Diesen kurzen MiniKrimi habe ich schon 2014 geschrieben und heute nur etwas aufgepeppt. Er passt zum Münchenhimmel, heute, grau und schneebeladen, ahnungsvoll.
Luise und die Elster
Was ist passiert?
Benommen schaut Thea sich um. Das Zimmer dreht sich um seine eigene Achse, und sie lehnt sich an die Wand, um nicht umzukippen.
Wie ist sie hierhergekommen? Eben noch kauerte sie auf dem Kiesboden vor den Stufen, die zur großen, dunklen Haustür führen, und kramte vergeblich in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund. Thea hat die Villa von ihrer Großmutter geerbt, vor knapp einem Monat. Sie soll darin wohnen, das war Großmutters Wunsch. Aber sie ist sich noch nicht sicher, wie sie sich entscheiden wird. Alles ist so fremd, riesengroß, düster und bedrohlich, wie in einer Geschichte von Edgar Allen Poe.
Aber es war eine Elster, kein Rabe, die sie vom bröckelnden Fenstersims aus argwöhnisch beobachtete, bevor sie ihr ein paar gekrächzte Laute hinunterwarf und, als Thea nicht reagierte, energisch das schwarze Federköpfchen schüttelte. Zu spät.
Thea wurde schwarz vor Augen.
Und jetzt steht sie in einem ihr fremden und gleichzeitig entfernt vertrauten Raum. Ein Ankleidezimmer, ganz offensichtlich. In ordentlichen Reihen hängen altmodische Anzüge und Hemden, gegenüber Kleider im Stil der sechziger Jahre, allesamt schwarz. Pullover und Blusen, Socken und Schuhe, alles säuberlich eingeräumt. Es riecht nach Lavendel und Mottenpulver.
Was mache ich hier, fragt sie sich. Da rascheln die Kleider wie von einem plötzlichen Windstoß bewegt, die Röcke schwingen und die Schuhe klappern mit den Absätzen. „Finde die Wahrheit. Tu es für mich“, flüstert die Luft. Ein Nerzmantel schüttelt sich heftig, und aus seinen Falten weht ein kleines Foto heraus. Ein junges Mädchen mit frischem Gesicht, roten Locken und einem adretten Dienstmädchen-Häubchen. Das Foto ist schwarz umrandet, so, wie es früher bei Traueranzeigen üblich war. Luise, 1965, steht auf der Rückseite.
Thea öffnet die Verbindungstür, die zu einem Schlafzimmer führt, und da steht sie . Luise. Das Dienstmädchen-Häubchen liegt am Boden, eine Kaskade roter Locken fällt in rhythmischen Schlägen weich gegen ihren rosigen Rücken. Zwei Hände umklammern ihre nackten Pobacken, und ein Schopf braungrauer Haare schmiegt sich an ihren Hals. Ist es das, was ich sehen soll? Ein lautes, befriedigtes Stöhnen, Schopf und Hände lösen sich von dem Frauenkörper. „Zieh dich an und sag meiner Frau, meine Migräne sei besser geworden, dank ihres Kaffees, und dass ich gleich unten bin.“ Der Mann, der Theas Großvater war, geht in’s Badezimmer und erfrischt sein Gesicht mit Wasser und Parfum. Sie erkennt den Duft ihrer Kindertage. Eine Mischung aus Moschus, Tabak und Zufriedenheit.
Im Schlafzimmer zieht Luise sich die Kleider hoch und steckt die Haare unter das Häubchen. Sie geht zum Fenster und macht es weit auf, beide Flügel. Beugt sich hinaus in die Nacht, hebt das Gesicht zu den Sternen. Was sie wohl denkt? Thea, die unsichtbare Zuschauerin, spürt einen Lufthauch und sieht einen Schatten ins Schlafzimmer gleiten. Schwarze Schwingen erheben sich lautlos hinter Luise, und wie von selbst fällt das Mädchen aus dem Fenster. Der Sturz an sich wäre kaum tödlich gewesen, hätte nicht gerade dort eine Sense an der Hauswand gelehnt, die Klinge nach oben gerichtet.
Ein leises Seufzen, voller Schmerz und Zufriedenheit. Kommt es aus Luises Mund? Oder von dem Wesen in schwarz., das sich aus dem Fenster lehnt und in die Dunkelheit hinunterschaut?
So, denkt Thea. Nun weiß ich also, dass mein Großvater ein Schürzenjäger und meine Großmutter eine Mörderin war.
Und jetzt? „Nichts, es genügt mir, dass es jemanden gibt, der weiß, wie ich wirklich gestorben bin“, flüstert es aus der Kastanie im Hof.
Thea schließt die Augen,. Einen Moment? Eine Stunde? Als sie sie wieder öffnet, kauert sie auf der obersten Steinstufe der alten Familienvilla, in die sie bald einziehen wird. Das weiß sie jetzt. Denn das Unheimliche ist einem Gefühl tiefen Friedens gewichen, so, wie ein Gewitterhimmel, der nach dem Sturm wieder leuchtend blau strahlt.
Über ihr krächzt eine Elster. Ein Windstoß weht ihr in einem leuchtenden Blätterbüschel den Schlüsselbund vor die Füße.