogenhändler, durchgeknallte Junkies – er wollte mit dieser Branche nichts mehr zu tun haben. Sein Ausstieg war vorbereitet. In seinem Rucksack befanden sich drei Kilo Koks. Ein letzter Deal, und er würde mit dem Geld abtauchen, das ihm einen Neustart ermöglichen sollte. Seine Art von „weiße Weihnacht“, hohoho. Doch er konnte nicht ewig hier unter dem Sperrmüll hocken. Er musste unsichtbar werden, das war seine Superkraft.

Sein Blick fiel auf einen braunen Kartoffelsack, aus dem ein rotes Stoffknäuel mit weißem Kunstpelz herausschaute. Ein Weihnachtsmannkostüm – perfekt!

Durch den Personaleingang des größten Kaufhauses der Stadt stapfte ein Weihnachtsmann mit einem großen, braunen Sack auf dem Rücken. „Ho, ho, ho!“ rief er fröhlich, der Pförtner lachte und winkte ihn durch. Der Weihnachtsmann stand höchstens unter dem Verdacht, Geschenke zu bringen.

Schon kurze Zeit später stand der Weihnachtsmann in der Spielzeugabteilung, umringt von begeisterten Kindern und deren Eltern. Drogendealer gab es hier keine.

Janik gab einen großartigen Weihnachtsmann ab. Das gefundene Kostüm passte ganz passabel, als dicken Bauch hatte er sich einfach seinen Rucksack mit dem Kokspäckchen unter das Kostüm gestopft. Vor allem aber verstand er es, gute und weihnachtliche Stimmung zu verbreiten. Er ließ die Kinder kleine Gedichte aufsagen und alle Umstehenden gemeinsam Weihnachtslieder singen – damit kannte er sich Dank seiner Heimkarriere gut aus. Und er verteilte Geschenke, kleine Spiele, Puppen, Stofftiere – alles, was es hier zu kaufen gab. Janik war in Hochform und hatte einen Heidenspaß. Seine gute Stimmung wirkte ansteckend und motivierte die anderen Menschen, diese Dinge auch zu kaufen – besser als jede Werbeaktion. Inzwischen war die ganze Abteilung von Menschen überlaufen. Die Aktion sprach sich herum.

„So einen tollen Weihnachtsmann hatten wir hier noch nie“, tuschelten die Verkäuferinnen begeistert und kamen mit dem Kassieren kaum hinterher. Der Kaufhausdetektiv war allerdings weniger begeistert. Er wusste nichts von einer Weihnachtsmannaktion und bemerkte schnell, dass der nicht bestellte Weihnachtsmann seine Geschenke direkt aus den Regalen des Kaufhauses nahm, natürlich ohne zu bezahlen. Langsam rückte er durch die Menschenmassen näher an Janik heran.

Dieser bemerkte aus dem Augenwinkel den starrenden Blick des Kaufhausdetektivs und einen weiteren Mann in der Menge – einen von Brunos Leuten, der natürlich nicht nach dem auffälligsten, sondern nach dem unauffälligsten Mann suchte. Der Kaufhausdetektiv hatte offenbar auch schon die Polizei alarmiert, denn zwei uniformierte Beamte kamen ebenfalls näher. Es war Zeit für den Rückzug. Er bewegte sich unauffällig Richtung Fahrstuhl, umringt von einer Menschentraube. Dabei stieß er wie zufällig mit dem Drogendealer zusammen und schob dem derart Überrumpelten von der Menschenmenge unbemerkt den Rucksack mit dem Koks zu.

Das Lichtsignal am Fahrstuhl zeigte an, dass dieser gleich hier halten würde. Sobald der Fahrstuhl sich öffnete, machte Janik die Polizei lautstark auf den Drogendealer aufmerksam und sprang selbst in den Fahrstuhl, ohne die alte Dame darin erst aussteigen zu lassen. Er fuhr mit ihr ins Erdgeschoss, schnappte die vor Schreck erstarrte Seniorin, als wollte er sie beim Gehen unterstützen, und verließ mit ihr unbehelligt das Kaufhaus. Im Trubel der Last-Minute-Weihnachtseinkäufer tauchte er unter. Der Kaufhausdetektiv fand später nur noch die verwirrte, aber wohlbehaltene alte Dame.

Das Weihnachtsmannkostüm schenkte Janik einem Obdachlosen, den es wärmte und der so bekleidet die Passanten deutlich stärker zum Spenden animieren konnte. Er selbst wurde unsichtbar und verließ die Stadt. Das Drogengeld musste er nun leider abschreiben. Aber dieser Tag war definitiv das beste Weihnachtserlebnis, das er je gehabt hatte: Die leuchtenden Kinderaugen und all die fröhlichen Menschen, die sich von ihm zum Kauf animieren ließen. Es hatte richtig Spaß gebracht, so im Mittelpunkt zu stehen und die Leute zu lenken! Janik hatte seine neue Superkraft gefunden.

*Dieser Mini Krimi wurde zwar inspiriert von der Geschichte des „King Mob Santa Claus“ 1968 bei Selfridges (London), ist aber ansonsten frei erfunden.
https://libcom.org/article/king-mob-santa-claus-and-selfridges-christmas-1968

Adventskalender MiniKrimi am 18. Dezember


Heute wird es mystisch im MiniKrimi Adventskalender. Die heutige Story stammt aus der Feder von Patrick Woywod. Er hat ein Faible für Krimis, Msytik und hilfebedürftige Tiere. Viel Spaß beim Lesen seines MiniThrillers.

„Die Schatten des Vergehens“

Robert war schon immer fasziniert von der Polizeiarbeit. Seit seiner Kindheit träumte er davon, eines Tages bei Scotland Yard Verbrecher zur Strecke zu bringen. Sein Interesse für das Unheimliche und das Mysteriöse machte ihn zu einem wahren Krimi-Fanatiker.

Eines Tages erhielt Robert einen Anruf von seinem besten Freund Marcus. Marcus war DS (Detective Sergent) bei der Hertfordshire Constabulary. Er berichtete beunruhigt von einer Serie ungelöster Morde, die die Stadt heimsuchte. Die Opfer wurden auf grausame Weise verstümmelt, und am Tatort fand man mysteriöse Symbole. Scotland Yard kam nicht weiter, denn alles Mystische wurde von vornherein ignoriert, und jeglicher Hinweis, der in diese Richtung deutete, landete unbearbeitet in der immer dicker werdenden Akte.

Deshalb griff Markus kurzentschlossen zu einer unorthodoxen Maßnahme und bat Robert um Hilfe bei der Aufklärung dieser unheimlichen Mordserie. Robert war von Marcus‘ Bitte begeistert und stimmte sofort zu. Gemeinsam durchkämmten sie die alten Polizeiakten und stießen auf eine verblüffende Tatsache: Alle Opfer hatten eines gemeinsam – sie waren Mitglieder einer alten Geheimgesellschaft, die vor vielen Jahren in der Stadt ihr Unwesen getrieben hatte.

Die Spuren führten Robert und Marcus zu einer verlassenen Villa am Stadtrand. Eine unheimliche Aura umgab das alte Gemäuer, und die Schatten der Bäume tanzten unheilvoll im Mondlicht. Mutig betraten sie das gruselige Anwesen, bereit, dem mysteriösen Täter auf die Schliche zu kommen.

In den dunklen Fluren der Villa schienen die Wände zu lauschen, und die alten Dielen knarrten bedrohlich unter ihren Füßen. Ein eisiger Luftzug jagte Robert Schauer über den Rücken, aber er konzentrierte all seine Sinne auf das Unerklärliche um sie herum.

Jetzt hörten sie ein heiseres Flüstern in den Schatten. Unerschrocken folgten die beiden Männer der geisterhaften Stimme und gelangten in einen geheimen Raum, dessen Wände mit mysteriösen Symbolen bemalt waren. Auf dem Boden lagen in staubigen Stapeln uralte Bücher. In der Mitte des Raumes stand ein Altar, und darauf lag ein blutbeflecktes Messer.

Robert erkannte, dass sie dem Täter auf der Spur waren. Endlich! Plötzlich wurde es dunkel: die Flammen der Kerzen auf dem Altar erloschen, und die Türen schlossen sich mit einem lauten Knall.

In der Dunkelheit hörten sie bedrohliches Lachen. Eine unheimliche Gestalt tauchte aus den Schatten auf. Sie trug ein langes schwarzes Gewand, ihr Gesicht war von einer Maske verdeckt. Es war der greise Anführer der alten Geheimgesellschaft, der die Mordserie inszeniert hatte.

Mit einer für sein hohes Alter unerwarteten Geschmeidigkeit sprang er auf die beiden Eindringlinge zu. Ein gezielter Stoß mit der blutbefleckten Waffe, und Marcus sank schwerverletzt zu Boden. Jetzt wandte der Mörder sich Robert zu. Unerbittlich drang er auf ihn ein und trieb ihn in die dunkelste Ecke des Raumes. Verzweifelt stemmte Robert beide Hände gegen die Wände hinter seinem Rücken. Er wollte den rasenden Alten mit einem Fußtritt zurückdrängen. Doch da ertasteten seine Finger kaltes Metall. Ein Säbel an einer brüchigen Wandhalterung. Robert riss ihn heraus. Mit der Kraft der Verzweiflung versetzte er seinem Widersacher einen Hieb, der dessen Schulter zerschnitt.  

Marcus überlebte den Anschlag nur knapp. Statt einer Belobigung für die Festsetzung eines gesuchten Serienmörders erhielt er eine – allerdings nur milde – Verwarnung, weil er sich alleine, nur in Begleitung einer Zivilperson, auf die Jagd nach dem „Schatten des Vergehens“ gemacht hatte. So ist die englische Polizei.

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Habt Ihr den Nikolaustag gut verbracht? Ich hoffe, es war so viel los bei euch, dass Ihr die Fortsetzung von Cop Orange nicht vermisst habt. Übrigens: was hat es mit dem Titel auf sich, warum steht da „orange“?

Gestern war „Kind“ angesagt. Wir hatten viel Gemeinsamzeit, und dann habe ich ihn mit zum Flughafen begleitet. Das erste Mal so weit und so lange weg von allen und allem. Ich hoffe, er hat sehr viele sehr schöne Erlebnisse und Momente und kommt erfüllt zurück.

Aber jetzt geht*s weiter mit

Cop Orange

Leise vor sich hin schimpfend steigt Arne aus. „Machen Sie mal den Kofferraum auf!“ „Was? Wieso? Was soll denn…“ Die Beamtin zückt ihr Mobiltelefon und schickt sich an, eine Nummer zu wählen.


„Jaja, Moment.“ Mit klammen Fingern drückt Arne auf die Fernbedienung. Der Kofferraumdeckel hebt sich. „Was haben wir denn da? Was ist in dem Aktenkoffer?“

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!“ Arne wird plötzlich kämpferisch. Vielleicht liegt es am Alkohol, vielleicht an der Kälte. Vielleicht ist er auch einfach müde und hat die Situation satt. „In einer Verkehrskontrolle entscheidet die Polizei, was sie etwas angeht und was nicht“, belehrt in die Beamtin. Sie ist nicht mal unfreundlich. Schade, dass er ihr Gesicht nicht erkennen kann. Bleibt sie absichtlich im Schatten?

„Aufmachen!“ befiehlt sie jetzt, „na los, wird’s bald!“ Arne beugt sich in den Wagen und nestelt am Verschluss des Koffers. Da trifft ihn ein harter Schlag auf den Kopf. Er verliert das Bewusstsein.

3 Stunden später.

Polizeinspektion Frankfurt Seckbach. Arne ist verzweifelt.

„Glauben Sie mir nicht, oder was? Sie werden ja wohl nicht denken, dass ich mir selbst mit einer Flasche Glühwein auf den Kopf gehauen habe. Ich sage doch, das war eine Kollegin von Ihnen. Sie hatte so eine Kelle für die Verkehrskontrollen. Und sie hatte eine Polizeimütze auf. Nein, ich sag Ihnen doch, sie war die ganze Zeit im Dunkeln, ich konnte das Gesicht nicht sehen. Nein, keine Ahnung, wie sie hieß. So, wie die drauf war, wollte ich sie bestimmt nicht nach ihrem Namen fragen.

Wie – heute gab es in Seckbach gar keine Verkehrskontrolle? Sie meinen wohl, ich hab‘ das geträumt? Und wer hat mir dann die Tageseinnahmen aus dem Koffer geklaut? Ja, schon klar, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus…

Was soll ich machen? Eine Anzeige gegen Unbekannt? Ich weiß, was ich mache. Ich gehe an die Presse. Das mache ich! Was? Das wollen wir ja mal sehen, ob die mir nicht glauben. Ich bin sicher, die Zeitung mit den vier Großbuchstaben interessiert sich dafür!“

Flughafen Rhein-Main. Zwei Frauen Mitte Dreißig, die eine, Sina, hat kurze braune Haare, die andere, Susi, lange blonde. Sie haben die Sicherheitskontrolle passiert und steigen jetzt in ihren Flieger nach Bangkok.

Sina: „Ich kann’s noch gar nicht fassen, Susi. Es hat geklappt! Wir sind FREI!“

Susi: „Wahnsinn, geht mir genauso. Hast du ‘ne Ahnung, wieviel Schiss ich hatte, als ich den Typen angehalten habe? Ich dachte, der checkt das sofort, gibt Vollgas und fährt mich über den Haufen!“

Sina: „Dein Plan war perfekt. Alles bis ins kleinste Detail vorbereitet, und dann nur noch auf den richtigen Augenblick gewartet. Aber als du mich dann angerufen und gesagt hast, dass es losgeht, da war mir plötzlich komplett komisch. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wo Patrick die Kelle hingelegt hatte.“

Susi; „Ich habe Gernots Mütze auch beinahe nicht gefunden. Er setzt sie ja praktisch nie auf, aber ich musste so lange suchen, ich dachte, ich schaffe es nicht mehr, bei dir die Kelle zu holen und rechtzeitig in Seckbach zu sein. Und dann musste ich noch ‘ne Stunde warten, bis der Typ endlich aufgekreuzt ist. Meinst du, unsere Männer checken, dass ihnen eine Kelle und eine Mütze fehlen und dass wir die geklaut und bei einem Überfall benutzt haben?“

Sina: „Keine Ahnung. Eher nicht. Dazu sind sie zu sehr von sich eingenommen. Egal. Wir haben‘s hinter uns. Ab jetzt ist entspannen angesagt. Und chillen. Und Party. Vielleicht.“

Susi: „Vielleicht. Aber diesmal passen wir genau auf, um nicht wieder an Typen wie unsere Ehemänner zu geraten. Wenn mich nochmal ein Mann anfasst – frühestens, wenn die letzten blauen Flecken, die Gernot mir verpasst hat, unter der Bräune verschwunden sind -dann nur, um mich zu streicheln. Sonst verpass ich ihm gleich eine, dass er weiß: diese Frau wird nicht misshandelt.“

Sina: „Jetzt hast du ja Übung darin, ’nem Mann einen überzuziehen. Damit hättest du viel früher anfangen müssen.“

Willkommen an Bord des Lufthansa Flugs 772 nach Bangkok. Ich bin Ihr Kapitän, mein Name ist Luisa Wolf, tönt es aus dem Lautsprecher.

Sina: „Eine Pilotin. Unser zweites Leben fängt supergut an.“

Frankfurt Höchst. Zwei Männer sitzen in einem Wohnzimmer, vor sich zwei Flaschen Henninger Bier. Sie schauen sich immer wieder an und schütteln die Köpfe. Ratlos.

Gernot: „Was machen wir jetzt? Meinst du, der Überfall auf den Typen hat was damit zu tun, dass wir am Nachmittag genau bei dem Juwelier waren wegen dem Ladendiebstahl?“

Patrick: „Kann ich mir gar nicht vorstellen. Woher sollte die Frau mit der falschen Verkehrskontrolle denn wissen, dass wir dem Filialleiter geraten hatten, die Tageseinnahmen mitzunehmen?“

Gernot: „Und dass die wie ‘ne Polizistin aussah? Ist das etwa auch Zufall?“

Patrick: „Was sonst?“

Gernot: „Mein Handy ist manipuliert worden. Vielleicht hat jemand alles mitgehört.“

Patrick: „Du schaust zuviel CSI.“

Gernot: „Und wo sind unsere Frauen? Hast du mal nachgeschaut, ob deine Ausrüstung komplett ist? Bei mir fehlt die Mütze.“

Patrick: „Du meinst, Sina und Susi? Die sind doch viel zu blöd für sowas. Außerdem haben wir die doch extra ins Wellness Wochenende in den Taunus geschickt, damit wir in Ruhe pokern können. Ich hoffe, du hast genug Geld dabei!“

Gernot: „Als mir das letzte Mal die Hand ausgerutscht ist, hat Susi gesagt: das machst du nie wieder. Oder ich mach dich fertig. Vielleicht stecken die zwei wirklich dahinter. Und was machen wir dann?“

Patrick: „Nichts! Oder willst du deinen Beamtenstatus und den Job verlieren? Wenn sie die Kelle und die Mütze jemals finden, können wir immer noch sagen, dass sie uns gestohlen wurden. Aber so dumm sind die Mädels sicher nicht. Wir haben sie einfach die ganze Zeit unterschätzt. Vor dem Typen brauchen wir keine Angst zu haben. Dem glaubt eh keiner. Und das geklaute Geld? Der hat bestimmt ‘ne top Versicherung. Nee, nee, wir halten schön still. Aber was machen wir mit Sina und Susi, wenn sie aus dem Urlaub zurückkommen?“

Gernot: „Zurückkommen? Du glaubst wohl noch an den Weihnachtsmann? Sieh*s mal positiv. Keine Scheidung, keine Verluste. Sollen die zwei mit dem Geld glücklich werden, solange es geht. Das sind eh die klassischen Opfer. Die haben in null Komma nix wieder den nächsten Herrn und Meister an der Backe.“

Wenn er sich da mal nicht täuscht.