Alles ist gut – die größte Lüge ihres Lebens


„Alles ist gut, Mama“. Die größte Lüge ihres Lebens. Und sie weiß es, davon bin ich überzeugt. Sie weiß vielleicht nicht – mehr – , warum es so ist, aber dass nichts mehr gut ist, bei ihr, das weiß sie genau. Spürt es, wenn sie aufwacht, mitten in der Dunkelnacht, und umherirrt auf der Suche nach der Toilette und sich selbst. Fühlt es, wenn sie aufsteht, mittags statts morgens, und versucht, aus dem Marmeladenglas zu trinken, während sie den Kaffee auf den Toast kippt. Sich mit der Zahnbürste über’s Haar fährt, mit den Beinen in die Ärmel des Pulloverst steigen will und dann, frustiert, verwirrt, ängstlich oder erschrocken das Handtuch wirft vor soviel Selbstverlust im Schwindel versinkt und im Bett.

Wie das wohl ist, wenn man sich verliert? Ich glaube nicht an die tröstlichen Beteuerungen der Neurologen, dass „die Patienten das nicht mehr mitbekommen, haha, weil sie das Vergessen vergessen“. Eine Frau, die ihren „Mann“ gestanden hat, im Krieg Eimer zu brennenden Häusern geschleppt hat, über Leichen gestiegen und, unter einem Kopftuch versteckt, als junges deutsches Ding wie eine Rückkehrerin nach Italien gereist ist, im Zug mit lauter Süditalienern. Eine Frau, die ihre Tochter allein und vielleicht mehr schlecht als recht, aber ordentlich, großgezogen, ein Haus gekauft, einen Garten bestellt und einen 26-Stunden-Tag bewältigt hat, jahrelang. Eine Großmutter, die ihren Enkel gehegt und gepflegt und verstanden hat. Ein Gerüst, dürre Knochen in Helene-Fischer-Jeans und roten Vans, wirres Weißhaar um neue Ohrringe gekämmt – bei „gut erhaltener Fassade“ eine Hülle ohne Inhalt. Oder?

„Alles ist gut“, und dann gehen die anderen, deren Uhren sich noch um den Tag herum drehen und um Tätigkeiten, die sinnhaft sein wollen, gehen die anderen wieder hinaus aus dem Raum, in dem es nach Urin riecht und Raumduft, in dem der Tod sich festgehakt hat hinter der Gardine und vielleicht selbst keine Lust hat, näher zu kommen.

Nur die Hunde besuchen sie. Schnüffeln interessiert am Chemieklo und springen dann, ohne Hintergedanken und aus einer spontanen Liebeslaune heraus, auf ihr Bett, schlecken ihr übers Gesicht, lassen sich streicheln und mit irgend einem Namen benennen, und springen wieder hinunter.

Nichts ist gut. Pflegestufen hin oder her. Nichts und für niemanden. Aber – so ist das Leben.

3 Antworten auf “Alles ist gut – die größte Lüge ihres Lebens”

  1. „Gefällt mir“ ist nicht der richtige Ausdruck, da der Inhalt eben sehr traurig ist. Jedoch gefallen mir diese Gedanken. Auch ich glaube nicht, dass diese Menschen alles wieder vergessen „haha“. Es gibt immer wieder die klaren Momente, in denen Höllenqualen auszuhalten sind. Dann erzählen sie davon und von ihrem Leid.Und später ist es wieder anders und wir beruhigen uns damit, dass wir hoffen, sie wissen es alles nicht mehr.
    Nur, keiner kann uns sagen, wie es wirklich ist, wirklich empfunden wird. Wir alle vermuten immer nur und nur zu unserem eigenen Schutz wollen wir glauben, es sei nicht so schlimm, denn wir können nichts wieder richtig rücken, rückgängig machen, wieder heile machen. Und das macht uns so hilflos.Für den Moment Freude bereiten, das ist unsere einzige Chance…
    Ich wünsche viel Kraft. Liebe Grüße Hanna

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