Marias Traum
Wintersonnwende. Magischer Wintertag. Maria hat alles höchst sorgfältig vorbereitet. Nur nichts dem Zufall überlassen, denn wenn die Finsternis ein Schlupfloch findet, überfällt Dunkelheit den einen, heiligen Moment, und es wird Nacht. Ewige Nacht.
Der Traumfänger hatte viel zu tun, sie spürt, dass unzählige böse Ahnungen darin gefangen sind. Während sie ihre To-do-Liste abarbeitet, wird sie immer wieder von schwarzen Gedanken bedrängt. Wie typisch für diesen Tag, an dem die Grenzen der Welten durchlässig sind. Empfindliche Menschen wie ich müssen stark sein, denkt Maria. Ich bin stark, sagt sie sich. Immer wieder. Als sie die dunklen Tücher einpackt und die weißen Kerzen. Das Sturmfeuerzeug, denn bei aller Magie muss sie praktisch denken, und es kann sein, dass es windig ist, dort draußen.
Sie druckt sich die Wegbeschreibung aus, zur Sicherheit, auch, wenn sie den Weg im Schlaf zu kennen glaubt. Mit dem Auto bis zur großen Schranke, dann vorbei an den leeren Hütten bis hinauf zu Heidewiese. Dann den Abhang hinunter, über die Holzbrücke auf die Insel im Fluss.
Maria ist stolz, dass sie auserwählt wurde, die Welt vor dem drohenden Unheil zu bewahren. Sie nimmt ihren Auftrag sehr ernst, und sie hat sich mehrfach vergewissert, dass sie wirklich gemeint ist. Drei Mal hat sie das I Ging Orakel befragt, und drei Mal haben die Würfel dieselbe Antwort gegeben. Drei Mal hat sie die Tarotkarten gelegt. Drei Mal bekam sie die gleiche Antwort.
Als die Dämmerung ihre Schattenfinger über die Häuser streicht und das Abendrot von den Dächern nimmt, fährt Maria los. Alleine, so will es ihr Auftrag. Mühelos findet sie den Parkplatz. Das Bündel ist schwer und das Gras nass und klebrig. Aber sie hat nicht erwartet, dass ihre Mission eine leichte sei. Viel lieber wäre sie jetzt mit den anderen im fackelerleuchteten Hof, wo die Flammen schon hoch in den Nachthimmel lodern. Sie wäre sogar als erste durchs Feuer gesprungen, um dieser kaltfeuchten Einsamkeit hier zu entgehen. Du bist stark, sagt sie sich. Auf der glitschigen Brücke gleitet sie aus und wäre beinahe in den Fluss gestürzt. Die dunklen Mächte wollen sie aufhalten. Vom Ast einer Tanne schaut ein Rabe herab, Gelbfunkelauge. Hinter den Büschen am Ende der Insel, am Eingang des Stollens, leuchtet ein anderes ihr entgegen. Maria denkt an die Bücher, die sie gelesen hat. Fantasygeschichten. Kinderkram. Das ist das wahre Leben. Und sie mittendrin. Allein. Eine Kämpferin für das Gute der Welt.
Und morgen wird keiner wissen, dass sie es war, die das Licht zurückgebracht hat. Alle werden sich freuen, dass die dunkelste Nacht für ein Jahr vorüber ist. Aber sie, Maria, erwartet keinen Dank von den Menschen. Sie dient einer größeren Macht.
Sie breitet das Tuch auf den Steinen aus, verteilt das Sternenkreuz und die Kerzen, streut Kräuter als magischen Kreis ringsherum. Als der Mond durch die weißgrauen Wolken bricht, beginnt sie zu tanzen.
Sie singt und tanzt zum flackernden Schein ihrer Kerzen, zum Heulen des Käuzchens, zum Rauschen des Wassers. Sie tanzt und sie singt, bis das Gelbfunkelauge ihre Lieder zerbricht. Ihre Welt wird schwarz, und dann dunkel und eng. Aber sie hat keine Angst. Denn der Morgen bringt Licht. Doch als der Morgen dann kommt, sieht Maria ihn nicht. Eingesperrt in dem dunklen Stollen ist sie umhüllt von der ewigen Nacht.
Von Spaziergängern alarmiert, durchkämmt die Polizei nur halbherzig die Insel. Es ist nicht das erste Mal, dass Spinner zur Sonnwende ihre Rituale hier abhalten und dann einfach verschwinden. Umweltsünder statt Weltenretter! In den Stollen zu schauen fällt ihnen nicht ein. Maria bleibt in ihrem Albtraum gefangen. Allein.