Mein Engel
Es war ein sonnig kalter Dezembertag. Morgenrot belegte die braungrauen Äste mit einem Frühlingslächeln und lud sie ein, sich in den oberen, reifbekränzten Fensterscheiben der Altstadthäuser zu spiegeln. Justus ließ den Motor laufen, während er das Taxi von Eis und Schnee befreite. Die Vollzeit-Kollegen durften neue Garagen-Autos fahren. Für ihn als Teilzeit-Taxler hatte die Zentrale nur die ältesten Modelle mit Laternenparkplatz übrig. Aber wenn Gabi die Aufträge verteilte, bekam er wenigstens Fahrten mit guten Stichen. So wie jetzt: Abholung am Nymphenburger Kanal, Ziel: die Dermatologische Klinik in der Innenstadt. Runde 30 Euro – ein guter Start in den Tag.
Justus war schon ein paar Minuten vor der bestellten Abholzeit an der angegeben Adresse. Ein dreistöckiges Jugendstilhaus, dessen Balkone auf den gefrorenen Kanal mit den Eisstockbuden und Bahnen schauten. Bei laufendem Motor wartete er darauf, dass sein Fahrgast aus der hohen Tür trat. Da klopfte es an seine Scheibe. „Guten Morgen, ich habe ein Taxi bestellt.“ Die junge Frau war klein und zart, mit langen roten Locken, in denen glitzernde Eiskristalle nisteten. Ihre Haut hatte die Transparenz einer Teetasse, die Augen darin wie kräftiger Earl Grey, Nase und Mund unsichtbar hinter der schwarzen Maske, der Körper eingehüllt in ein schwarzes Cape.
Während der Fahrt unterhielten sie sich, und es fiel ihm erst hinterher auf, dass sie nicht eine einzige Belanglosigkeit ausgetauscht hatten. Dass dieses Wintermorgenlicht Mut in den Tag goss, bis man meinte, überzufließen vor Lebenslust. Dass die Krähen genau wussten, wer ihnen Futter bringen und wer sie mit Steinschleudern jagen würde, noch bevor ihnen jemand begegnete. Und, aber da waren sie schon fast an dem ehrwürdigen Klinikgebäude angekommen, dass sie beide studierten, er Kunst und Musik und sie Dramaturgie. „Es gibt keinen Zufall“, sagte sie durch die geöffnete Wagentür. „Bis……“. „Ja, bis…..“, antwortete Justus. Und sah zu, wie die kleine Gestalt, schwarz und rot, in dem großen Gebäude verschwand.
Diese Episode wiederholte sich an den darauffolgenden Tagen. Er wartete mit seinem Taxi vor dem Jugendstilhaus, nie gelang es ihm, zu sehen, wie sie aus der Tür trat. Immer klopfte sie unvermittelt an die Scheibe. Nie waren es Belanglosigkeiten, über die sie während der Fahrt sprachen. Stattdessen entdeckten sie immer mehr Gemeinsames. Theatergeschmack, Musik, Literatur. Ja, auch in ihrer Vergangenheit hatten sie oft das Gleiche gesucht, gewollt oder gemacht. Hatten Stunden damit verbracht, Fledermäuse zu zeichnen, waren zu Fuß von Bozen nach Venedig gewandert und hatten sich über Nacht in einer Kirche einschließen lassen, heimlich, um nach unterirdischen Geheimgängen zu suchen.
Nur den Grund für ihre täglichen Besuche in der Klinik verschwieg sie ihm. Und Justus fragte ebenso wenig danach wie nach ihrem Namen. „Sie wird mir alles sagen, dann, wenn sie soweit ist,“ dachte er. Und er wusste: sie war der Grund, warum er seit Jahren Taxi fuhr, mit geringem Verdienst und großer Anstrengung. „Es gibt keinen Zufall.“
Dann kam ein Morgen, an dem die Schneewolken tief in den Himmel hingen. Der Tag wollte nicht aufwachen und sich das wenige Licht lieber schenken, denn es war Wintersonnwende und ohnehin in wenigen Stunden schon wieder ganz dunkel. „Hol mich heute Nachmittag wieder ab. Ich warte auf der anderen Straßenseite, vor dem Friedhof. Um fünf.“
Eigentlich hatte Justus an diesem Abend gar keine Schicht. Und kein Taxi. Den halben Tag verbrachte er damit, sich das Auto eines Freundes zu organisieren. Die andere Hälfte entpuppte sich als Folge kleiner Ewigkeiten, endlos aneinander gereihte Minuten.
Um fünf stand er vor dem Friedhof. Längst lag ein schwarzer Mantel über den Dächern, das Krankenhaus gegenüber trug ein graues Nebelgewand, durchbrochen von gelben Rechtecken, in denen Figuren sich bewegten wie in einem magischen Theater. Das Friedhofstor schien ins Nichts zu führen, oder direkt in das dunkle Herz derallerlängsten Nacht.
„Justus, da bist du ja. Komm.“ Aus dem Nebel hinter dem einen Spalt breit geöffneten Friedhofstor griffen kalte Finger nach seiner Hand. „Komm, oder hast du Angst? Ich will dir was zeigen. Das musst du sehen.“
Ihre Stimme war heiser, und ihre feuchten Locken verdeckten halb ihr Gesicht, in dem er ihre Augen erahnen konnte, die Farbe von starkem Earl Grey. Und ihren Mund. Groß und rot. Sie trug keine Maske. „Ist dir noch nie aufgefallen, dass wir die gleichen Haare haben? Und Augen?“, fragte sie. Und ja, es stimmte. Und nein, es war ihm noch nie aufgefallen. Justus betrachtete sich selten im Spiegel. Zu oft hatte er gehört, er sähe aus wie ein Mädchen. „Komm, Justus. Komm weiter.“ Und sie zog ihn tiefer und tiefer hinein zwischen die verwitterten Grabsteine, die efeuumrankten Statuen, Kreuze und Grabmale. Vor einem Engel blieb sie stehen. „Hier sind wir, Justus. Schau nur.“
Der Name auf dem Grabstein war der seiner Familie. Von Wagner. „Na und? Es gibt viele, die so heißen.“ „Ja. Ich auch.“ „Wie, du auch?“ „Ich heiße so wie du, Justus. Du bist mein Bruder. Ich bin deine Schwester. Und das ist das Grab unserer Urgroßeltern.“ „So ein Quatsch“, murmelte Justus, der als Student zwar Romantiker war, aber jetzt von dem pragmatischen Taxifahrer übertönt wurde. Dieser fühlte sich vor der Kulisse nachtdunkler Gräber plötzlich äußerst unwohl.
„Ach, Justus. Du spürst es doch auch! Wehr dich nicht dagegen. Es gibt keine Zufälle. Ich brauche dich. Nur du kannst mir helfen, nur du kannst mich retten.“ Und sie drehte ihm ihr Gesicht zu, dessen untere Hälfte von einem tiefdunklen Feuermal entstellt war. „Ich brauche dein Blut, deine zarte, weiße Haut. “
Aus der Manteltasche zog sie ein Skalpell, und mit raschen Schnitten trennte sie seine Haut von der Wange. So schnell, dass Justus kaum schreien konnte, bevor er ohnmächtig vor Schmerz am Fuß des Engels zusammenbrach.
Justus überlebte, allerdings nur, weil ihn ein paar angetrunkene Burschenschafter auf Mutprobentour entdeckten und ohne zu zögern ins Krankenhaus gegenüber brachten. Während seines Klinikaufenthaltes recherchierte er viel und fand ein paar Zeitungsartikel, die von einer wunderschönen, psychisch kranken Frau berichteten, die davon besessen sei, ihren Naevus flammeus durch Transplantation heilen zu können und dazu junge, mädchenhaft aussehende Männer stalkte. Ihr fehlte offenbar das Geld für eine aufwändige Lasertherapie.