Im Schneckentempo


Ohne dem Tag die Chance zu geben, dich mit seinem sonnigen Lächeln wachzustreicheln, hat die monotone Stimme aus dem Zimmerdunkel an deinen Träumen gerüttelt. „Hier ist B5 Aktuell, der Informationskanal des Bayerischen Rundfunks. Es ist sechs Uhr.“ Jäh ruckst du hoch. Spürst den Druck auf den Augen. Schiebst die Beine aus dem Bett und fühlst statt Teppich Taubheit an den Füßen. Steifgelenkig stakst du Richtung Tür. Der Kater streckt den lahmen Buckel auf der Decke, der Hund lugt starren Auges aus dem Flur herüber.

„Es ist, wie es ist. Wir sind alt, meine Freunde.“ „Aber wir kommen besser damit klar“, scheinen deine zwei Vierbeiner zu sagen. Samtpfotig schleicht die blinde Karikatur des legendären Comic-Katers  (ich habe den Namen der pizzafressenden Figur vergessen, wie ich überhaupt alle Namen vergesse, immer öfter) die Treppe hinunter. Der Hund will es ihm nachmachen, aus blankem Futterneid. Rutscht aus und poltert die Stufen hinunter, Hinterteil zuerst. Wenigsten einer ist genauso morgendappig wie du…Unten in der Küche geht die morgendliche Torturprozedur in die zweite Runde. Unscharf blinzelst du nach der Kaffeekanne, greifst daneben, heißes Braun ertränkt den Frühstückstoast. Jetzt könntest du ihn sogar ohne Zähne kauen. Soweit isses zwar noch nicht, aber „Kommt auch noch,“ denkst du.

Mit der Tasse in der Hand rammst du zielgenau den Türrahmen. Auch das passiert dir immer öfter. „Wo war der Briefkastenschlüssel?“ Und, Sekunden später, barfüßig am Gartentor: „Was wollte ich nochmal hier draußen holen??? Ach ja, die Zeitung.“ Uff. Doch kein Alzheimer?

Mensch mensch mensch! Wie soll das nur weitergehen? Immerhin schickst du dich grade erst an, zu altern. Und hast noch locker drei Jahrzehnte vor dir, hoffentlich! Hauptsache leben? Aber wie?

Rückblende. Gestern nach auf der Ü33-Party. Die nichts weiter ist als ein Euphemismus oder die negative Wiedergeburt des Schneewittchenspiegels. „Mannomann. Hab ich mich in der Generation geirrt, oder bin ich wirklich schon so alt?“ fragst du dich nach dem ersten Blick in die Gesichter der Figuren, die die Tanzfläche bevölkern. Und dich beschleicht ein Gefühl à la Psycho. Absolut hitchcockartig. Kriecht dir von den Augen über alle Poren bis ins Herz hinunter. Mitleid? Abscheu? Selbsterkenntnis? Noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Jedenfalls.

Sie rocken lockenwerfend. Sie hüpfen springen stampfen wie pralle kleine Gummibälle. Ein Barfußpärchen aus der Goafraktion, oder dem Tollwoodghetto, je nach Beobachtergusto, wirbelt über das Parkett. Er ein schwarzer Ninja mit tätowierten Muskeln und  avatar-inspirierter Dreadlockmähne. Sie das weiße Pendant in Haremshose, Pailettenröckchen und schweißnassem Muskelshirt. Das Lederband um den Oberarm schneidert braun ins welke Fleisch und lenkt den Neugierblick unweigerlich nach oben auf das Zentrum ihres blonden Haarfilzturms. O Schreck! Ein Schrumpfkopfflummi bounct da durch den Saal. Was von hinten aussieht, als hätte es die Sperrstunde umgangen und den Eintritt mit dem Taschengeld bezahlt, gleicht von vorne einem faltig eingefallenen Totenkopfäffchen!!

Neben diesem Duo fallen all die anderen selbstvergessenen Freitänzer auf der Late-Nite-Party ihres Lebens kaum noch auf. Zum Beispiel die zwei Tangoschieber, die ihre erschlafften Körper völlig rhythmus-ignorierend zu verknoten suchen, wobei ihnen wechselweise Bauchfett und Hüftspeck hindernd in die Quere kommen. Bis er endlich, nach einem gewagten Doppelsalcho, rückwärts flach auf dem Tanzboden landet. In einer kafkaesken Verwandlung von Valentino zu Gregor Samsa.

Irgendwann an diesem Abend der kollektiven Verzweiflung bist du wohl selbst ins orgiastische Vergessen hineingetaumelt. „Seltsam, kurios oder traurig, dass man offenbar beim Tanzen seine Zeit vergisst, Denken, Scham und Würde ablegt und sich bewegungstechnisch voll zurückentwickelt, in einer Art individueller Retrovolution?“ fragst du, während du deinem Sohn eines der letzten Schulbrote seines Lebens schmierst. Er grinst auf dich aus 196 cm herab, klopft dir mit einer Riesenpranke auf die Schulter und sagt: „Also Stil und Ehre werden heute sowieso überbewertet. Frag mal den Verteidigungsminister. Bleib wie du bist, Mum. Wie auch immer. Aber – geh nicht in die gleichen Lokale wie ich, ok?“

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