Roter Schnee
So ein schöner Schlitten! Naja, was heißt Schlitten. Mit dem traditionellen Kufengefährt, das im Bergwinter oft die einzige Verbindung zur Außenwelt war und zum Leben jenseits eines einsamen Dorfes, hat dieses Highspeed-Geschöpf rein gar nichts gemein. Weder die Form noch den Zweck. Aber seit er in der Stadt lebt, hat Josef, der sich jetzt Joe nennt, ja auch keine einzige Verbindung mehr zu dem Ort, an dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Zumindest denkt er das.
Aber warum ist er dann so versessen auf’s Rodeln? Auch, wenn er den Sprung ins Profilager nie gemacht hat – bei den Amateur-Rennen ist er immer ganz vorne mit dabei, und an Wagemut kann es kaum einer mit ihm aufnehmen. Ob Speedracer oder Airboard, Joe probiert alles aus.
Als er eine Einladung zum in Rodler-Kreisen legendären und allerhöchstens halb legalen Klausberg-Rennen erhält, ist Joe sofort Feuer und Flamme. Dass er damals beim Verlassen von Steinhaus nicht nur den Eltern das Herz gebrochen und sich seitdem bei keinem im Dorf mehr gemeldet hat, ist für ihn kein Argument. Und er verliert nicht einmal einen Gedanken daran, dass sein Auftauchen nach 10 Jahren für Aufregung sorgen könnte.
Er packt seinen neuen High Tech Highspeed-Rodel ein und fährt ins Tauferer Ahrntal. Joe ist kein Romantiker, aber auf der breit ausgebauten Strecke unterhalb der Sonnenburg spielen ihm die Erinnerung Bilder in den Blick, die er längst vergessen glaubte. „Josef und Kathi“ hat er damals in die Rinde einer Eiche geritzt, am Fuß der Burgruine. Und „4ever“ dazu. Joe hat keine Ahnung, was Katharina nach seiner Flucht aus Steinhaus gemacht hat. Er hatte keine Adresse hinterlassen, nur einen Zettel, auf dem stand: „Ich muss raus. Mir wird hier alles zu eng.“
Und jetzt kommt er zurück. Für eine Nacht und ein Rodelrennen. Plötzlich ist er froh um die Dunkelheit und besorgt, dass ihn jemand erkennen könnte. Er parkt ein ganzes Stück hinter der Talstation und schultert den Rodel. Damit, dass auch ein inoffizielles nächtliches Rennen Zuschauer anzieht, hat er gerechnet. Damit, dass jemand vielleicht genau mit ihm rechnen und auf ihn warten könnte, nicht.
Das Rennen beginnt. Joe geht an den Start. Die Nacht ist sternenkalt, der Schnee hart wie Kristall und die Luft bitterklar, so wie damals, im Winter vor zehn Jahren. In der Steilkurve hinter der Mittelstation, dort, wo die Piste als Nadelöhr zwischen mächtigen Tannen hindurchrast, hört er sie rufen: „Josef! Bischt wieder da? Jetzt gehscht nimmer fort!“
Ausgerechnet der zehnjährige rodelvernarrte Seppi findet den Schlitten. Er steht auf dem blitzenden Schneefeld, und seine Alukufen funkeln in der Morgensonne. Den Berg herunter von den Tannen her führt seine Spur, rot auf weiß.
Die Leiche von Josef Unterkammer liegt weiter unten im Bach, ein Messer im Rücken.