Adventskalender MiniKrimi am 23. Dezember


Heute schreibe ich den letzten Adventskalender Minikrimi 2023. Morgen stelle ich euch ein wunderbares Weihnachts-Krimigedicht vor, einen Netzfund auf Bluesky. Doch jetzt schreibe ich noch einmal selbst. Von Thriller bis Komödie habe ich diesmal verschiedene Genres bedient. Heute nun: Fantasy. In Ansätzen. Weil ich das Grauen der Realität manchmal sublimieren möchte, um an das Gute zu glauben, trotzdem. Und gerade jetzt, einen Tag bevor, das glaube ich, die Liebe in die Welt geboren wird. Immer wieder neu.

Ein tödlicher Plan

Ein ganz normaler Morgen kurz vor Weihnachten. Geschäftiges Treiben, vielleicht, auf den Straßen. Einige Student*innen haben die letzte Uniwoche vor Weihnachten vorzeitig beendet und sind nach Hause gefahren. Die anderen folgen nur halb den Vorlesungen und planen die Feiertage mit ihren Freunden, mit der Familie.

Oder Schüler’innen freuen sich auf die Ferien, im Unterricht werden Filme geschaut, eine Weihnachtsaufführung wird geprobt.

Dann bricht ihr Alltag zusammen. Ein Amokläufer dringt in ihr Gebäude ein, schießt wahllos um sich und tötet, die ihm über den Weg laufen.

Auch der junge Amokläufer selbst hat seine Tat nicht überlebt. Ein ganzes Land trauert. Wie schrecklich! Wie viele Leben sind zerstört, für sehr lange Zeit, manche sogar für immer.

Wie oft wünschen wir uns, wir könnten die Geschichte umschreiben. Dem Entsetzlichen eine andere Wendung geben. Den Attentaten, die immer wieder Lernorte zu Schauplätzen brutaler Waffengewalt machen.

Allein, das geht nur in der Literatur.

Der junge Mann nahm die Welt um sich herum schon seit Monaten als schwarz wahr. Er kleidete sich schwarz, hatte seine schulterlangen Haare schwarz gefärbt und ging nur aus dem Haus, nachdem die Sonne untergegangen war. Oder wenn dunkle Wolken jedes Licht in graue Schatten verwandelten und Regen ihn wie ein Vorhang von anderen Menschen trennte.

Die letzte Therapie hatte er abgebrochen. Die Tabletten in die Toilette gekippt. Alles sinnlos. Lieber den rohen Schmerz ertragen, fühlen, wie er ihm das Herz zerriss, als im gefühllosen Nebel zu tapern. Die Schnitte, die er sich zufügte, ließen ihn zumindest noch ein wenig Leben spüren.

 Aber das war jetzt auch vorbei. So tief er sich auch in den Arm stach – so viel Blut auch aus der Wunde floss – er blieb völlig gefühllos.

Gut. Nächste Stufe. Wenn er sein eigenes Leiden nicht mehr spürte – andere konnten das noch. Und jetzt sollten sie bluten. Waren sie nicht schuld daran, wie es ihm ging?

Der junge Mann stieß die Haustür auf, sah sich nach links um, dann nach rechts. Kein Mensch weit und breit. Nur eine Rabenkrähe hockte auf dem kahlen Ast der Buche gegenüber. Seit Tagen, so schien es ihm, verfolgte sie ihn. Hockte auf dem immergleichen Ast und schwang sich in den bleiernen oder tintenschwarzen Himmel, ihm dicht auf den Fersen. Mehrmals schon hatte der junge Mann einen Stein aufgehoben und nach dem Vogel geworfen. Nie hatte er ihn getroffen. Die Kohleaugen starrten ihn wissend an, und krächzend erhob er sich in den Wind. Aber nur, um bald darauf wieder in der Nähe des jungen Mannes aufzutauchen.

„Verschwinde“, rief dieser jetzt. „Du Totenvogel. Hau ab!“ Er fand einen scharfen, spitzen Stein, zielte, und diesmal traf er die Rabenkrähe am Flügel. Sie taumelte und drehte ab. Mit gesenktem Kopf stapfte er weiter, die Hände in den Hosentaschen, Richtung Elbufer. Kurz nach der Sturmflut war hier niemand unterwegs. Er stiefelte durch das streckenweise noch knöcheltiefe Wasser. Nach dem letzten Glühweinstand, dort, wo der Strand begann, setzte er sich auf eine nasse Bank. Wasser und Horizont verschwammen, die großen Schiffe lehnten als dunkle Schatten am düsteren Himmel. Mit einem leisen Krächzen setze sich die Rabenkrähe auf die Lehne, mit einem halben Meter Abstand.


„Sch! Schsch! Verschwinde, oder ich dreh dir den Hals um, du schreckliches Vieh!“ „Das würde ich an deiner Stelle nicht machen. Ich bin doch nur hier, weil du mich gerufen hast.“

„Was? Du lügst!“ Der Umstand, dass der Vogel ihn angesprochen hatte, war für den jungen Mann nicht halb so unerhört wie die Tatsache, dass er ihn gerufen haben sollte.

„Ja. Du hast den Tod im Sinn. Und das ruft mich auf den Plan. Ich bin der Vorbote. Und der Tatortreiniger, zuweilen. Nun erzähl: was genau hast du vor? Und wie weit bist du mit deinen Vorbereitungen? Ich kann dir helfen, weißt du?!“

„Ich brauche keine Hilfe. Und deine schon gar nicht. Was ich vorhabe geht dich nichts an. Außer, dass ich dich vielleicht zum ersten Opfer mache.“

„Das würde ich nicht tun“, wiederholte die Rabenkrähe. „Es könnte sein, dass dich nach dem ersten Mord der Mut verlässt. Und das wäre doch schade für deinen Plan.“

„Was, einen Vogel zu töten soll mich beeindrucken? Du hast ja gar keine Ahnung. Mich beeindruckt nichts mehr. Und Schmerz spüre ich schon lange nicht mehr. Mitleid kenne ich gar nicht.“

„Soso. Du hast kein Problem damit, einen Vogel zu töten. Und auch keinen Menschen? Bist du dir da ganz sicher?“

Jetzt saß neben dem jungen Mann statt einem Vogel eine alte Frau. Ganz in schwarz, in Rock und Mantel, Stiefeln, Hut und Handschuhen. Mit einer Schnabelnase und Knopfaugen, die ihn scharf musterten. Der junge Mann zuckte zurück. „Was?“ setzt er an, aber die Alte fiel ihm ins Wort. „Geh nach Hause. Denk nochmal in Ruhe über deine Pläne nach. Morgen treffen wir uns wieder. Und wenn du dann immer noch der Überzeugung bist, dass du töten musst…“ „Was dann?“ „Dann helfe ich dir. Glaub mir, du wirst meine Hilfe brauchen.“

Und mit einem Krächzen, das in den Ohren des jungen Mannes wie ein Lachen klang, schwang sich die Rabenkrähe in den Abendhimmel und war sofort verschwunden.

Der junge Mann stand auf. Er ging nicht nach Hause, sondern in die Villa seines Vaters. Dort öffnete er den Waffenschrank und nahm die Waffen und Munition, die er morgen brauchen würde. Nachschlüssel hatte er schon vor Jahren machen lassen, unmittelbar nach einem Amoklauf in den USA. Seine Eltern waren auf Teneriffa. Schade, sonst hätte er mit ihnen angefangen. Ohne sie gäbe es ihn nicht. Sie waren die Wurzel seines ganzen Übels. Aber besser so. Was sie nach seiner Tat durchleben mussten war vielleicht noch schlimmer als ein schneller Tod. Vielleicht. Der junge Mann konnte das nicht beurteilen. Er spürte nichts. Noch nicht. Er hatte übrigens nicht vor, sich selbst ebenfalls zu richten. Zumindest nicht, bevor er wusste, ob das unumkehrbare Leiden anderer in ihm einen Funken Gefühl auslösen würde.

Am nächsten Morgen zog er sich mit außergewöhnlicher Sorgfalt an. Dem Anlass angemessen trug er saubere Hosen und Schuhe, einen Rollkragenpullover und darüber einen weiten Umhang, unter dem er den Rucksack mit den Waffen verstauen konnte. Allerdings war dieser so schwer, dass er sich entschloss, mit dem Bus zu fahren. Allein bei dem Gedanken traten ihm Schweißperlen auf die Stirn. Kurz überlegte er, ob er einfach das Massaker im Bus verüben sollte. Aber nein! Es sollte der Ort sein, an dem er gelitten hatte. Gedemütigt worden war. Von den Professoren und von seinen Kommilitonen.

Auf dem Weg zur Haltestelle war der junge Mann sich fast sicher, der Rabenkrähe zu begegnen. Aber nein! Die Fahrt führte ihn durch die halbe Stadt. Die Menschen um ihn herum waren ihm unerträglich. Er hatte sein Ziel fast erreicht, da setzte sich eine alte Frau neben ihn. Er wandte automatisch den Kopf ab und schaute aus dem Fenster.

„Ich sehe, du bleibst bei deinem Vorhaben. Das ist ganz nach meinem Geschmack. Lass dich von einem einmal gefassten Entschluss nicht abbringen.“

Träumte er, oder war das tatsächlich die Alte von gestern? Aber wer sollte sonst ihr heikles Gespräch aufnehmen wie eine gerade fallengelassene Masche? „Ich hab dir gestern schon gesagt, ich zieh das alleine durch. Ich brauche dich nicht.“

Er stand auf und stürmte aus dem Bus. Eine Haltestelle zu früh, aber besser, als noch länger neben der verrückten Krähenfrau zu sitzen. „Du kannst mich nicht abschütteln, junger Mann“, sagte ihre Stimme neben ihm. Er fing an zu rennen. Sie schwang sich in die Lüfte und begleitete ihn leise krächzend. Um ihn herum waren jetzt einige Studenten, so dass er sich nicht traute, einen Stein nach dem Vogel zu schleudern. Schließlich kamen sie an. Er ging durch das Tor – keiner interessierte sich für ihn. Exzentrik war bei vielen Studierenden ein Markenzeichen. Er musste noch eine Viertelstunde warten, bis alle in ihren Vorlesungen waren. Dann hatte er leichtes Spiel. Er setzte sich auf eine Bank in einem Flur, dessen Räume wegen Renovierung leer standen.

Und sofort saß die Alte wieder neben ihm. „Du bist dir wirklich sicher? Und was, wenn es schiefgeht? Dann wäre alles umsonst. Besser, du nimmst meine Hilfe an.“

„Nein!“, rief er und spürte einen euphorischen Moment lang so etwas wie Hass in sich aufkeimen. „Gut. Du lässt mir keine andere Wahl. Dann gehe ich jetzt ins Sekretariat und warne sie alle.“ Die Alte stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Flur entlang in Richtung Hauptgebäude.

„Das wirst du nicht tun!“, schrie der junge Mann. Er sah plötzlich rot. Wortwörtlich. Er sprang auf. Mit zwei Sätzen war er bei der Alten, legte ihr beide Hände um den Hals und drückte zu. Mit der ganzen Kraft seiner aufgestauten Verzweiflung. Sie sackte in sich zusammen und lag dann gekrümmt auf dem Steinboden. Ein schwarzes, lebloses Häuflein. „Ahhhh“, glaubte er zu hören. Dann Stille.

Und jetzt die anderen, dachte er. Und blieb stehen. Jetzt die anderen! Er blickte auf das reglose Kleiderbündel, das gerade noch mit ihm gesprochen hatte. Mit dem er gesprochen hatte. Zum ersten Mal seit. Ja, seit wann? Die Alte mochte eine Hexe gewesen sein. Aber sie hatte ihm zugehört. Anteil genommen. Ihr war es gelungen, sein Nichtfühlen zu durchbrechen, seinen unbändigen Hass herauszuholen aus einer Tiefe, zu der er den Zugang verloren hatte.  

Aber jetzt war der Hass verflogen. Und wie ein Kater kam die Traurigkeit. Was hätte aus dieser Begegnung werden können? Und wenn diese Begegnung in ihm Totes auferweckt hatte – vielleicht konnte das wieder geschehen? Mit anderen? Mit denen, die er im Begriff war, zu töten?

Er griff nach seinem Rucksack und rannte den Flur entlang, die Treppen hinunter. Hinaus aus dem Gebäude. Durch den Park und das Tor. Er rannte weiter, bis er ans Elbufer kam. Er setzte sich auf die gleiche Bank, auf der er gestern mit der Alten gekauert hatte. War das erst gestern gewesen?

Unwillkürlich schaute er in den Himmel. Keine Rabenkrähe. Natürlich.

Irgendwann ging er nach Hause. Aus dem Copy Shop gegenüber kam ihm eine junge Frau entgegen. „Hey, Maximilian! Ich hab dich ewig nicht gesehen. Ich dachte, du seist weggezogen. Sag mal, hast du Lust auf nen Kaffee, ganz spontan?“ Sie sieht ihn skeptisch an, weiß, dass Spontaneität nicht sein Ding ist. Aber „ja, warum nicht?“, hört er sich sagen. Und nebeneinander gehen sie die Straße entlang. „Schau mal, die Rabenkrähe. Kennst du die? Ich glaube, sie hat dir gerade zugezwinkert“, sagt die junge Frau. Sie meint es ernst. „Ja, wir sind alte Bekannte. Freunde, eigentlich.“ Er meint das genauso ernst.

Das Attentat in Prag hat mich zu diesem MiniKrimi zwar inspiriert, aber meine Geschichte hat nichts damit zu tun. Wie schön wäre es, wenn jeder von uns eine Rabenkrähe hätte. Beinahe besser als ein Schutzengel. Oder?

Europa Unita. Hommage an meine visionäre Demenzphilosophin.

Eine Hand lässt eine Friedenstaube fliegen

„La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.”

Zu Deutsch: Der wichtigste Garant für Frieden und Wohlstand ist ein geeintes Europa. Nicht nur für die einzelnen europäischen Länder, sondern für die ganze Welt.

Standardsätze meiner Mutter, im Lauf der Jahre unzählige Male wiederholt, bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten. Den Wahlen zum Europaparlament. Den Berichten über EU-Gipfel, deutsch-französische Gespräche, die Einführung des Euro, natürlich, und die EU-Erweiterung. Dabei beugte sie sich in ihrem Sessel vor, sah dich direkt an, ihre Stimme war frisch, voller Überzeugung und Überzeugungskraft. Sogar als sie schon so dement war, dass sie zuweilen ihren Namen vergaß, rezitierte sie mehrfach am Tag dieses Credo. „L’Europa deve rimanere unita.“

Ich konnte es schließlich nicht mehr hören. 

Ja, diese Frau hatte einen Weltkrieg durchlebt, der Europa unter Trümmern begraben hatte. Seine Menschen, seine Ideale. Der Phoenix, der sich aus der Asche eines Kontinents herausgeschält hatte, mochte sie begeistern.

Und ja, zurecht. Einheit in Vielfalt, geballtes Wirtschaftswunder – von Amerikas Gnaden zwar und auf Kosten einer halben Heimat hinter dem eisernen Vorhang. Aber immerhin. Wie im Zeitraffer spulten sich vor den Augen ihrer Generation historische Veränderungen ab. Politisch, gesellschaftlich, sozial. (Eigentlich waren es keine Veränderungen, sondern Wiederholungen, aber die erlebte Geschichte ist für jede Generation natürlich einmalig). Flüchtlinge aus den Ostgebieten, Gastarbeiter, Binnenmigranten. Reisen, Konsum, sozialer Aufstieg, mehr Konsum. „Geh’n Se mit der Konjunktur, geh’n Se mit auf diese Tour“, schallte die Nachkriegshymne aus Autoradios und Frankfurter Küchen über die rasant dahinschmelzenden Schuttberge. 

Und das alles war nur möglich, weil Europa zusammenwuchs. Davon war meine Mutter überzeugt. Denn sie hatte es erlebt. 

„La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.”

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs kam nicht der Frieden – „wir haben keinen Friedensvertrag“, auch so ein Standardsatz meiner Mutter -, sondern der Kalter Krieg. Statt zu verhandeln, wurde erst einmal aufgerüstet. Frei nach dem Motto: ein potentiell möglicher Angriff ist die beste Verteidigung, O-Ton meine Mutter, bewaffneten sich West und Ost mit Waffen, die einen unendlichen Overkill ermöglichten.

Derweil wurde der Waffenstillstand an den Grenzen durch Kriege im Innern gesichert., Prager Frühling, RAF, Brigate Rosse. Und dann die Friedensbewegung. Atomkraft – nein danke, Gorleben, Wackersdorf und Startbahn West. 

Während der Osten Proteste niederpanzerte, wuchs im Westen eine neue Kriegsform, der Terrorismus. Von 1970 bis 2016 haben in Europa etwa 4.280 Anschläge stattgefunden. Mit etwa 9.200 Todesopfern In den dreißig Jahren vor der Jahrtausendwende. Nordirland, Spanien, Italien –   lange vor den islamistischen Terrorkommandos hatten ethno-nationalistische Gruppen diese Kriegsform für sich adoptiert. 

Wie konnte meine Mutter da von „Frieden“ sprechen? Weil Europa zum ersten Mal so sehr geeint war. Wirtschaftlich und politisch. Trotz ihrer Demenz erkannte meine Mutter im neuen Jahrtausend die Risse. Und warnte. 

Hat Putin den Zeitpunkt für seine Aggression gegenüber der Ukraine gewählt, als die Einheit Europas zu bröckeln begann? Ist die EU zu schnell gewachsen? Oder ist sie gewachsen, ohne dass die Länder genug einende, verbindende Strukturen, Konzepte, Visionen hatten? War die Hoffnung auf wirtschaftlichen Fortschritt und Sicherheit im Schatten der Nato nicht genug? War noch zu viel Warschauer Pakt in der DNA der neuen Staaten? Fakt ist, innerhalb Europas wuchsen die Unstimmigkeiten. Arbeits- und Armutsmigration, „Flüchtlingsansturm“, neu aufkeimender Rassismus, Grenzschließungen, Erstarken des Ethno-Nationalismus. Letzteres keineswegs nur in der Ost-EU, sondern ebenso in Frankreich, Italien, Deutschland etc. Brexit und Covid-19 schließlich versetzten Europa einen Stoß, der die Einheit in gefährliche Schieflage brachte. 

Das ist der ideale Moment, um damit zu beginnen, mit den Demokratiebestrebungen im Umfeld Russlands dauerhaft aufzuräumen. Denn Putin will vielleicht einen breiteren Zugang zum Schwarzen Meer, aber er will vor allem nicht von aufkeimenden Demokratien umgeben sein. Deshalb wird er seinen Feldzug nicht stoppen wollen. Er hat mit wachsendem Widerstand in seinem Land zu kämpfen. Er hat den Kontakt zur Jugend weitgehend verloren. Und zu vielen Bevölkerungsschichten ebenfalls. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist immens. Die Armen glauben der Regierung nicht. Sie lassen sich nicht impfen (Impfquote bei ca. 25%), weil sie vermuten, der Impfstoff sei vergiftet. Sie misstrauen sogar russischem Wodka, aus demselben Grund. Ein Heer von Arbeitsmigranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken haust unter unmenschlichen Bedingungen im Land, ausgebeutet und verachtet, Parias der Gesellschaft. Die Zahl der Straßenkinder wächst. Sie fliehen vor Missbrauch, Schlägen, unzumutbaren Wohnverhältnissen – oft 3 Generationen in einem Zimmer, alkoholisierte Eltern – auf die Straßen, nehmen Drogen, prostituieren sich, verkaufen ihre Organe. Nein, das ist keine Übertreibung. Leider. 

Wir fragen uns: was hat Putin davon, der Mächtigste in einem Land der Machtlosen, der Hoffnungslosen zu sein? Ich habe keine Antwort darauf. Außer, dass er ein Mensch mit einer großen psychischen Verletzung ist, der sich „vom Westen“ missachtet fühlt und um sich schlägt, einfach, weil er es kann. Nur, dass seine Schläge tödlich sind. Für die Menschen in der Ukraine, für seine Soldaten, und, sollte er seine Waffen ändern, für weite Teile der Welt. 

Wir fragen uns: wie kann man diesen Wahnsinnigen stoppen? 

Ich habe keine Antwort darauf. Aber ich höre meine Mutter: „La cosa più importante è che l’Europa rimanga unita. Per la pace, per il benessere, non solo nei paesi europei, ma bensí in tutto il mondo.” Vielleicht ist das der Ansatz einer Antwort. Wenn nicht nur Europa, sondern weite Teile der Welt zusammenstehen, schrumpfen Kleptokraten wie Putin auf ein Maß, das bekämpft oder einfach unschädlich gemacht werden kann.

Dass China sich im UN-Sicherheitsrat bei der Resolution enthalten hat, ist meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass die so genannte Volksrepublik nicht um jeden Preis hinter Putin steht. Einmal, weil sie in ihrer Nähe keinen – weiteren – Diktator braucht. Zum anderen aber, weil sie auf einen finanzstarken Westen angewiesen ist, denn Chinas Waffe ist der Handel. 

Ja – es stimmt. Im Grunde genommen hat die Aufregung, in die die Menschen in Europa sich seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine versetzt haben, durchaus eine zynische, sogar makabere Note. Denn die Welt brennt in vielen Teilen. Und fast täglich werden UN-Konventionen verletzt. Sterben Menschen. Fliehen, werden verfolgt. Oft haben „wir“ an den Ursachen einen Anteil. Der Balkankrieg wurde lange vom Westen nicht wahrgenommen. Was im Nahen Osten passiert, wird kommentiert, was sich in Afrika tut, erreicht oft nur die Randnotizen der Nachrichten. 

Nun hat der Krieg unsere Haustür erreicht. Gut, das wir aufwachen. Besser wäre es, wenn daraus Konsequenzen gezogen würden, und zwar das gesamte politische und wirtschaftliche Handeln. Krieg ist immer schrecklich, egal, wo er stattfindet. 

Das war es, was mich an der Äußerung meiner Mutter so störte. Dieses Betonen der EU. Aber – sie hatte Recht. Denn ein gerechtes, geeintes Europa sollte ein Zeichen sein und Zeichen setzen für eine gerechte Welt. 

Ein anderer Lieblingssatz meiner Mutter war: Change it, leave it or love it. Also, Mum: I had a dream. I have a dream. Let’s dream it all. Let it get real.

Adventskalender MiniKrimi am 17. Dezember


Es ist nie vorbei!

Draußen vor den Fenstern des Klassenzimmers strahlt ein herrlicher Sommertag. Der Himmel azurblau ohne ein Wölkchen. Im Kirschbaum auf dem Schulhof zwitschern die Vögel. Der Lehrer, konservativ gekleidet in braunen Zwirn mit grüner Krawatte, doziert, durchaus passend zur Jahreszeit, über Shakespeares Sommernachtstraum. Aber die Schüler*innen der 11. Klasse sind nur halb bei der Sache. Sie tuscheln und planen den Nachmittag, sie flirten, sie träumen aus dem Fenster. Ein klassischer Vormittag!

Und da ertönt auch schon der Gong. Die Schüler*innen stehen auf, einer wirft ungestüm seine Bank mitsamt dem Stuhl um, ein anderer stolpert über seine Tasche. Drei Mädchen haben einem Jungen das Handy weggenommen und tun so, als würden sie es aus dem Fenster werfen. Der Lehrer packt seine Bücher ein und schüttelt den Kopf über das Chaos in seiner Klasse – allerdings ohne sonderlich überrascht zu erscheinen.

Schließlich haben alle Schüler*innen das Klassenzimmer verlassen. Der Lehrer wischt die Tafel ab. Da fällt von irgendwoher aus dem Schulgebäude ein Schuss. Und noch einer. Der Lehrer hebt den Kopf, als wolle er Witterung aufnehmen. Wieder ein Schuss, eine ganze Salve. Jetzt bricht die Hölle los. Schrille Schreie, Hilferufe, Schritte wie von einer Herde ausgebrochener Elefanten. Die Tür zum Klassenzimmer wird aufgerissen. Zwei Jungen stürmen hinein, hinter ihnen drei Mädchen, ein weiterer Junge. Noch zwei Schüsse, diesmal ganz in der Nähe. „Schnell, unter die Bänke!“, ruft der Junge mit dem Handy. Zum Lehrer: „Sie auch!“ Er kriecht unter eine Bank und hält das Handy ans Ohr. Da steht plötzlich eine schwarz gekleidete Gestalt in der Tür. Sturmhaube, Hoody, Funktionshose, Springerstiefel. In der Hand ein Maschinengewehr, um die Schultern einen Patronengürtel. Ohne zu zielen feuert er eine Salve von einer Ecke des Raumes zur anderen. Der Junge mit dem Handy wirft eine Schulbank um und schiebt sie als Barrikade vor sich. „Schützt Euch!“, ruft er den anderen zu. Der Lehrer ist am Pult zusammengesackt. Auf seinem Hemd breitet sich ein roter Fleck aus. 

Der Junge schreit etwas ins Handy. „Amok“, und „Schule“, „Klassenzimmer 11 a, dritter Stock.“ Die Gestalt in der Sturmhaube sieht sich um, schießt noch einmal auf den Lehrer und geht. Wieder sind Schreie aus anderen Räumen zu hören. Dann – Stille. Langsam kriechen die Schüler*innen hinter ihren Verstecken hervor. „Ist er weg?“, fragt ein Mädchen. Schnelle Schritte, die Gestalt ist wieder da. Mit dem Gewehr im Anschlag, sie brüllt etwas Unverständliches, vielleicht ist es auch nur ein Verzweiflungsschrei. Lässt sich auf den Boden gleiten, hält den Lauf des Gewehres von unten ans Kinn. Wimmert. „Nein“, schreit ein Mädchen! „Nein, tu das nicht!“

Da taucht ein Mann aus dem Dunkel des Ganges auf. Kein Polizist. Kein Lehrer, denn die Lehrer*innen tragen während des Unterrichts keine Pistole. „Du Schuft, du Mörder!“, zischt er, hebt die Hand und tötet die am Boden liegende Gestalt mit einem gezielten Kopfschuss. 

„Es ist vorbei“, sagt er dann zu den Schüler*innen, die panisch im Kreis um die schwarze Gestalt hocken. Keine Angst, der tut euch nichts mehr.“

„Nein. Es ist nie vorbei!“, sagt der Junge mit dem Handy. Er steht auf, die anderen folgen seinem Beispiel. Sie gehen nach vorne, in die Mitte des Klassenzimmers. Dort nehmen sie die schwarze Gestalt in ihre Mitte. Vom Pult kommt der Lehrer dazu. Das Mädchen zeigt auf den Mann mit der Pistole: „Auch du bist ein Mörder!“ „Es wird nie vorbei sein, solange es Waffen zu kaufen gibt!“ rufen alle im Chor. 

Dann fällt der Vorhang. „Eine beeindruckende Art des Gedenkens an den Amoklauf vor 5 Jahren an dieser Schule. Und ein leidenschaftlicher Aufruf zur Gewaltlosigkeit“, schreibt die lokale Presse nach der Vorführung.