Der Warteraum in der Notaufnahme des Krankenhauses ist bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt. Wobei ich das nur mit den Augen erfasse. Wäre ich blind, würde ich vermutlich davon ausgehen, die einzige Patientin zu sein. So aber sehe ich sie alle schweigend und entsetzensblass auf den Plastikstühlen kauern. Frauen mit karierten Küchentüchern an den Füßen, Frauen mit geschwollenem Bein, Frauen mit Händen, von denen es blutrot auf untergehaltene Küchenrollen-Abrisse tropft. Und nein: dies ist – leider – keine literarische Übertreibung, sondern blanke Vorweihnachts-Realität. Die Männer tragen Wintermäntel, Handtaschen und Sorgenfalten. Sind womöglich noch blasser als ihre Frauen. „Frau X. wird begleitet von ihrem äußerst besorgten Ehemann“, steht dann völlig unwahrheitsgemäß auf dem Arztbrief. Denn dadurch entsteht ein irreführender Eindruck. Die Ehemänner sind nicht um ihre Frauen besorgt, sondern um ihre ganz persönliche unmittelbare Zukunft.
Der Heilige Abend steht vor der Tür. Die Gäste praktisch auf der Matte. Der Christbaum noch im Garten. Die Kugeln auf dem Dachboden. Die Zutaten zum Festmenu im Kühlschrank. Nur die Frau steht nicht mehr. Sie sitzt. Oder liegt sogar, wie die Brunette, die grade angekommen ist, auf einem Transportbett. Schöne Bescherung! Was soll jetzt werden? Ach, wäre die Welt doch einfach untergegangen, am 20. Dezember. Ein konzertiertes, kollektives Ende wäre nichts gewesen im Vergleich zu diesem interfamiliären Supergau. Die Hand zerschnitten beim Versuch, die 5-Kilo-Gans in gefrorenem Zustand zu zerteilen. Das Gehirn erschüttert beim Sturz im gedankenlosen Griff nach dem guten Geschirr ganz oben in der Schrankwand. Den Fuß gebrochen beim Slalom zwischen aufgetürmten Geschenkpaketen, leider noch nicht eingepackt. Während die Frauen mit bleichen Lippen und wirren Blicken ihrer Behandlung entgegenfiebern wie Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank, klingeln, surren, vibrieren die Handys der Ehemänner. „Mama, gut dass du anrufst! Könntest du vielleicht schon früher kommen und deinen Sauerbraten mitbringen? Viola hat sich blöderweise (!) verletzt! Wie bitte? Ach, du kennst sie ja! Immer das perfekte Timing…. Nein, Mama, das ist doch nicht…. wirklich? Ach, das wäre ja…. Danke, Mama! Nein nein, die Kinder lass ich bei Viola, dann ist sie nicht so allein. Also, dann bin ich pünktlich zur Bescherung bei Euch!“ Oder so ähnlich.
Frau B. bitte in Zimmer drei. Ich raffe mich auf und humpele durch die Glastür meiner Diagnose entgegen. Zehn Minuten und einen Gips später weiß ich: dieses Fest wird unvergesslich! „Wenn Sie den Fuß ruhig halten, kommen Sie vielleicht um eine OP drumrum“, hat mir der unsympathische und völlig unempathische Arzt mit auf Weg gegeben. Soll wohl heißen: wir sehen uns in einer Woche auf dem Tisch wieder. Denn wie bitte soll ich meine demente Mutter pflegen, den Hund rausbringen, die Katze füttern, ohne mich vom Bett zu bewegen? Als erstes falle ich gleich mit den Krücken die Treppe hinauf. Der Hund flieht vor mir, die Katze schenkt mir einen Riesenhaufen – der nach drei Stunden zum Glück aufhört, zu stinken. Und das ist der erste Tag!
Schöne Bescherung!
Und dann kommen Freunde und holen den Hund zum Spaziergang. Andere bringen das Essen. Mein Sohn geht einkaufen. Nur meine Mutter steht alle zehn Minuten vor mir und fragt: „willst du nicht bald mal mit den Vorbereitungen anfangen? Was hast du denn da gemacht? Ach so, ja, mir tut auch schon der Arm weh“. Aber auch dafür werden wir eine Lösung finden.
Ich niste mich jetzt auf dem Sofa ein – und schreibe meinen Alzheimer-Krimi fertig! Das ist wirklich eine schöne Bescherung!
Einen gesegneten, besinnlichen Heiligen Abend Euch allen! Wünscht aus dankbarem Herzen Eure Marie Bastide