Oh Tannenbaum


Silke und Matthias hatten sich so auf ihr Eigenheim gefreut! Endlich raus aus dem Plattenbau und rein in das Leben, das sich schon ihre Eltern erträumt hatten und dann nach der Wende nicht mehr genießen konnten. Statt ewig dreckiger Treppenhäuser am großen Dreesch schmucke Garagenauffahrten, fein säuberlich nebeneinander in Reih und Glied, eine ganze niegelnagelneue Einfamilienhaussiedlung vom Reißbrett. Und sie mittendrin.

Aber dann zogen die Meiers ein. Ausgerechnet nebenan. Statt Gartenzwerge pflanzten sie moderne Kunst in den Garten und statt ordentlicher Salatbeete einen Teich mit Kois. Sie machten keine Grillparties sondern Barbecues, und sie hatten sich auf der Gemeinde wegen Matthias Laubbläser beschwert. Erfolgreich! „Nur, weil das Wessies sind“, hatte Matthias gemutmaßt, aber der Verdacht war nie bestätigt worden.

Egal, was Silke und Matthias sich anschafften, um ihren Status zu festigen – die Nachbarn hatten es schon und paradierten damit, oder machten die Errungenschaft kurzerhand schlecht. Am ersten Advent hatte Matthias einen kompletten Rentierschlitten aufs Vordach gestellt, mit weißrotblau blinkenden Lichtern. Daraufhin hängten die Nachbarn nur einen einzelnen Stern ins Fenster – und montierten einen Bewegungsmelder, der in einer Entfernung von 5 Metern vor der Haustür „Mache dich auf und werde Licht“, gesungen von den Thomanern, erschallen ließ. Silkes Haustür war weniger als 5 Meter entfernt, und schon nach 1 Tag konnte sie die Musik nicht mehr hören und schaltete den Rentieren den Strom ab.

Aber das jetzt hier schlägt dem Fass den Boden aus! Es ist nicht zu fassen! Silke und Matthias haben von der neuen Tannensorte gehört. Korktanne soll sie heißen und ganz wunderbar duften. Sie recherchieren und telefonieren – und dann fahren sie ans andere Ende der Stadt und finden bei dem Gärtner hinten am Ende der Straße das allerletzte Exemplar. „Das nehmen wir“, ruft Silke. Dann liest sie das kleine Plastikband um den Stamm: reserviert für Meier. Matthias sieht rot, dann hat er eine Idee. Meier können die Korktanne ruhig kaufen, aber heil nach Hause bringen werden sie sie nicht. Hilfsbereit schnürt er sie „fachgerecht“ auf dem Dach des Meierschen Autos fest. Und fährt dann hinterher, um dem Triumph zu genießen.

Und tatsächlich. Bei der ersten Vollbremsung – am unbewachten Bahnübergang, um genau zu sein – lösen sich die Riemen, und die Tanne saust vom Dach. Leider direkt in die Frontscheibe des dahinter fahrenden Autos. Der Fahrer wird aufgespießt, Silke überlebt schwer verletzt. Dass Meiers im Sommer umziehen werden, ist für sie keine Genugtuung.

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