Adventskalender MiniKrimi am 4. Dezember


Ausgemobbt

„Schau mal, die Kleine hat’s echt drauf. Ich glaub die steht auf SadoMaso.“ 

„Naja, war das SadoMaso, die Schultasche klauen?“ 

„Ne, aber das Begrabsche dabei.“ 

„Meinste?“ 

„Ist auch egal. Jedenfalls sieht’s doch so aus, als würde sie mehr davon wollen, oder warum rollt sie sonst so langsam vor uns her? Ist doch aufreizend, oder?“

„Total. Los, hinterher!“

Eine Woche zuvor. 

„Mist, verdammter!“ Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung schaut Anna dem Bus hinterher. Die Rücklichter färben den Nebel zuckerwattenrosa. Dann biegt er um die Ecke, und Anna starrt in das Winterdunkel der leeren Straße. Warum hat der Fahrer nicht auf sie gewartet? Er muss doch bemerkt haben, dass sie nicht da war. So ein Rollstuhl ist ja nicht zu übersehen. Und alles nur, weil nach dem Unterricht ihr Handy verschwunden war. Nicht verschwunden. Versteckt. Von Marvin und Flo. Beweisen kann sie es nicht, aber sie ist sich sicher. Die beiden lassen kaum eine Gelegenheit aus, um Anna zu mobben. Aber wer glaubt schon einem Rolli? „Bist du sicher, Anna? Vielleicht ist dir das Handy ja aus der Tasche gefallen,“ beschwichtigt die Lehrerin. „Heulsuse“, höhnen Jasmin und die Mädchenclique. 

Als sie es schließlich findet, ist es schon spät. Zu spät, um den Bus zu erreichen. Jetzt hat sie die Wahl: eine halbe Stunde warten oder den Weg nach Hause im Rollstuhl wagen. Zum Glück hat sie ihre Handschuhe dabei. Sie zieht die Kapuze ihres blauen Parkas fester und fährt los. Im Winter ist es nach der 7. Unterrichtsstunde schon fast dunkel. Und bei diesem Wetter läuft niemand freiwillig auf der breiten, zugigen Allee. Dann hört Anna Schritte. Immer schneller. Immer näher. Sie hat keine Chance. Marvin und Flo holen sie ein. Schubsen ihren Rollstuhl hin und her. Anna schimpft. Anna schreit. Schließlich versucht Marvin, ihr die Schultasche vom Schoß zu reißen. Dabei berührt er ihre Arme, ihre Brust. Flo lacht. Marvin wirft ihm die Tasche zu. Flo fängt sie auf, wirft sie zu Boden, sie kicken sie eine Weile hin und her. 

Da fährt eine dunkelblaue Limousine an ihnen vorbei, wird langsamer. „Hey, lasst sofort das Mädchen in Ruhe“, ruft eine Stimme durch die heruntergelassene Scheibe.“ Die zwei drehen sich um, starren den Fahrer an und rennen weg. „Alles ok?“, fragt die Stimme. Der Wagen hält an. Der Fahrer steigt aus. Anna schluckt. Er ist klein und drahtig, sieht aus, als wäre er ein Junge in ihrem Alter. Behände bückt er sich, hebt ihre Tasche auf, legt sie ihr in den Schoß und sagt: „Ich pass auf dich auf, Kleine. Die bist du los!“

Dann steigt er in den Wagen und fährt weg. 

Anna rollt nach Hause. und grübelt über die Worte des Fremden nach.

„Los, Marvin, lauf ma schneller. Hey, die legt heute ein Tempo vor.“

„Ja, Wahnsinn. Aber gleich haben wir sie, da vorne, an der Ampel.“

Tatsächlich schaltet die Ampel gerade in dem Moment auf rot, als der Rollstuhl mit der schmalen Person im blauen Parka die Bordsteinkante erreicht. Ein hastiger Blick nach links, dann nach rechts: die Allee ist an diesem nebelgrauen Spätnachmittag wie leergefegt.

„Pech, Süße, diesmal kommt dein Autofahrer nicht angerauscht, um dich zu retten. Jetzt biste dran.“

Und mit lautem Gegröle stürzen sich Marvin und Flo auf den Rollstuhl. „Stimmt, keine Zeugen!“, zischt die Person im blauen Parka. Eine Klinge blitzt auf, kurz, als die Ampel auf gelb schaltet. Bei grün liegen zwei leblose Körper am Straßenrand. Am Bordstein geparkt, ein klappriger Rollstuhl. Leer. Ein Stück weiter hinten wartet eine dunkelblaue Limousine. 

Am nächsten Morgen ist der brutale Mord an zwei Schülern der Gesamtschule an der Siegesstraße die Top-Schlagzeile in allen Medien. Annas Klasse hat zwei Mitschüler verloren. Annas Verlust ist größer: Zwei Verfolger – und ihr Vertrauen in das Gute im Menschen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel. 

Adventskalender-MiniKrimi vom 18. Dezember


Manchmal ist eine Story so gut, dass man sie ruhig nochmal bringen kann. Bitte sehr:

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Darum geht es nicht.

„Mist, Mist, Mist. Verdammter Mist!“ Manfred spürt, wie ihm die Hitze in die Stirn steigt. Schweißperlen tropfen vom Rand der Skimaske auf seine Wimpern. „Verdammt, Harry, wo bleibst du?“ Er schüttelt sein Handy. Eine reine Übersprungshandlung. Das Display bleibt dunkel. Harry ruft nicht an. Bis jetzt ist alles perfekt nach Plan verlaufen.  Von dem Moment an, wo Manfred in den Schalterraum gesprungen ist und gebrüllt hat (etwas zu laut, aber daran waren die vielen US-Serien schuld, die er sich als Trainingsvideos reingezogen hatte) „Das ist ein Überfall“, bis jetzt, wo er mit einem Rucksack und zwei Plastiktüten voller Geld an der Tür steht. Die Leute in der Bank haben mitgemacht, als hätten sie ihre Rollen auswendig gelernt. Die Kunden haben sich auf den Boden gelegt, die Angestellten unter die Bänke. Keiner hat gewagt, den Alarm auszulösen, nachdem Manfred dem Filialleiter rein prophylaktisch die Hand zerschossen hat, mit seiner alten, vor Jahren geklauten Walther PPK. Die Männer haben sich vor Angst in die Hosen gemacht! Und die Frauen haben gewimmert. „Bitte, tun Sie mir nichts!“ Und es hat fast so geklungen, als wären sie bereit, sogar die Beine breit zu machen, für ihn, wenn er es ihnen befehlen würde. Eine Sekunde lang spielt Manfred mit dem Gedanken. Wenn er sowieso auf Harry warten muss….. Aber das ist natürlich nur ein Trick, den ihm das Adrenalin spielt. Er weiß genau, er hat noch höchstens fünf Minuten, dann kriegen die Bullen Wind von dem Überfall. Schon stehen die ersten Passanten vor der Bank, einer zückt sein Handy. „Verdammt, Harry, warum kommst du nicht?“

Manfred weiß es nicht, aber Harry kann nicht kommen. Auf dem Weg zur Bankfiliale ist ihm einer reingefahren, während er in seinem gestohlenen Wagen brav an der roten Ampel hielt. In diesem Moment klebt Harry am Airbag, sieht tausend Sterne und wird von Passanten so aufmerksam umsorgt, dass er nicht mal abhauen kann, bevor die Polizei auftaucht.

Manfred muss sich entscheiden. Er fuchtelt ein letztes Mal mit der Walther in der Luft herum, schießt eine Neonröhre von der Decke und schreit: „Keiner rührt sich, bis ich weg bin, ich knall euch auch durch die Scheibe ab, wenn’s sein muss!“ Dann geht er auf die Straße und hält das rote Auto an, das gerade vor der Bank einparkt. Er springt auf die Straße, reißt die Fahrertür einen Spalt weit auf und zischt: „Los, aussteigen, aber’n bisschen pronto.“ Dabei hält er der Fahrerin die Pistole direkt vors Gesicht. Sie schaut ihn an. Aus großen, braunen, mit schwarzem Kajal ummalten Augen. Sagt kein Wort. Und bewegt sich nicht. „Hey, du Schlampe. Wird’s bald?“ Keine Reaktion. Sie schaut ihn nur an aus ihren großen braunen Augen. Schweigend. Und Manfred schaut zurück. Das hat er noch nie erlebt. Sie gehorcht ihm einfach nicht. Gehorcht. Ihm. Nicht. Hat sie keine Angst? Was mach ich jetzt?, schießt es ihm durch den Kopf. Seine Verwirrung dauert nur ein, zwei Sekunden. Doch das genügt. Sie packt den Griff der Autotür von innen und schlägt sie ihm, so fest sie kann, gegen den zu ihr gebeugten Kopf.

Manfred fällt zu Boden. Und dann, endlich, kommen zwei, drei, vier Personen, entreißen ihm die Waffe. Die Polizei ist da. Als sie ihm Handschellen anlegen, dreht er den Kopf und schaut herüber zu der Frau im Auto. Auf der Scheibe klebt ein großes Rollstuhlfahrerzeichen. „Warum haben Sie das nicht gesagt?“ hört er sich rufen.

„Darum ging es nicht“, ruft sie zurück. Und schaut ihn an. Aus großen, braunen, schwarz ummalten Augen.

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