Der MiniKrimi von heute stammt aus der Feder einer Literatur-Debütantin, L. Na, ist ihr kriminalistisches Coming out gelungen?
Home, Smart Home.
„Nein, nein, nein!“ Miriam schrie aus Leibeskräften und schlug dabei auf ein Kissen ein. Immer wieder.
So hatte sie es in der Therapie gelernt, die sie seit einem Jahr wegen Ihrer Angststörung machte. Keine simple Spinnenphobie, nein. Eine generalisierte Angststörung, deren Ursache in einer starken Verlustangst begründet war. Im Zusammenspiel von Therapie und Psychopharmaka konnte sie in den letzten Monaten ein fast normales Leben führen. Und zum ersten mal seit langem abends ausgehen. Sie genoss diese Normalität. Endlich so tun können, als sei sie eine von denen, die sich da auf der Tanzfläche drehten. Die an der Bar saßen und tranken und redeten. Sogar ihre Mutter begegnete ihr kaum noch, weder auf der anderen Straßenseite noch hinter den Scheiben einer U-Bahn.
An einem dieser Abende hatte sie ihn kennengelernt, David. Gutaussehend, erfolgreich. Unternehmensberater. Zuerst dachte Miriam, sie sei für ihn nur ein Spielzeug, Abenteuerfrau für eine Nacht. Sie, die Verrückte, die Verkäuferin in einem großen Modehaus. Normalerweise begegnete sie Männern wie David ausschließlich an ihrem Arbeitsplatz, wenn sie in Begleitung einer wunderschönen Frau in ihre Abteilung kamen. Sie schauten dann mehr oder weniger gelangweilt auf die Displays ihrer Smartphones, während Miriam den Damen die neueste und teuerste Kollektion schmackhaft zu machen versuchte. Sie war gut im Umgang mit der Jeunesse Dorée – und für einen fünfstelligen Umsatz. Nach ein, zwei Stunden Modeberatung landete unweigerlich die Kreditkarte des Begleiters im Kartenleser.
Eigentlich hätte Miriam es ahnen müssen, aber die Psychopharmaka in Kombination mit dem Alkohol hatten sie im wahrsten Sinne des Wortes leichtsinnig gemacht. Leicht und sinnig. Sinnlich. Die auf die erste Begegnung mit David folgenden Wochen waren die schönsten ihres Lebens. Und nun das. Ungläubig sah sie noch mal auf die SMS. Zum hundertsten Mal. Mit einer SMS abgefertigt. Verlassen. Weggeworfen. So, wie ihre Mutter sie damals in einem Einkaufszentrum zurück gelassen hatte. Einfach so. Und danach jeden Kontakt zu ihr vermieden hatte. Bis heute. Sie nahm all ihren Mut zusammen und bat David telefonisch um eine letzte Aussprache, bei ihm, in der noblen Minervastr 89a. Er, offenbar irgendwie geschmeichelt durch ihre Anhänglichkeit, sagte ja.
Auf dem Weg zum Aufzug sah Miriam plötzlich ihre Mutter. Sie ging Richtung Ausgang, und als Miriam sie rief, rannte sie schnell zur Tür und löste sich auf. Eine Fata Morgana.
Die Aussprache endete im Bett. Miriam verabschiedete sich für immer von David und verließ die Minervastraße. David begab sich, nur in Unterhose, auf seinen Balkon, um eine Zigarette danach zu rauchen. Eiskalt, heute! Minus 10. Brrrrrr.
Von unten schaute Miriam hinauf. Neben ihm sah sie wieder ihre Mutter. Ebenfalls rauchend. Wie war sie nur raufgekommen. Egal – zwei Fliegen mit einer Klappe!
David ließ sich Zeit mit der Zigarette. ihm blieben von 5 Minuten, bevor die Programmierung in seinem Smart Home, die Rolläden vor dem Balkon bis zum nächsten Morgen herunter lassen würde. David spürte die Kälte nicht. Im Gegenteil. Ein wenig Abkühlung konnte nicht schaden nach diesem hitzigen Liebesakt. Plötzlich hörte er im Rücken das Geräusch des Rolladens. Er brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was geschehen war. Und dann konnte er es nicht glauben.
Miriam, dieses Miststück von einer durchgeknallten Verkäuferin. Sie musste die Zeitschaltuhr für die Rolläden in seinem Smart Home verstellt haben, während er im Bad war. Unglücklicherweise waren die Nachbarn vom Balkon gegenüber grade auf den Malediven. Und lautes Schreien wurde in der Minervastraße aus Prinzip überhört.