MiniKrimi vom 10. Dezember


Himmlische Töne

Der Mesner schaut nervös auf die Uhr. Fünf vor zehn. Vom Organisten noch keine Spur. „Nicht, dass er gestern wieder über die Stränge geschlagen hat und jetzt seinen Rausch ausschläft. Obwohl – das kann eigentlich nicht sein. Als ich nach Hause kam, waren Eva und ihre Freundinnen noch beim Plätzchenbacken, und dann sind wir ins Bett gegangen. Aber vielleicht pfeift der Organist ja auf mehr als einer fremden Hochzeit….“

Gerade schwingt die letzte Glocke langsam aus, da stürmt der Organist durch die kleine Seitentür und schleicht, so leise es die knarrenden Holztreppen erlauben, auf die Empore. Ein paar Köpfe drehen sich in seine Richtung, andere drücken vorwurfsvoll schüttelnden Missmut aus. „Dieser Organist ist eine Schande für unsere Gemeinde“, flüstert Regierungsrat Hohlstein seiner Frau ins Ohr. „In der nächsten Gemeinderatssitzung werde ich das ansprechen.“ Da setzen auch schon die ersten Akkorde ein – wie immer zu hastig, zu schludrig, zu wenig präzise. „Wofür kriegt der eigentlich sein Geld, wenn er vor dem Gottesdienst nicht übt?“ Frau Hohlstein gibt ihrem Mann einen Stoß in die Rippen. Sie hat eigentlich nichts gegen den Organisten einzuwenden, seit sie ihn vor einiger Zeit zum ersten Mal mit Eva bei Starbucks in München getroffen hat. Er sieht ganz passabel aus, besser jedenfalls als die meisten Männer hier im Dorf. Und lustig ist er obendrein. Sie hat die beiden dann noch öfter gesehen, in der Stadt. Rein zufällig. Aber man sagt ja, jede Stadt ist ein Dorf. Gut, es heißt, dass er immer mal zuviel trinkt. Aber was soll er auch sonst machen, in diesem Kaff? Er ist ja nicht verheiratet.

Der Pfarrer findet heute wieder mal kein Ende und predigt, als hinge sein Seelenheil davon ab, möglichst alle Gottesdienstbesucher mit seiner monotonen Stimme in den Schlaf zu salben. Endlich steigt er von der Kanzel herab. Jetzt noch das Abendmahl – Frau Hohlstein überschlägt im Kopf, ob sie die Zeitschaltuhr des Backofens richtig eingestellt hat. Nicht, dass der Sonntagsbraten austrocknet!

Der Kreis ist klein. Nachdem der Regierungsrat wie üblich einen extra großen Schluck Messwein getrunken hat, reinigt der Mesner sorgfältig den silbernen Kelch und schenkt frisch ein. Als letzter klettert der Organist von der Empore herab. Sonntagsstille senkt sich auf den Kirchenraum, als der den Kelch aus den Händen des Pfarrers entgegennimmt und ehrfürchtig an seine Lippen führt. Fast, als sei er sich der Tragweite des Augenblicks bewusst.

Das nächste Lied spielt er irgendwie schleppend. Und dann, bei der Musik zum Ausgang, verharrt er sekundenlang auf den Pedalen. „Jetzt schläft der wohl schon an der Orgel ein!“, entrüstet sich der Regierungsrat, als der Schlussakkord krachend auf die Gemeinde donnert. Frau Hohlstein dreht sich erschrocken um. Und sieht, wie der Organist von der Orgel zum Emporengeländer wankt, genau zu der Stelle,  wo die senkrechten Holzstreben morsch sind. Eigentlich hätte der Mesner sie gestern austauschen sollen. Aber dann ist ihm leider etwas dazwischen gekommen. Wie in Zeitlupe sieht Frau Hohlstein den Organisten mit dem vollen Gewicht gegen das Geländer fallen und mitsamt dem wurmzerfressenen Holz in die Tiefe stürzen. Wie ein  Schneeengel liegt er jetzt auf den Fliesen des Mittelgangs, ein Schneeengel mit einer roten Aureole.

Zum Glück sorgt der Regierungsrat dafür, dass der „Unfall“ von den Behörden diskret abgehandelt wird. Der Mesner nimmt den Abendmahlskelch mit nach Hause, um ihn sehr gründlich von möglichen Rückständen zu befreien. Aber zuvor gibt er seiner Frau Eva noch einen Schluck Messwein daraus zu trinken, auf den Schock nach der Nachricht vom Tod ihres Organisten.

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