6. Dezember: …. ist der Wurm drin


Der türkische Gemüsehändler musste sich nicht beeilen, um die alte Frau einzuholen. Drei, vier, fünf große Schritte, und er war mit ihr auf  gleicher Höhe, auf dem schmalen Bürgersteig gegenüber dem Universitätskrankenhaus. „Halt, bleiben Sie doch stehen“! Sein Deutsch ist akzentfrei, aber irgendwie nicht der Situation angepasst. „Halt, stehenbleiben“ wäre plausibler gewesen. Vielleicht hat das Unterbewusstsein der alten Diebin genau das verstanden. Sie friert jedenfalls mitten im Ausschreiten fest. Schlägt Wurzeln im Asphalt, ohne sich zu ihrem Verfolger umzudrehen. Jetzt greift er nach ihrem Arm. Dem Jackenärmel. Redet auf sie ein. Ich kann seine Worte nicht verstehen. Also spricht er leise. Schreit nicht. Die Frau schaut zu Boden. Dann plötzlich hebt sie den Kopf. Guckt ihm mitten ins Gesicht. Er zupft an ihrem Ärmel. Dreht sich Richtung Laden. Zieht die widerstrebende Alte mit sich mit. Bleibt erst vor der Auslage stehen. Lässt sie los, bleibt dabei aber so stehen, dass er ihr den Weg versperrt. Greift mit der Linken nach einer dünnen grünen Plastiktüte. Mit der rechten nach ein zwei drei vier fünf dicken roten Äpfeln. Packt sie in die Tüte, drückt sie der Frau in die Hand. Nickt ihr zu, wie um sie aufzumuntern, und geht dann schnell über die Schwelle hinein ins Ladendunkel.

Die alte Frau hat wieder Wurzeln geschlagen. Ihre Wangen sind hochrot. Sie starrt dem Gemüsehändler nach. Dann plötzlich lässt sie die Schultern hängen und geht über die Ismaninger Straße Richtung Wiener Platz. Als wögen die Äpfel in ihrer Hand Tonnen.

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