Minikrimi vom 23. Dezember


Das Schicksal aufhalten

Morgen ist Heiligabend! Die Liste der Dinge, die ich noch zu erledigen habe, ist viel länger als die Zeit, die mir dafür zur Verfügung steht! Als erstes muss ich die Wohnung putzen. Wenn morgen meine Freunde zum Essen kommen, will ich sie nicht mit Katzenhaaren im Salat erschrecken. Es ist wohl ziemlich lange her, seit ich das letzte Mal den Boden gewischt habe. Denn ich finde nirgends einen Schrubber. Also runter zur Nachbarin, die hat einen Putzfimmel und kann mir ganz sicher aushelfen.

Sie kann. Und holt umgehend einen nagelneuen Schrubber nebst jungfräulichem Lappen aus den Tiefen ihrer nach Lenor duftenden Wohnung. Aber dann steht sie in der Tür, Schrubber und Lappen fest in ihren Händen, und erzählt mir die komplette Krankheitsgeschichte ihres Bruders. Von der chronischen Verstopfung über die Gallensteine bis hin zum Darmverschluss. Tragisch, natürlich. Aber ich höre bei jedem ihrer Worte das Ticken ihrer Küchenuhr – und weiß, meine Zeit verrinnt. Als es mir endlich gelingt, ihr die Putzutensilien zu entreißen, habe ich zwanzig Minuten verloren!

Ich gehe zurück in die Wohnung. Nach einer Stunde habe ich den gröbsten Schmutz entfernt. Vom Kirchturm auf der anderen Seite des Stadtwäldchens schlägt es drei. Vor allen Dingen muss ich einkaufen. Und zwar mehr als die zwei TK-Pizze und fünf Äpfel, die ich für mein normales Wochenende brauche. Das heißt, ich muss mit der S-Bahn in die Stadt, zum Supermarkt und dem kleinen, feinen Libanesen, bei dem ich all das bekomme, was für mein Hauptgericht morgen nötig ist. Ich bin keine besonders gute Köchin. Es gibt überhaupt nur zwei Gerichte, die ich beherrsche. Eines davon ist das gefüllte Perlhuhn nach einem alten libanesischen Rezept. Das habe ich von meiner allerersten großen Reise mitgebracht. Seitdem ist es mir ans Herz gewachsen, und ich bereite es immer dann zu, wenn ich wirklich Eindruck machen will. So wie morgen. Denn einer meiner Freunde, Antoine, gefällt mir ganz besonders gut……

Die nächste S-Bahn, die in Frage kommt, fährt um 16.05 Uhr. Später geht nicht, sonst macht der Libanese zu. Ich gehe aufs Klo. Beim Händewaschen fällt mein Blick aus Versehen in den Spiegel – ich vermeide es tunlichst, mein Spiegelbild anzuschauen. Aber jetzt ist es passiert, und ich weiß sofort: SO kann ich nicht unter die Leute. Also schnell den Kopf unter die Brause.

Das Telefon klingelt. Mit Shampoo im Haar nehme ich ab. Es ist Tante Elsbeth. Wir telefonieren einmal im Jahr, immer am 23. Dezember. Ich kann ihr unmöglich sagen, dass ich jetzt gerade keine Zeit habe. Eine halbe Stunde später wasche ich mir die Seife aus dem Haar. Nach weiteren 30 Minuten bin ich ausgehfertig. Es ist inzwischen halb vier. Ich liege gut in der Zeit und schaffe die S-Bahn sicher ohne Probleme.

Auf dem Weg durch das Wäldchen begegnet mir Herr Bergmaier mit seinem Afghanen. Besser gesagt, der Afghane kommt mir allein entgegen und zieht die Leine hinterher. Ohne das Herrchen am anderen Ende. Als Freddy, so heißt der Hund, mich sieht, springt er schwanzwedelnd an mir hoch. Er legt mir die Pfoten liebevoll auf die Schultern, aber sein Gewicht reißt mich einfach zu Boden. Da liege ich nun im Dreck und versuche, mich einer nassen Hundezunge zu erwehren. Schließlich kommt Herr Bermaier. Völlig außer Atem. Er bedankt sich überschwänglich bei mir dafür, dass ich den Hund aufgehalten habe. Er ist aus Angst von einem Böller davongelaufen. Wer weiß, ob er nicht unter die S-Bahn gekommen wäre, wenn ich nicht gewesen wäre….. Herr Bergmaier erzählt mir noch, wie Freddy und er Heiligabend verbringen werden – mit einer ganzen Staffel Martin Rütter auf Sky. Als ich die Treppen zur Bahngleisunterführung runterrenne, schlägt die Kirchturmuhr gerade vier. Vor mir läuft eine alte Dame, komplett mit Hut, Mantel, Reisetasche und Stockschirm. Der verfängt sich auf der vorletzten Stufe in ihrem Mantelsaum, die wacklige, aber korpulente Person schwankt ein paar Sekunden lang hin und her – und kippt dann hintüber die Bahnsteigtreppe hinunter. Ich hechte mit einem meiner Volleyballsprünge, für die ich in der Schule mal berühmt und bei den Jungs besonders beliebt gewesen bin, die vier Stufen zu ihr rauf und werfe mich mit meinem ganzen, nicht sehr üppigen Gewicht gegen ihre Sturzrichtung. Wir prallen aufeinander, sie ist stärker, und wie eine bunte Lawine kugeln wir die Treppe hinab.

Als wir uns unten auseinander sortiert haben, ist schnell klar, dass keine von uns sich verletzt hat. Die alte Dame ist weich gefallen, und meine Knochen sind stabiler als ihre.

Noch während sie mir überschwänglich dankt, hörte ich oben meine S-Bahn ein- und dann wieder abfahren.

Das war’s, denke ich resigniert, und lasse mich von der alten Dame auf einen Piccolo ins Café Kreuzeck neben dem Bahnhof einladen. Dort hören wir dann auch die Polizeisirenen und sehen kurz darauf im Regionalfernsehen, dass die 16.05 Uhr-S-Bahn entgleist ist. Ein Sprengstoffanschlag wird vermutet.

 

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