Die Rolle seines Lebens
Das ist ihm noch nie passiert! Er steht am Pult, und vor ihm, in angemessener, die Sicht leicht trübender Entfernung, schweigt ein ganzer Saal. Andächtige Blicke saugen an seinem Gesicht, heften sich an seine Augen, verkeilen sich in seinen Lippen. Er ringt nach Luft, muss würgen. Heraus kommt ein nur unartikulierter Laut. Arghh. Und sofort wirft das Echo ihm ein leises, ausatmendes „Aaah“ zurück. Die Stille wartet auf das „B“.
Aber er kann nicht sprechen. Heißt es nicht, dass in den letzten Sekunden noch einmal das ganze Leben wie in einem Zeitraffer an einem vorüberrast? Er sieht sich wieder auf dem unbequemen Sofa seiner Casting-Agentur sitzen und darauf warten, dass die schwere Eichentür ins Allerheiligste sich öffnet. Eine Stunde, zwei. Dann, endlich – geht sie auf, und eine Frau tritt mit energisch kleinen Trippelschritten in den Warteraum. „Tut mir leid, sobald wir jemand geeigneten finden, melden wir uns bei Ihnen“, salbt die Stimme seiner Agentin aus dem Off. Die Trippelfrau dreht sich nicht um. Wirft einen abwesenden Blick in die Runde, als wolle sie die auf Sofas, Stühlen, Hockern Harrenden vom Staub der Wartezeit reinigen. Dann sieht sie ihn an, er schaut zurück. Sie zieht eine Augenbraue hoch und ruft, ohne ihn loszulassen, „nicht nötig. Hier ist er doch. “
Damit fing alles an. Und jetzt steht er hier. Eine Woche Zeit für runde 100 Seiten Reden. Lächerlich! Das ist ja nicht einmal ein Viertel von King Lear! Dazu täglich Anproben, Sprech- und Gehtechnik. Schon nach drei Tagen ist er in die Villa eingezogen. Und heute dann der große Tag. Frühmorgens ausgiebige Toilette und eine letzte Gegenüberstellung. „Sie sind ja besser als mein Spiegel“. Das hat ihm bei seinen Theaterrollen nie einer gesagt. Dann in der Limousine bis vors Wahllokal, Kreuzchen machen unterm Blitzlichtgewitter. Lächeln aufgenäht. Das war die Generalprobe. Alles lief gut.
Und jetzt steht er hier. Der große Auftritt, volles Haus. jedes Theater ist ein Witz dagegen. Und er – hat den Text vergessen. Aus dem Publikum werden Rufe laut: „Leon, Leon, Leon“. Sie denken, er sei zu gerührt und das Glitzern in den Augen wären Tränen. Dabei ist es Schweiß. Und Angst.
Wieder räuspert er sich. Gut, ich hab’s vergeigt. Denkt er. Der Film vor seinen Augen spult sich vor. Er wird ganz einfach alles sagen. Dass er ein Double ist. Ein Doppelgänger. Nur zur Sicherheit hierher bestellt. Gestellt. Aber nun ist ja alles gut, die Wahl vorbei, der Sieg errungen. Er will jetzt sein Honorar und dann die Südsee. Er blickt ins Publikum. Ein letztes Mal. Alles ist dunkel, nur direkt ihm gegenüber blitzt es auf, sekundenschnell. Er spürt nicht mehr als einen kleinen Stoß an seiner Brust, direkt am Herzen, schwankt und fällt. „Arghh“, will er sagen. Doch stattdessen schreit der Saal. Er hört es nicht.
Dann fällt sein Vorhang.