MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Krieg der Schneesterne

Es gibt Kriege, die dauern Jahre an. Jahrzehnte, sogar. Der längste über ein Vierteljahrhundert, ungefähr von 1618 bis 1648, der Vietnamkrieg wütete von 1955 bis 1975. Dagegen ist die Auseinandersetzung, die Christiane seit ihrem Einzug in das Eckhaus im ruhigen Villenvorort vor 10 Jahren mit der Firma führt, die von der Stadtverwaltung mit der Reinigung ihrer kleinen Seitenstraße betraut wurde, rein zeitlich gesehen eine Lappalie.

Aber emotional gleicht der Kampf einem Atomkrieg. Zumindest, was Christiane betrifft. Im Laufe des Konfliktes ist sie von einer erhöhten Reizbarkeit über nervös bedingte Unruhezustände mit Schlafstörungen in eine handfeste Depression hinübergeglitten, die sie, vor allem in den Wintermonaten, nur mit starken Psychopharmaka in den Griff bekommt.

Und das kam so: Christiane und ihre Familie konnten ihr Glück kaum fassen, als sie aus einer Schar von über 100 Beweber*innen ausgewählt wurden und in die frisch renovierte kleine Eckvilla an der putzigen Spielstraße einziehen durften. „Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, hatte die Vermieterin ihnen noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahegelegt. Woraufhin Christianes Mann nach einem langen Blick aus dem Fenster gemurmelt hatte: das ist ein Eckgrundstück. Gefühlt müssen wir mehrere hundert Meter Straßenrand ‚pflegen‘!

Christiane hatte in ihrer Begeisterung über den positiven Ausgang ihrer Überzeugungstaktik („Wir sind die idealen Mieter: fast erwachsene Kinder, eine Gärtnerin als Großmutter, keine Haustiere – und wir sind so oft unterwegs, wir haben gar keine Möglichkeit, das Haus zu ver-, ehm zu bewohnen.“ Was natürlich – fast – alles nicht wirklich stimmte. Die Kinder waren kaum aus der Pubertät heraus und gerade in dem Alter, in dem Parties in Haus und Garten, laute Rockmusik zu jeder Tages- und Nachtzeit und eine permanente Durchflutung des Hauses mit Gleichaltrigen gang und gäbe sind. Die Oma praktizierte Ikebana und lebte 500 Kilometer weit weg. Und auch wenn Asta, Rex, Kugel und Mäuschen von Christiane wie Menschen behandelt wurden, waren sie für Außenstehende Dobermann, Afghane, Siam und Kartäuser) nur beiläufig geantwortet: „Naja, das müssen wir ja nicht allein machen, dafür gibt es ja die Straßenreinigung.“

Beim süffisanten Lächeln der Vermieterin hätte sie eigentlich Verdacht schöpfen müssen. Tat Christiane aber nicht. Denn es war Sommer. Sommer in der Stadt. Die Straße war und blieb sauber, und das Thema Straßenreinigung geriet in Vergessenheit. Bis im September die ersten Blätter zu fallen begannen. „Hallo Frau Müller, ich bin vorhin zufällig bei Ihnen vorbeigefahren. Also, da liegen immens viele Blätter auf der Straße. Die müssen Sie entsorgen. Das hatten wir doch besprochen! Und außerdem – kann es sein, dass ich einen Hund bellen gehört habe? Und ich hätte beinahe eine Katze überfahren, die dann auf Ihrem Grundstück verschwunden ist….“ Die Vermieterin klingt gereizt.

„Alles gut, Frau Huber. Da müssen sich mich wohl in dem Moment verpasst haben, als ich im Baumarkt einen Laubbläser geholt habe. Hundegebell? Ich habe noch nie was gehört. Tja, die Nachbarskatzen fühlen sich bei uns sehr wohl, offensichtlich…. Ja, tschüss dann, Frau Huber! Ach, Moment, Frau Huber?“

Aber da hatte die Vermieterin schon aufgelegt. Minuten später hörte Christiane ein Geräusch, an das sie sich dunkel aus ihrer Schwabinger Wohnung erinnerte. Eine Straßenreinigungsmaschine. Christiane rannte vor die Tür, riss das Gartentörchen auf – und sah die Maschine gerade noch um die Straßenecke verschwinden. Sie hastete hinterher. „Moment!“, rief sie. „Sie haben vergessen, unsere Straßenseite zu kehren.“ Tatsächlich war die gegenüberliegende Seite, die an einen kleinen öffentlichen Park grenzte, blankgeleckt, kein Blättlein lag mehr auf dem Asphalt. Während entlang ihres Gartenzauns ein bunter Blätterhaufen vor sich hingammelte. „Halt, warten Sie!“ Endlich hörte der Mann in der Kabine Christianes Rufen. Er kurbelte die Scheibe runter und erklärte unwirsch: „Das ist ne Spielstraße hier. Da müssen die Bewohner ihre Seite selber kehren. Nur im Winter nicht.“ Sprachs und ward nicht mehr gsehen.

Also nahm Christiane den Laubbläser in Betrieb und die Blätterhaufen in Angriff. Doch bereits nach zwei Minuten klopfte ihr die erboste Nachbarin aus Nummer 7 auf die Schulter. Christiane, ganz berauscht von der Macht der Maschine, verstand zunächst nichts. Als die Frau immer wilder gestikulerte, schaltets sie den Bläser ab. „Nicht in der Mittagszeit zwischen zwölf und drei“, brüllte die Nachbarin in die plötzliche Stille.

„Ach so, das wusste ich nicht, entschuldigte sich Christiane. „Aber am Nachmittag habe ich einen Kundentermin…..“ „Egal. Gesetz ist Gesetz“, sagte die Frau und kehrte in ihre Jägerzaunburg zurück. Um 17.30 Uhr war Christianes Termin vorbei, und sie ging, mit Laubbläser bewaffnet, wieder auf die Straße. Dort traf sie ihre Tochter Isabella, die aus der Schule zurückkam. Sie riss der Mutter wortlos das Gerät aus der Hand, schaltete es aus und dozierte erbost: „Sag mal, bist du total übergeschnappt? Weißt du nicht, dass diese Dinger GIFT für die Tiere sind? Und übrigens auch für alle Menschen unter 50, bei denen das Gehör noch funktioniert. Nimm gefälligst den Besen, Mama.“

„Na hör mal, damit dauert das ja ewig. Gut, dann machst du das eben, Madame Umweltbewusst.“ „Das könnte dir so passen. Ich muss bis morgen die Seminararbeit fertigschreiben. Ne, ne, das machst du gefällgst selbst, wenn du deinen Putzfimmel jetzt schon auf die Straße ausweiten musst.“

Um es kurz zu machen: Christiane konnte weder Mann noch Kinder von der Notwendigkeit des Straßenreinigens überzeugen. Auch das Argument „Vermieterin“ zog nicht, weil nur sie von zuhause aus arbeitete und die Anrufe von Frau Huber entgegennahm. Also kehrte und blies (wenn isabella nicht daheim war) Christiane den ganzen Herbst über im Schweiße ihres Angesichts über 50 Straßenmeter – gefühlt waren es 5000. EInmal die Woche kam das von der Stadt beauftragte Reinigungsiunternehmen, putzte die gegenüberliegende, an einen kleinen Park angrenzende Straßenseite- und blies die Blätter gegelmäßig gegen Christianes Gartenzaun. Sie beschwerte sich per Mail. Sie rief in der Stadtverwaltung an. Sie rannte auf die Straße udn stellte sich von das Gefährt. Alles umsonst. Im Gegenteil. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Der Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung, die Straßenreinigungsfahrer – und sogar die Blätter, die vermehrt dann runtersegelten, wenn sie gerade ihren Straßenanteil reingefegt hatte. „Nimm dir das noch nicht so Herzen. Du wirst ja regelrecht hysterisch“, sagte ihr Mann, statt sie zu trösten oder, besser noch, zu unterstützen.

Christiane wachte jeden Mittwoch, dem Tag der Straßenreinigung, mit Bauchschmerzen auf. SIe hastete vor die Tür, fegte alle über Nacht gefallenen Blätter auf die andere Straßenseite – und erlebte mit, wie der Fahrer diese mit einem höhnischen Grinsen wieder zu ihr hinüberschob.

Egal. Christiane ertrug all dies und tröstete sich damit, dass sie im Winter wenigstens keinen Schnee schippen musste.

Im ersten Winter war das auch so. Denn die paar wenigen Flöckchen, die zwischen Dezember und März vom Himmel rieselten, waren getaut, noch bevor sie das Wort Schneeschippen auch nur angedacht hatte.

Doch dann kam der vierte Winter in der Spielstraße. Püntklich zu Weihnachten schneite es, als hätte Frau Holle das ganze dänische Bettenlager ausgeschlagen. 3 Tage und Nächte. Der Schneeräumer kam – nicht. Auf der kleinen Straße häuften sich Schneemassen. Ein Nachbar klingelte und erklärte der erstaunten Familie Müller, dass sie für das Straßenstück an ihrem Haus verantwortlich seien, wie alle hier. Nur, dass die anderen kaum 10 Meter hatten, jeweils. Während das Eckgrundstück….. „Ich wusste es!“, schimpfte Christianes Mann. „Aber nein! Im Winter räumt die Firma. Das haben die mir so versichert“, wandte Christane ein. „Ja, theoretisch schon. Aber Spielstraßen liegen in der Priorität an letzter Stelle. Erst kommen die Haupt-, dann die Nebenstraßen. Und dann wir. Das kann bei so ’nem Wetter eine Woche dauern. Und bis dahin sind wir, also SIE verantwortlich.“

Schließlich schippten alle Männer der Straße – ganz ausnahmsweise – gemeinsam, und Christianes Mann baute aus dem aufgetürmten Schnee eine Bar, an der sie dann bis in die Nacht standen und Bier tranken.

Inzwischen begann es zu tauen, und nach 7 Tagen erschien die Straßenreinigungsfirma und streute tonnenweise Split in die Pfützen.

Im darauffolgenden Herbst startete Chrtiane, gestärkt durch die Einnahme eines Nerventonikums, einen erneuten Anlauf, um sich gegen die blättrigen Übergriffe der Firma zu wehren. Inzwischen begegnete ihr der Fahrer mit blankem Hass, denn sie hatte sich „ganz oben“ über ihn beschwert und angeregt, dass die Spielstraße einer anderen Firma übergeben würde. Doch damit hatte sie in ein Wespennest gestochen. „Der Sachbearbeiter kassiert gutes Geld für den Auftrag, vom Firmenchef“, erklärte ihr eine andere Nachbarin, die offenbar über alles informiert war – woher, das gab sie nicht preis. Jedenfalls erhielt Familie Müller daraufhin mehrere Bußgeldbescheide im vierstelligen Bereich, weil angeblich ihre Bäume über das zulässige Maß in die Straße hineinragten. Nur, weil ihr Mann zufällig früher als üblich nach Hause kam, entging Christiane einer Verhaftung wegen tätlichen Angriffs auf einen städtischen Beamten, der ihr den letzten Bescheid zustellen wollte.

In den folgenden Wintern tobte der Krieg der Schneesterne immer heftiger, beide Seiten fuhren immer schärfere Geschütze auf. Der Reinigungsdienst schob die Schneemassen aus der gesamten Spielstraße zunächst an den Müllerschen Zaun, der unter der Last zusammenbrach. Frau Huber verlangte Schadenersatz von den Mietern. „Schnee ist höhere Gewalt, die damit verbundenen Risiken müssen von Ihnen getragen werden.“

Daraufhin vereiste Christiane die Fahrbahn, so dass der Schneeräumer auf der Spiegelfäche ins Schleudern kam, gegen eine Garagenwand prallte (nicht die Müllersche!) und der Fahrer eine leichte Gehirnerschütterung erlitt – angeblich.

Beim nächsten Schneefall stand Herr Müller morgens beim Öffnen der Gartentür vor einer zwei Meter hohen Schneemauer. Er konnte gottseidank über die Garage ausweichen.

Christiane machte Fotos und mobiliserte die Presse. Der Artikel mit der Überschrift „Familie unter Schneeterror, Reinigunsmafia am Werk?“ kostete den Fahrer, den stellvertretenden Firmenchef und den Sachbearbeiter ihren Posten.

Und dann ging im kommenden Winter alles gut. Eine andere Firma reinigte die kleine Spielstraße, und Christiane brachte dem Fahrer frühmorgens einen heißen Espresso ans Fenster.

Woraufhin ihr Mann anonyme Schreiben erhielt, die seiner Frau eine Affäre mit einem Straßenreininger andichtete. Das gleiche Schreiben fand seinen Weg auch in die Stadtverwaltung und wurde dort, im Gegensatz zum Hause Müller., ernst genommen. Der Mann musst gehen. Und die alte Firma wurde wieder beauftragt.

Wir schreiben das Schneesternenjahr 2022. Vor Weihnachten hüllt ein Tiefdruckgebiet ganz Deutschland fest in eine dicke weiße Umarmung. Auch die kleine Spielstraße ist schneebedeckt.

Christiane kennt den Tagesablauf der Straßenreinigung auswendig. SIe schreckt um 4 Uhr früh aus einem unruhigen Schlaf, zieht sich an, bewaffnet sich mit Schneeschaufel und Besen und wartet am Gartentor auf den Schneeräumer. Da kommt er auch schon. Mit seiner mächtigen Schaufel nimmt er eine Riesenladung gefrorenen Schnee auf und schiebt ihn gegen Christianes Gartenzaun. Rollt zurück. nimmt die nächste Ladung auf, gibt Gas und rammt das ganze an den Holzzaun. Die dahinter liegende Eibe knirscht, knackt und bricht unter der Last zusammen. „Halt“ schreit Christiane. „Halt, SIe, Sie, Sie…. MÖRDER“! SIe reißt das Gartentürchen auf und rennt dem Schneeräumer entgegen, der mit einer neuen Schneemasse auf sie zurast. Die Schaufel schleift am eisigen Boden entlang, nimmt Schnee und etwas Schwrzes, Gestikulierendes auf, fährt in die Höhe – und schleudert alles über den Zaun direkt in Müllers Garten.

Später wird der Fahrer beteuern, er hätte Christiane nicht gesehen. „Die Frau war ja rabenschwarz angezogen. Keine Warnweste und nichts. Und draußen war’s stockdunkel.“

Als Christiane das Krankenhaus nach drei Monaten verlässt, ist ihre Hüfte noch nicht ganz geheilt. Der Schädelbruch verursacht ihr immer wieder höllische Kpfschmerzen. Im Sommer zieht Familie Müller um. In eine Dachterrassenwohnung am anderen Ende der Stadt.

„“Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, legt die Vermieterin Christianes Nachmietern noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahe. Mal sehen, wie lange die hier bleiben, denkt sie, und fügt hinzu: „Ein gutes Verhältnis zur Straßenreinigung kann Vorteile haben.“

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