Adventskalender Minikrimi am 20. Dezember


Foto: suju

Kinderherzen

Wie still es hier war. Auf den leeren Gängen waren die Lichter gedimmt, aus dem Schwesternzimmer tropfte Gelächter. Früher hatte sie sich ein Krankenhaus immer wie einen Bienenstock vorgestellt. Auch nachts. Prima, dachte sie. Muss ich mir keine Ausreden einfallen lassen. 

Um ganz sicher zu sein, blieb sie noch eine Viertelstunde neben Melina sitzen. Schaute auf das blasse Gesicht. Durchscheinende Haut, blaue Adern darunter. Hinter geschlossenen Lidern huschten die Augen hin und her, hin und her. Die Monitore piepsten und leuchteten. Bald war Weihnachten. Sollte eigentlich ein ganz besonderes Fest werden, dieses Jahr. Mit dem größten Geschenk, das sie sich für Melina wünschen konnten: ein neues Herz. Sie war ganz oben auf der Eurotransplant-Warteliste. 

Dann war es soweit. Ein tödlicher Unfall, ein Kinderherz. Aber Melina war erkältet. Nur ein kleiner Infekt. Das ist gleich wieder vorbei, hat sie den Ärzten zu erklären versucht. Darauf können wir nicht warten, sagten sie. Und jetzt lag ein Mädchen aus Burundi auf Zimmer 423. Mit Melinas Herz. Und Melina ging es immer schlechter. Wie ungerecht das war!

Irgendwo knallte eine Tür. Schnelle Schritte auf dem Flur. Vielleicht das Mädchen auf Zimmer 423? Sie setzte sich auf. Kerzengrade. Lauschte angestrengt. Nichts. Und dann flimmerte einer der Monitore neben Melina. Dauerpiepsen. Sie fühlte die Faust im Magen, eisige Angst im Genick. Eine Schwester kam ins Zimmer. Schaute auf den Monitor. Wieder stehengeblieben. Gab ihm einen Stoß. Alles gut. Gehen Sie nach Hause, Frau Vormberg. Schlafen Sie sich aus. 

Schlafen! Also ob sie das könnte. Wann hatten Bernd und sie das letzte Mal geschlafen? Nicht miteinander. Überhaupt. Sicher nicht, nachdem Melina das Herz nicht bekommen hatte. Seit sich ihr Zustand so verschlechtert hatte, dass sie sie ins Krankenhaus bringen mussten, wechselten sie sich nachts an ihrem Bett ab. Aber egal, ob auf Station oder zu Hause: beide dachten nur daran, dass ihre Tochter jetzt vielleicht sterben würde, während ein anderes Kind leben durfte. 

Noch dazu eines aus Afrika! Woher hatte die Familie überhaupt das Geld, um hierher zu kommen? Und Melina das Herz wegzunehmen? Ihr Herz? Wahrscheinlich hatten deutsche Gutmenschen sogar dafür gespendet. Dort unten gab es so viele kranke Kinder, Armut und Krankheit. Selbst schuld, wenn sie das nicht auf die Reihe brachten. Was kamen die hierher? Am Ende sogar noch in Booten. Flugzeugen. Eine Invasion. Abe es traute sich ja kaum einer, was dagegen zu sagen. Nur eine Handvoll ehrlicher Politiker, und gegen die wurde natürlich von allen Seiten gehetzt. Sowas nannte sich dann Demokratie. Und Melina lag in ihrem Bett und wurde immer blasser, ihr Herz immer schwächer. Und wer half ihr?

Draußen auf dem Gang war wieder Ruhe eingekehrt. Leise stand sie auf, öffnete die Tür einen Spalt weit. Schaute hinaus. Keiner da. Leere. Leere und Stille. Sie wusste genau, wo Zimmer 423 war. Hatte immer wieder davorgestanden. Wie nett, dass Sie sich um Maarifa sorgt, wo es ihrer Tochter doch so schlecht geht, sagten die Schwestern. Die hatten keine Ahnung. 

Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Schloss die Tür hinter sich. Ein Zimmer wie das von Melina. Noch mehr Apparate und Monitore. Fast hätte sie das kleine Gesicht übersehen, vor lauter Kanülen und Schläuchen. Sie wusste, Maarifa lag im künstlichen Koma. Sie würde nichts mitbekommen. 

Sie holte das Kissen hervor, das sie unter ihrem Kittel versteckt hatte. Näherte sich langsam, zielstrebig, Schritt für Schritt dem Bett. Beugte sich über das Kind. Maarifa war wach. Große Augen schauten sie an. Stumm, ohne Angst. Ergeben. Zärtlich.

Sie ließ das Kissen sinken. Sie weinte. Zum ersten Mal seit Wochen. Es schüttelte sie, sie stand am Bett des kleinen Mädchens, unfähig, zu denken. Sie konnte nur fühlen. Schmerz. Ohnmacht. Eine kleine, tastende Hand auf der ihren.

%d Bloggern gefällt das: