Weihnachten 2010 ist Vergangenheit. Aber für viele von Euch geht die stade Zeit noch bis Anfang Januar weiter. Deshalb hier noch eine Weihnachtsgeschichte, die nachhält. Viel Spaß beim Lesen.
Still, still, still…..
„Ein Bilderbuch-Weihnachten“, denkt der Monsignore, während er sich seinen Weg durch die flaumige Schneedecke bahnt. Des einen Freud, des anderen Leid. Max, der Küster, wird bald wieder mit der Schneeschippe ausrücken müssen. Unaufhaltsam rieseln die weißen Flocken herab. Ein Mantel aus heiliger Stille legt sich auf die Welt, wie in Zuckerwatte gepackt schlummert das barocke Kirchlein dem Abend entgegen. Bei diesem Wetter wagt sich niemand vorzeitig auf die Straßen, und der Besucherstrom der letzten Tage ist versiegt. In der Adventszeit ist die sonst so stille Kirche ein Publikumsmagnet. Nicht wegen der antiken Fresken, die den Altarraum schmücken, sondern wegen der historischen Krippe mit ihren lebensgroßen Figuren. Besonders das Christuskind hat es den Gästen angetan. Wie ein echtes Baby liegt es in seinen reich bestickten Windeln und lächelt seit Jahrhunderten jeden an mit einem Blick, der direkt ins Herz geht und schon so manches innere Eis aufgetaut hat. Und keinen stört der offensichtliche Widerspruch zwischen der christlichen Legende vom armen Jesuskind und seinem wohlgenährten Abbild in der goldverzierten Futterkrippe. „Weil die Menschen hier ja auch nicht wirklich arm sind, zumindest nicht materiell“, beantwortet der Monsignore seine eigene Frage.
Er ist an der Tür zur Sakristei angekommen, dreht mit dicken Handschuhfingern mühsam den Schlüssel im Schloss, schüttelt sich den Pulverschnee von den Schuhen und tritt ein. Kalt! Sein Atem schwebt ihm blau voran auf dem Weg in die Kirche. „Wir müssen wohl zwei Stunden früher einheizen, heute“, denkt er. Durch die bleiverglasten Fenster sickert blasses Winterlicht auf die Krippe im Seitenschiff. Doch schon aus dieser Entfernung erkennt der Monsignore, dass etwas nicht stimmt. Auf dem steinernen Bodenmosaik zieht sich eine Spur aus verstreutem Heu bis zum Portal. Jetzt steht er im Halbkreis der Figuren. Josef schaut vorwurfvoll auf ihn herab – der Monsignore möchte ihm jedes Jahr wieder verständnisvoll auf die Schultern klopfen, er hat es nicht leicht, der Mann. Maria kniet versunken vor der leeren Krippe. Vor der LEEREN Krippe. „Das Kind ist weg!“ Hat er geflüstert? Geflucht? Geschrien? Noch während er mit ungelenken Fingern Max’s Nummer in sein neues Handy tippt, wird das Kirchenportal aufgestoßen, und inmitten einer eisigen Flockenwolke weht die Mooshuberin herein. „Ja was is denn passiert? Was schrein‘s denn so?“ Ihr Blick folgt der ausgestreckten Monsignorehand. „Jessas!“ Genau. Jesus. Er ist weg. Wenige Stunden vor der Christmette.
Inzwischen steht auch Max vor der leeren Krippe. „Wer war zuletzt hier in der Kirche?“ will der Monsignore wissen. Max zählt auf. Gleich nach dem Morgenlob der Kindergarten von St. Anna. Am Mittag die Frauen vom Bibelkreis zum Krippenschmücken. Frische Blumen und so für den Heiligen Abend. Und dann, um vierzehn Uhr, die Ehrenamtlichen aus dem Franziskanum mit ein paar rüstigen Senioren. „Die, denen die Christmette zu spät ist.“ Und danach? Keine angemeldeten Besucher. Allerdings wird die Kirche in der Adventszeit nicht abgesperrt. Wäre ja noch schöner, den Zugang zur Krippe zu verwehren! Fußspuren? Nein. Schnee und Wind waren dem Dieb zuverlässige Komplizen. Aber was macht einer mit einem Jesuskind? Spielen? Wohl kaum. Dazu ist die Figur zu schwer und zu steif. Ratlos starren die drei in die Ferne. Kein Stern erscheint, keine Erleuchtung, kein Wegweiser. Da wird das große Portal wieder aufgestemmt. Ferdl, der Zivi aus dem Seniorenstift Franziskanum. „Habt‘s Ihr die Frau von Stetten gesehen?“, schnauft er atemlos, die Wangen rot vor Kälte. Oder vor Anstrengung. „I renn jetzad scho zwei Stunden umanand. Die Oide is wie vom Erdboden verschluckt“. Nein, in der Kirche ist sie auch nicht. Obwohl – der Monsignore, früher bekannt für seinen Adlerblick – kneift die Augen zusammen. Geht ganz nah an die Krippe heran. Bückt sich. Und fischt einen weißen Lappen zwischen den Hufen des Esels hervor. „Ein Taschentuch. Parfümiert.“ Ferdl nimmt es in die Hand, schnuppert daran. „4711. Das muss der von Stetten gehören.“
Im Gänsemarsch stapfen die vier Detektive wider Willen um die Kirche. Von Frau von Stetten keine Spur. „Am besten, wir trennen uns. Wer geht zum Friedhof? …. Gut, also ich.“ Der Monsignore öffnet das eiserne Türchen, das von der Kirche in den alten Friedhof führt. Das Schneetreiben verwischt die Grenzen zwischen Himmel und Erde. Jedes Grabmal sieht aus wie ein weißbekränztes Tor. Ganz hinten unter den hohen Wettertannen bewacht ein steinerner Engel die Gruft der Familie von Stetten. Die Heilige Nacht hält den Atem an. Der Monsignore lauscht. Und hört leise, ganz leise, ein Summen. „Still, still, still, weil‘s Kindlein schlafen will“. Auf den schneebedeckten Marmorstufen vor dem Mausoleum sitzt eine Gestalt. Eingehüllt in einen dichten braunen Nerz, die Pelzmütze tief ins Gesicht geschoben. Sie drückt ein weißes Bündel schützend in die Falten ihres Mantels. Und singt. „Frau von Stetten?“ „Sch…, leise. Er ist grade eingeschlafen. So erschöpft war er, vom Fieber. Ja, jetzt wird alles gut, mein Liebling. Schlaf. Mama ist ja da.“ Weihnachten ist, wenn sich Himmel und Erde berühren, denkt der Monsignore. Wenn sich die Gegensätze aufheben. Licht und Dunkelheit. Leben und Tod. Weihnachten hat Frau von Stetten ihren Sohn wiedergebracht, der vor gut achtzig Jahren am Fieber gestorben ist.
Der Monsignore setzt sich neben die beiden und legt vorsichtig seinen Arm um die alte Frau.