MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Liebe im Winter

Über Nacht war es Winter geworden. Die Natur hatte sich der Sehnsucht der Menschen gebeugt und spiegelte endlich die Lieder wieder, die seit drei Wochen in vieler Munde und aller Ohren schwangen und sangen. Zuckerwatte auf den Ästen, die Hecken und Mauern trugen glitzernde Decken und alle Pfosten spitze weiße Hüte.

Inka, die das Adventswochenende bei ihren Eltern verbrach hatte, damit der Pflicht genüge getan und sie über Weihnachten von Familientreffen befreit war, hatte nur eines im Sinn: sie wollte so schnell wie möglich nach Hause. Zu Hause, das war eine verträumte Maisonette in einem modernisierten Jugendstilhaus am Rande des Glockenbach-Viertels. Unten waren Küche, Lounge und Inkas Raum. Oben auf der schmalen Galerie, die die gesamte Wohnung umrundete, breitete sich Ellas Reich aus, so bunt und üppig wie ihre blumige Persönlichkeit. Beim Einzug war Inka sofort klargewesen, dass sie die Wohnung nur so aufteilen konnten. Ella brauchte ein Wolkenkuckucksheim, um ihren Gedanken Form zu geben. Sie brauchte Licht, um sie auf die Leinwand zu bannen. Wobei bannen das falsche Wort war. Sie brachte die Leinwand mit kraftvoll strahlenden Farben zum Leuchten, zum Vibrieren, und keiner, der ein Bild von Ella sah, konnte dem Impuls widerstehen, zu schweben. Trotzdem verkaufte sie selten ein Bild. Sie war keine Verhandlungskünstlerin. „Ich bin doch nur unteres Mittelmaß“, sagte sie, wenn wieder ein Austellungstraum geplatzt war. Aber Inka wusste es besser. Es musste nur der richtige Mensch kommen, einer mit einer ganz besonderen Seele. In der Zwischenzeit stapelten sich die Bilder an den Wänden der Galerie entlang.

„Ella, bin wieder daaaa!“, rief Inka, während sie den Schlüssel abzog und ihren Rollkoffer in den kleinen Flur schob. „Ella?“ Komisch. Um diese Zeit war ihre Mitbewohnerin eigentlich gerade erst aufgewacht und versuchte, mit einer großen Portion Koffein die Traumweben aus dem Kopf zu verscheuchen. Ah, wahrscheinlich saß sie oben im Wintergarten und genoss zum Frühstück den Ausblick auf den plätschernden Glockenbach und seine verschneiten, efeudurchfurchten Ufer. Durch die gotischen Fenster streute die Wintersonne breite Strahlen von der Galerie hinunter in die Lounge.

Jedes Mal, wenn Inka die Wohnung betrat, fühlte sie sich so wohl, dass es schmerzte und sie befürchtete, es müsse gleich ein Unglück geschehen, weil so viel Freude zuviel Freude für einen einzigen Menschen war. Aber sie war ja nicht allein. Sie genossen dieses Glücksgefühl zu zweit. Auch ein Jahr nach ihrem Einzug konnte Inka die Verkettung von Zufällen nicht fassen, die sie und Ella in dieser WG zusammen gebracht hatte. Beide auf Wohnungssuche, beide verliebt in die Maisonette, beide realistisch genug, um zu wissen, dass sie den Preis dafür alleine nicht zahlen konnten. Bis der Makler beiläufg erklärte: „Sie müssen natürlich beide im Mietvertrag stehen, aber das ist ja selbstverständlich. “ Er hatte gedacht – ja, was?

Ein Jahr später waren Inka und Ella nicht nur Mitbewohnerinnen, sondern Freundinnen geworden. Gegensätze ziehen sich an, sagt der Volksmund, auf den weder Ella und noch Inka etwas gaben. Und trotzdem: die Malerin und die Bankerin harmonierten wie die zwei Seiten einer Medaille. Sie verstanden sich so gut, dass sogar ihre Freundeskreise zu einem einzigen verschmolzen.

„Ella, bist du im Bad?“ Inka meinte, Wasserrauschen zu hören. Eigentlich badete Ella meist am Abend. Aber wer weiß, vielleicht war sie gestern nach dem Termin zu müde gewesen. Ein wichtiger Termin mit einem jungen Galeristen, der Interesse an Ellas Bildern gezeigt hatte. Sie wollten Details einer Ausstellung im Frühjahr besprechen. In Wien! Inka hatte den ganzen Abend und die halbe Nacht hindurch immer wieder auf ihr Handy geschaut und auf eine Nachricht von Ella gewartet. Aber naja, wer weiß, vielleicht hatte sie keine Zeit zum Texten gehabt. Vielleicht war sie nicht alleine gewesen. Bei diesem Gedanken spürte Inka einen Stich dort, wo sie ihr Herz verortete. Sie waren gute Freundinnen. Beste, vielleicht sogar. Aber nicht mehr. Nein! Und dennoch: Inka wollte sich nicht vorstellen, was Ella mit dem Galeristen getan haben könnte. Basta.

„Ella!“ Inka lief die Treppe zur Galerie hinauf. Was war das? Die Stufen waren nass? Jetzt erst sah sie, dass der Teppich in der Lounge offenbar durchtränkt war. Sie eilte ins Bad. Das Wasser lief in die Wanne und über den Rand, die Fliesen entlang, in den Flur und die Treppe hinunter. Und in der Wanne lag Ella. Bleich und mit aufgeschnittenen Pulsadern. Längs.

Nach dem ersten Schock war Inka sofort klar, was passiert sein musste. Der Galerist! Irgend etwas musste bei dem Treffen gestern schiefgelaufen sein. Inka lief zum karmesinroten Sofa, das den Mittelpunkt der Galerie bildete. Beschattet von einem smaragdgrünen Baldachin und mit ungezählten Kissen in safran, orange, pink und blau. Aber statt mit einladenden Polstern war das Sofa jetzt mit Ellas Bildern übersät, mit verstümmelten, zerstörten Kunstwerken. Zerschnittene Leinwände hingen lose an zerbrochenen Rahmen. Einige davon waren sogar verkohlt. Verkohlt? Tatsächlich, in dem großen Glasaschenbecher, in dem Ella normalerweise Räucherkegel abbrante, lagen fünf Zigarettenstummel.

Und darunter, halb unter dem Sofa versteckt, ein goldener Manschettenknopf. Unfassbar! Es musste zum Streit gekommen sein, warum auch immer. Dann hatte der Mann Ella ermordet. Ob kaltblütig oder im Affekt, das sollte die Polizei herausfinden. Jedenfalls hatte er alles getan, um Ellas Tod wie Selbstmord aussehen zu lassen. Ella und Selbstmord! Inka wusste natürlich, dass allein die Vorstellung absurd war. Aber sie würde schon dafür sorgen, dass die Ermittlungen in die richtige Richtung liefen und zur Festnahme des Mörders führten.

Inka ging in ihr Zimmer. Bevor sie die Polizei rief, setzte sie sich auf ihr Bett und zwang sich, zur Ruhe zu kommen. Sie musste jetzt alle fünf oder besser noch sieben Sinne beisammen haben.

Die Kriminalbeamten waren sehr nett. Sie hörten Inka aufmerksam zu, nahmen die Beweismittel – Zigarettenstummel und Manschettenknopf – an sich und versicherten Inka, alles Nötige zu tun, um den Fall schnell abzuschließen. Ella war jetzt kein Mensch mehr, kein pulsierendes, vibrierendes lebendiges Wesen. Sie war ein Falll. Das war alles SEINE Schuld. Und das sollte er büßen!

Eine Woche lang hörte Inka nichts von der Polizei. Sie rief täglich an, doch die „Kollegen“ waren nie für sie zu sprechen.

Eines Abends, Inka saß mit hochgezogenen Knien auf Ellas Sofa und starrte in die immer noch magisch weiße Winterwelt, klingelte es an der Tür.

„Frau Behrens, dürfen wir reinkommen?“ „Ja, natürlich! Endlich! Sie haben „den Fall“ abgeschlossen? Hat er gestanden?“

Frau Behrens, leider müssen wir sie bitten, mit aufs Kommissariat zu kommen.“ „Wie bitte? Ich? Warum?“ „Das erklären wir Ihnen dann alles genau. Möchten Sie einen Anwalt oder eine Anwältin hinzuziehen?“

Wie eine Marionette ließ Inka sich von den Beamten aus der Wohnung begleiten, in den Fahrstuhl, auf die Straße und in ihr wartendes Auto. Im Kommissariat saßen sie an einem Metalltisch, um sie herum Technik und grelles Licht.

„Frau Behrens, haben Sie Ihre Freundin ermordet?“ „WAS?“ Schlagartig war Inkas Lethargie verflogen. „Was fällt Ihnen ein? Ich soll Ella ermordet haben? Was für ein Schwachsinn. ich habe sie geliebt! Wir haben uns geliebt!“ So. Jetzt hatte sie es gesagt. Zum ersten Mal. Aber zu spät.

„Frau Behrens, die Sache kann sich nicht so abgespielt haben, wie Sie sie uns geschildert haben. Zum Zeitpunkt, als Frau Bach starb, war Herr Walter, der Galerist, nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern bei seinem Freund, wo er übrigens auch übernachtet hat. Er kann es also nicht gewesen sein. Aber Sie haben Beweismittel unterschlagen.

„Ich habe was?“ Der Kommissar öffnete die Akte auf dem Tisch und entnahm ihr eine Plastikhülle. Darin lag ein Stück Papier. Löschpapier.

„Ihre Freundin hat mit Tinte auf Papier geschrieben, eine Seltenheit, heutzutage. Und dann hat sie das Geschriebene auch noch mit Löschpapier getrocknet. Unseren Spezialisten ist es gelungen, den Inhalt des Briefes wiederherzustellen. Er war für sie. Ich denke mal, Sie haben ihn in Ihrem Zimmer gefunden. Und in Ihrer Trauer und Ihrer Wut haben Sie beschlossen. sich an Walter zu rächen und ihm den Selbstmord Ihrer Freundin als Mord in die Schule zu schieben.

Soll ich Ihnen den Brief vorlesen?“

„Nicht nötig,“ flüsterte Inka unter Tränen. „Aber er hat sie umgebracht. Indirekt. Er ist Schuld an ihrem Tod. Er hat mir Ella weggenommen. Mir und der ganzen Welt. Ich wollte, dass er leidet. Es geschieht ihm Recht.“

Ellas Abschiedsbrief:

Liebste Inka,
bitte, du darfst nicht erschrecken, wenn ich dich so nenne. Ich habe das nie gemacht. Aber du bist für mich viel mehr als „nur“ eine Freundin. Ich…. liebe dich. Und ich hoffe, ich spüre, du liebst mich auch. Wie traurig das Leben ist! Was hätten wir beide zusammen alles erleben können. Aber ich kann nicht mehr. Die Ausstellung im Frühjahr war meine letzte Hoffnung. Die Brücke zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Aber als Walter meine Bilder sah, sagte er, das sei gefällge Kunst.Schön und bunt. Aber in seiner Galerie stellt er nur große Talente aus. Meine Bilder seien gutes Handwerk, aber nicht genial. Und als ob er mich damit nicht schon genug gedemütigt hätte, bot er mir einen „Deal“ an. Weil er mich nett fand. Ich sollte mit ihm ins Bett gehen. Eigentlich bevorzugt er Männer, aber bei mir würde er gerne eine Ausnahme machen. Und dann könnten wir nochmal über die Ausstellung sprechen.

Liebe Inka,. du kannst dir das wahrscheinlich nicht vorstellen, aber da bin ich ausgerastet. Ich habe ihn an seinem Ärmel vom Sofa hochgerissen und praktisch die Treppe runtergestoßen.

Als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, bin ich ins Bad gegangen. Die Wanne ist jetzt voll. Ich lege mich hinein. Bitte verzeih mir, aber ohne meine Kunst kann ich nicht leben. Und ohne dich auch nicht.

Leb wohl.

Adventskalender MiniKrimi am 5 .Dezember


Catch me if you can

(Die Texte stammen größtenteils aus einer tatsächlichen Unterhaltung, die ich mit einem Romance Scammer geführt habe. Ich recherchiere seit geraumer Zeit zu diesem Thema)

An einem Sommerabend vor 6 Monaten:

Mark Reinhart hat dir eine Freundschaftsanfrage geschickt.

WTF ist Mark Reinhart? Aha, aus Frankfurt. Alter Bekannter? Neuer Fan? Hm. Nettes Profilbild. Ah. Geschieden. Dann nehme ich die Freundschaft mal an. 

Keine 10 Sekunden später eine neue Nachricht:

Hallo, guten Abend. Schön, dich kennenzulernen. Wie geht es dir im Moment? 

Hallo auch. Im Moment geht’s mir ganz gut. Und selbst?

Danke der Nachfrage. Nun, ich unterhalte mich gerade mit dir und bin dabei, dich kennenzulernen. Das ist sehr schön.

Ok. Aber wie bist du auf mich gekommen?

Ich habe Ihr Profil gesehen, und Sie haben mir gefallen, weil Sie eine schöne Frau sind.

Ah. Daher weht der Wind. Was für ein Glück!

Danke für die Blumen. Ich habe mir auch dein Profil angesehen – und ich denke, du bist ein Romance Scammer. Habe ich recht?

Okay, meine Liebe. ich sage Ihnen mit so viel Selbstachtung und Höflichkeit, dass Sie viel Respektlosigkeit zeigen, wenn Sie so von mir denken. Meine ganze Absicht war nur, einen großartigen Geist wie dich zu kennen. Aber ich frage mich wirklich, woher diese Frage kommt, weil ich es als Missachtung meiner Persönlichkeit sehe. Ich bin Chirurg und leite eine Abteilung für freie Medizin in einem Krankenhaus in Aleppo. Ich arbeite dort für die UN.

Wow. So ein langer Text. Das ist vielversprechend!

Ich will dir sagen, woher meine Frage kommt. Letztes Jahr hat sich eine Freundin von mur umgebracht, nachdem ein Romance Scammer sie erst um 10 Tausend Euro betrogen und ihr dann das Herz gebrochen hat. Sie hat Selbstmord begangen. Seitdem recherchiere ich, um die Leute zu finden, die ihr das angetan haben. Ich vermute, dass eine Organisation dahintersteckt. Ich schlage dir einen Deal vor: Info gegen Cash. 

Meine Liebe, Sie sind entweder völlig unverschämt oder sehr dumm. Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich wollte dich kennenlernen, weil du eine interessante Person bist. Was ist dein Beruf und wo wohnst du? Ich lebe zurzeit in Aleppo, aber ich komme aus Frankfurt. Dort lebt meine kleine Tochter. Hast du auch Kinder?

Das geht Sie nichts an. Ich biete Ihnen Geld, wenn Sie mir etwas darüber sagen, warum Sie Romance Scammer geworden sind. Arbeiten Sie alleine? Müssen Sie das Geld, dass Sie ergaunern, abgeben? Wo leben Sie? Ich merke doch, dass Sie nicht wirklich Deutsch können. Lassen Sie uns einfach mit offenen Karten spielen. Wer sind Ihre Hintermänner? 

Okay. Ich bin ein Mann, der mit Beweisen und Fakten arbeitet. Die Art, wie Sie schreiben, scheint ein Teil der Terroristen zu sein, die wir zu vermeiden versuchen. Ich arbeite für die UN, und wir haben Methoden, Terroristen wie dich zu vernichten.

Ah ja. Jetzt kommen wir der Sache endlich näher.

Wunderbar! Und ich versuche, Kriminellen wie Ihnen das Handwerk zu legen. Letzte Chance: helfen Sie mir. Oder ich zeige Sie an. You can help me – or I will sue you.

You are a very big fool. Don’t do something that will get yourself in problem. 

Ok – what do you wanna do to me?

I will fuck you up in so many ways. Ich habe Ihre Daten gespeichert. Das ist kein Spiel. Passen Sie auf.

Ich habe keine Angst vor Ihnen.

Das sollten Sie. Hören Sie auf, nach uns zu recherchieren. Oder Sie sind tot.

An dieser Stelle bricht die Unterhaltung ab. 

Als ich am nächsten Morgen meinen Computer starte, erkennt er mein Passwort nicht. Stattdessen erscheint auf dem Bildschirm in schwarzer Schrift der Satz: Lass uns in Ruhe.

Seitdem bin ich auf der Flucht. Meine Kreditkarte wurde geknackt. Mein Email-Account auch. Meine Freund*innen haben Hate-Mails erhalten und wollen nicht mehr mit mir sprechen. Ich habe Angst. Aber ich gebe nicht auf. Ich habe ein Ziel.  Ihr lest wieder von mir. 

Adventskalender Minikrimi am 1. Dezember 2019


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Ich möchte diesen ersten Minikrimi @dieKali widmen, der Metahasenbändigerin, Onkobitch. Weil ich ihre Kreativität bewundert habe, die trotz, wegen und in ihrer Krankheit aus ihr sprudelte, ihren Esprit, ihren Witz, ihren Mut. Bis zuletzt. Chapeau.

Schwanensee

Im Radio hatte er gehört, der Advent sei eigentlich eine Zeit, in der die Menschen aus ihrer Komfortzone heraustreten sollten. Eine Zeit, die auf die Grausamkeiten, die Schrecken und die Ungerechtigkeit der Welt hinweist. In den Straßen der Stadt war davon nichts zu spüren. Im Gegenteil – alles schien in Zuckerwatte eingesponnen, mit Makronenduft besprüht und von Glitzerlicht erhellt. Eine unwirkliche Bühne für ein unrühmliches Spektakel, das die schlechtesten Seiten unserer Konsumgesellschaft zur Schau stellte.

Er floh – wie so oft und immer öfter – in die Stille, joggte fast schon hastig  den Weg zum Stadtpark, durch das Tor, den Hügel hinauf und dann über die Wiese hinunter zum See. Der graue Weimeraner trabte routiniert rechts neben ihm, Herr und Hund: ein eingespieltes Team.

Der See lag heute in Nebel gebettet, die Wasserfläche ein schwarzes, regloses Auge, die Fichten am gegenüberliegenden Ufer wie lange Wimpern, Schneeflocken verfingen sich darin und rieselten herab, stille Wintertränen. Plötzlich löste der Weimeraner sich von der Seite seines Herrn, stand einige Sekunden reglos, mit der Nase Witterung aufnehmend, dann preschte er in eleganten Sätzen zum Ufer des Sees, ein Meistertänzer auf vier Beinen. Sein Besitzer starrte ihm nach, dann rief er. Er pfiff. Der Hund reagierte nicht, flog über das Gras, die Böschung hinab und blieb dann ganz unvermittelt stehen, die Pfoten in den mit Schnee und Schlamm vermengten Kies gestemmt, den Kopf schief gelegt, als beäugte er eine Beute. Dem Besitzer blieb nichts anderes übrig. als seinem Hund zu folgen. Weitaus weniger grazil erreichte er, schlitternd und fluchend, den Saum des Sees.

Der Weimeraner stand keine zwei Meter von ihm entfernt. Vor ihm lag ein weißer gefiederter Körper. „Der sterbende Schwan“, dachte der Mann unwillkürlich, denn die Szene vor dieser winterlichen Kulisse war ihm, dem Produzenten einer Vielzahl weltberühmter Ballettinszenierungen, mehr als nur vertraut.

Aber er korrigierte sich sofort. Das war weder ein Schwan, noch kämpfte das Mädchen  mit dem Tod um das Leben. Sein Körper war von weißen Federn bedeckt, sie bewegten sich mit den leisen Uferwellen auf und ab, auf und ab, das Echo eines erloschenen Atems. Er zwang sich, näher zu kommen. Die Federn waren nicht echt.  Billige Engelsschwingen, jetzt im Advent in fast jedem Dekodiscounter zu finden. Sie bedeckten die Schenkel, die Scham, den Bauch und die Brüste. Der Hals ragte lang und weiß aus den Federn hervor, umrahmt von rotbraunen Locken. Die Haarfarbe erinnerte den Mann an –

Er kniete sich neben die Tote. Beugte sich über sie, um das ihm abgewandte Gesicht zu betrachten, die blicklosen Augen auf die Fichten gerichtet, um den Hals eine Kette aus geronnenem Blut. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Aber er sagte kein Wort, er dachte auch nicht ihren Namen. Stattdessen umfing ihn eine große, eisige Stille. Er sah hinüber zum anderen Ufer, an dem tatsächlich ein einsamer  Trauerschwan gelandet war und sein schwarzes Gefieder schüttelte.

Er wusste, wer seine Tochter getötet hatte. Er wusste, warum. Und er wusste, dass er ihr nichts entgegenzusetzen hatte.

Der Schwan glitt ins Wasser und setzte zum Abflug an. Der Mann sah eine Ballerina im schwarzen Tütü, wie sie ihre Arme hob und für ihn Pirouetten drehte, noch eine und wieder eine. Nadja war die Primaballerina seines Herzens gewesen, er hatte sich Hals über Kopf in ihren Tanz verliebt. Aber dann war die Erste Solistin von ihrer Erkältung genesen, Nadja war zurück ins Corps de Ballet gerückt worden, und der junge Produzent hatte die große Karriere, die internationalen Erfolge nicht mit Nadja erreicht, sondern mit ihrer Gegnerin, mit Silvana, dem weißen Schwan.

Er hatte Nadja und seine Liebesschwüre natürlich schnell vergessen. Vor allem, als Silvana ihm eine Tochter geschenkt hatte.  Flora. Ein neuer Stern am Balletthimmel. Eine neue Giselle, ein strahlender Schwan, eine perfekte Odette.

An den schwarzen Stamm einer Fichte gelehnt, starrte Nadja zu dem Mann hinüber, der sie seit dieser Schwanensee-Probe in all ihren Träumen verfolgte. Den sie verfolgt hatte. Nach dem Sturz, dem Karriere-Aus hatte der Wunsch nach Rache ihr Leben bestimmt.

Jetzt war da nur noch eine große, eisige Stille.

Nach zwanzig Jahren gingen sie sich entgegen, ohne aufeinander zu treffen. Zu tief war der See. An einem Wintertag im Advent wurden drei Leichen geborgen. Ein junges Mädchen mit durchtrennter Kehle und zwei Ertrunkene.

 

Sturz ins Bodenlose


Sturz ins Bodenlose

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Sturz ins Bodenlose

Es sollte ein Neuanfang werden. In einer neuen Stadt, mit einem neuen Job und einer neuen Liebe. In München wollte Iva Brenner alles hinter sich lassen, den despotischen Vater, den Krebstod der Mutter, die gescheiterte Ehe. Aber dann holt sie die Vergangenheit ein. Und in der trügerischen Idylle des Landsberger Sommers durchlebt Iva ihren ganz persönlichen Psycho-Thriller.

Lust zu Lesen? Hier ist der Link: https://reader-club.sony.de/web/guest/leseproben

Und noch etwas: Keine Angst vorm dicken Schmöker: es ist ein KURZ-Krimi 🙂 !