Adventskalender Minikrimi am 21. Dezember


Wintersonnenwend-Tango

„Du musst unbedingt fitter werden, Teddy! Sonst kannst du In einem Jahr nicht mehr alleine wohnen.“

„Blödsinn. Und nenn mich nicht Teddy. Ich bin kein Bär!“ Thaddäus Richling war gereizt. Wie immer, wenn Ute, sein „guter Engel“, wie er die Chefin der Agentur Allein daheim nannte, weil das vor anderen und für ihn selbstständiger klang als „Tageshilfe“, ihn auf seinen Gesundheitszustand ansprach.

Aber Ute hatte Recht, das wusste er. Was nützte ihm sein ganzes Geld, was seine wunderschöne Villa, wenn er sich nicht mehr von einem Raum zum anderen bewegen konnte, geschweige denn in seinen geliebten Garten? Wenn er nicht mehr über die mäandernden Wege zwischen japanischen Kirschen, duftenden Rosen und Ginkgos zum schattigen Koi-Teich streifen konnte?

„Ich sage es dir nur ungern, Teddy. Aber du hast in den letzten zwei Monaten massiv abgebaut. Du musst deine Beine trainieren. Und damit meine ich keine gemächlichen 200 Meter-Spaziergänge von der Terrasse zum Fischteich (hier zuckte Thaddäus zusammen. Sein Koi waren doch keine Fische, sondern edle Zuchtkarpfen). Im Mehrgenerationen-Zentrum bieten sie Ballgymnastik an, und sie haben auch geführte Wandergruppen. Wir könnten doch mal zusammen hingehen und reinschauen?“

Allein bei dem Wort Mehrgenerationen-Zentrum stellten sich bei Thaddäus die Nackenhaare auf. Er sah sich im Stuhlkreis sitzen, umringt von Frauen, schrumpelig wie ein Apfel vom Vorjahr die einen, aufgeblasen wie ein zum Platzen reifer Luftballon die anderen, mit dünnen weißen Dauerwellen, grauen Karoröcken über braunen Stützstrümpfen und selbstgestrickten Wollwesten auf rosa Nylonblusen. Hier und da in den Kreis gestreut vielleicht ein gebeugter Mann mit senilem Lächeln und von Hosenträgern gehaltenen Beinkleidern aus Cord mit Urinflecken im Schritt. „Nein, da werden wir nicht hingehen“, intonierte er bestimmt.

Thaddäus war zwar nie ein sportlicher Mann gewesen – er hatte immer wieder gerne und mit ironischem Lächeln das erfundene Churchill-Zitat „no sports“ angeführt, aber er hatte sich bis ins Alter einen gepflegten Körper erhalten, wohl mehr aufgrund glücklicher genetischer Fügung als durch eigenes Dazutun. Worauf er allerdings selbst immer geachtet hatte, war ein tadelloses Äußeres. Nie sah man ihn ohne Hemd, Krawatte oder Halstuch, Manschettenknöpfe und Jackett. Nein! Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, in einem Stuhlkreis zu sitzen und zum Geruch von Kohl, Schweiß und Urin Bälle zu werfen.

Aber Ute hatte Recht. Er musste etwas tun. Die rettende Idee kam ihm während des Besuchs seiner Großnichte Arabella. Arabella studierte Lateinamerikanistik, und das mit Geist, Seele und Körper. Letzteren hatte sie dem Tango Argentino gewidmet, und nach inzwischen vier Jahren hatte sie zwar immer noch keinen Bachelor, dafür war sie perfekt in allen Figuren dieses schmeichelnden Tanzes.

„Komm, Teddy (schon wieder dieser Kosename!), wir legen mal ne kesse Sohle aufs Parkett!“ Thaddäus protestierte. Er sah sich schon nach den ersten Drehungen im Rollstuhl landen, für immer gelähmt – oder schlimmeres. Doch Arabella war beharrlich, und schließlich nahm er seine Großnichte in den Arm, und sie schwebten über das Parkett. Vom Wohnzimmer in den Flur, dann wieder zurück. Es war kein Tanzen, vielmehr ein Gleiten, Schreiten, beinahe mühelos und gleichzeitig unglaublich anregend. Thaddäus fühlte sich beschwingt, verjüngt. Und dachte: „Ja! Wenn schon Sport, dann Tango.“

Er beauftragte die widerstrebende Ute, die beste Tangoschule ausfindig zu machen. „Ausgerechnet Tango, also bitte. Zum Tanzen bist du wirklich zu alt, Teddy“, versuchte sie ihn von seiner „fixen Idee“, wie sie das nannte, abzubringen. Umsonst. Teddy zahlte, also bestimmte er auch. An einem Montagabend gingen Ute und er zu einer Milonga, einem offenen Tango-Tanztreff. Und siehe da, die Tänzerinnen und Tänzer waren keineswegs alle blutjung und drahtig. Nein, der Tango schien Menschen mit 20 genauso anzusprechen wie mit 60 und mehr. „Sie wollen beweglicher werden, aber sich keine gefährliche Sportverletzung zuziehen? Dann ist Tango genau das richtige. Schauen Sie, wir schreiten im Kreis dahin. Sie machen keine abrupten Bewegungen, aber ihr ganzer Körper ist im Einsatz. So!“, sagte die Tanzlehrerin und umrundete, mit Thaddäus im Arm, den Saal.

Seitdem ging Thaddäus jeden Donnerstag ins „Corazon“. Er kaufte sich Schuhe und die passende Tangokleidung. Schon bald gelang es ihm, zwei Tänze ohne Schweißausbrüche zu durchschreiten. Selbst Ute musste zugeben, dass er sicherer auf den Beinen war, nicht mehr so schnell müde wurde und, ja, eine gewisse Elastizität im Gang und ein Leuchten in den Augen hatte. „Erzähl mal, wie sind denn so die Partnerinnen? Hast du eine feste, oder tanzt du immer mit verschiedenen?“ Denn auch ein alter Kater lässt das Mausen nicht, dachte sie. Und Thaddäus hatte die Damen immer sehr geliebt.

Als er aber, ganz gegen seine Gewohnheit, einsilbig blieb, kam Ute eines Abends „ganz zufällig“ ins Corazon. Und dort tanzte Thaddäus mit einer anmutigen, wohlgeformten Schönheit in einem enganliegenden roten Kleid, dunklen Glutaugen und einer Rose in der schwarzen Mähne. „Aha“, dachte Ute. „So ist das also.“ Sie blieb noch eine ganze Weile an ihrem Tisch ganz hinten in der Ecke sitzen und beobachtete das Tanzgeschehen. Eine ältere Dame fiel ihr auf. Sie war zierlich, aber offensichtlich muskulös, ganz in schwarz gekleidet, ihr silbernes Haar fiel in sanften Wellen auf die zarten Schultern. Grazil bewegte sie sich am Arm ihrer wechselnden Partner, und auch komplizierte Figuren meisterte sie mühelos. Thaddäus hingegen gelang es nicht, sein Bein elegant um das seiner schönen Partnerin zu wickeln, und mehr als einmal stockte er im Fluss der Melodie. Tango ist nämlich nur am Anfang ein Schreiten, später wird daraus doch so etwas wie gleitende Akrobatik. Und in dieser Liga bewegte sich der Achtzigjährige noch nicht ganz. Jetzt musste er, schweren Herzens, wie Ute an seinem Gesichtsausdruck ablesen konnte, seine Tänzerin einem anderen überlassen, und während sie leichtfüßig und wie von seiner Alterslast befreit am Knie des neuen Partners entlang glitt, stand Thaddäus verloren auf dem Parkett. Da nahm die „silberne Dame“, wie Ute sie nannte, seinen Arm und führte ihn bestimmt und behutsam zurück in das Wiegen der Musik. „Sie mag ihn“, wusste Ute. „Schade, dass er nur Augen für die Junge hat.“

Bald darauf überraschte Ute ihren Patienten, wie er am Telefon über die Möglichkeiten einer bedeutenden Schenkung sprach. „Soweit ist es schon! Die hat ihn an der Angel. Hoffentlich geht das gut.“

Und dann kam die Wintersonnenwende. Die längste Nacht des Jahres. Wie geschaffen für eine Milonga voller Leidenschaft. Das Corazon hatte zu einem Tanz im Freien eingeladen. Der Pavillon im dunklen Park war von unzähligen Kerzen beleuchtet. Wolken jagten in silbernen Fetzen über den Himmel. Der Mond kam und ging, der Wind sang ein eigenes Lied, mal in drohendem Crescendo, mal als säuselnde Klage. Die Schatten der Tänzer schmiegten sich an die Säulen des Pavillons. „Eine magische Nacht“, flüsterte Thaddäus und hielt seine Partnerin fest in den Armen. Doch sie entzog sich ihm, schelmisch lachend. „Komm, fang mich“, und sie glitt auf dem feuchten Boden hinüber zu den Marmortreppen, die die kleine Halle begrenzten. Glatt waren sie, ein falscher Tritt, ein Sturz, für junge Beine nicht weiter gefährlich. Für alte Knochen aber….  „Warte, warte doch“, rief Thaddäus atemlos gegen den Wind. Er streckte die Hand nach ihr aus. Sie ergriff sie und zog ihn mit ungeahnter Kraft. Thaddäus taumelte.

Doch plötzlich ließ sie ihn los. Sie stolperte über etwas, ein schwarzer Schuh? Und fiel nun ihrerseits die Stufen hinunter. Ein Schrei. Die Musik verstummte. Die Tanzlehrer umringten sie. Gottlob, nur ein verstauchter Knöchel.

„Ja, die Jugend ist resilient. Wir Alten nicht mehr so sehr“, sagte eine sanfte Stimme neben Thaddäus. „Wir brauchen hin und wieder einen Schutzengel, um nicht böse zu straucheln.

„Sie weigert sich, jemals wieder mit mir zu tanzen!“ Thaddäus war untröstlich, und Ute gelang es nicht, ihn davon zu überzeugen, dass die junge Schönheit vielleicht Arges im Schilde geführt hatte. Doch mit der Zeit wurden Thaddäus und Mimosa, die elegante, gewandte Dame mit den silbernen Haaren und muskulösen Beinen, das Schaupaar der Tanzschule Corazon. Wenn sie durch den Saal glitten, machten alle anderen Paare ihnen Platz. Mimosa führte. Aber das durfte Thaddäus von seinem Schutzengel ja wohl auch erwarten.

SMS-Adventskalender. 20. Dezember: Die „Türkenvilla“


Das seit dem Sommer freundlich modeblau gestrichene Mietshaus steht an einer kleinen Ausfallstraße. Vereinzelt hängen Blumenkästen auf den einsamen Balkonen, oben weht ein Sonnenschirm unverdrossen im Dezemberwind, und das schon seit drei Jahren. Satellitenschüsseln räkeln sich von Fensterbrettern in die Welt. Der Name „Türkenvilla“ stammt angeblich noch aus der Zeit abblätternder Fassaden. Wintersonnenwende und die Nacht bedroht den dunklen Tag. Sturm kommt auf. Tannen verbiegen sich, und aus dem Himmel grollt es laut und lauter. Am Parkrand stehen plötzlich schwarze Limousinen Kette. Davor hurtige Graugestalten, so bemüht, mit dem Straßenalltag zu verschmelzen, dass sie keine Tarnung brauchen.

Ihre Telefone schrillen, summen. Der Helikopter steht direkt über dem Haus. Zerschneidet grell den Abend. Ich gehe trotzdem raus. Der Hund muss mal. Seine Uniformphobie macht sich in heiserem Gebelle Luft. Bald kommen alle Nachbarn vor die Tür. „Was geht hier ab?“ „Ach nichts. Wir sind schon weg. Ein Helikopter? Wo?“

Wie ein Spuk bin ich die Geister wieder los. Und nicht nur ich. Hinter dem Sonnenschirm erscheint ein Arm und wirft ein Päckchen auf den Gehweg.