Adventskalender MiniKrimi am 8. Dezember


Naja, Mini ist relativ. Morgen dann wieder kürzer. Aber diese Story wollte geschrieben sein. Und das schon seit Jahren. Zwei Jahrzehnten, genau genommen. Seit ich mit meinem Sohn wegen eines Artikels ein Wochenende in einem Ashram verbrachte. Es ist uns beiden noch nie so schlecht gegangen wie dort. Und auch noch nie so schlagartig wieder gut, als wir das Yoga Zentrum wieder verlassen hatten. Das war sicher rein psychisch, und, by the way, ich mache sehr gerne Yoga, heute. Aber, aber. Lest selbst.

Asana des Todes

So ein schöner Tag. Die Straße windet sich hügelauf, hügelab zwischen Tannenwäldern hindurch, ein riesiges Winterheer in grünen Mänteln mit weißen Säumen und Kappen. Auf beiden Seiten türmen sich hellbraune Schneewände, aus denen die Katzenaugen der Leitpfosten müde hervorblinzeln. Über den Wipfeln ergießt sich ein Blau, das vom Sommer erzählt.

Esther fährt langsam, nicht nur, weil sie als Städterin keine Erfahrung mit Landstraßen hat, sondern auch, weil sie durchaus die Ästhetik des Augenblicks zu würdigen weiß. Und vielleicht auch, um sich Zeit zu lassen mit der Ankunft an diesem Ort, den sie freiwillig nie besuchen würde, und der jetzt den Wendepunkt ihrer Karriere als Redakteurin markiert. Bergauf wie die Straße – oder steil bergab in die Freistellung.

„Esther“, hat ihr Chef am Mittwoch gesagt und ihr dabei eine schwere Hand auf die Schulter gelegt, „du und ich, wir wissen beide, dass du in letzter Zeit nicht in Hochform gewesen bist. Deine Artikel waren zum Gähnen. Kein Biss, kein Pfiff. Mädel, das war doch mal anders!“

Worauf Esther hätte sagen können, dass man aus einem Drittliga-Fußballturnier keinen WM-Krimi herauskitzeln kann und aus einer Kaninchenzüchter-Jahresversammlung kein Catwalk-Drama. Sie hätte sagen können, dass man ihr nur noch die langweiligen Themen überlässt, in der Redaktionskonferenz. Dass sie müde ist. Verbittert und eifersüchtig auf die Yuppies und Hipsters, die die langhaarigen, Kette rauchenden Kollegen abgelöst haben. Aber es stimmt ja: Mit knapp über vierzig ist sie ein Dinosaurier unter aalglatten Schwänen, Wortspielbruch inbegriffen. Also hat sie statt einer Antwort nur vor sich hingeschaut.


Und als der Chef ihr dann einen Hochglanzprospekt hingehalten und gesagt hat: „Schau mal, ich mag dich, Esther. Ich geb dir noch mal ne Chance. Fahr da hin, schau dir das an. Heute hat die Yogamatte für viele die Kirchenbank ersetzt. Also finde was Spannendes und schreib einen packenden Bericht über dieses neue Yogazentrum mitten Im Bayerischen Wald. Ich hab den Artikel am Montagmorgen auf dem Tisch. Ok?“ – da hat Esther nach dem Faltblatt gegriffen und leise geantwortet: „Danke, Fritz.“

Jetzt fährt sie schon eine halbe Ewigkeit durch Wälder, vorbei an vereinzelten Weilern, liegengebliebene Brocken einer weitergewanderten Zivilisation. Dann endlich ein Hinweisschild, neonbeleuchtet. Hatha Yoga Zentrum. Ashram Retreat.

Nach 2 km durch einen düsteren Hänsel-und-Gretel-Wald plötzlich ein glänzendes Eisentor in einer hohen, weiß getünchten Mauer. Was aussieht wie ein Hochsicherheitstrakt ist der Eingang zum Yoga Zentrum, ihrem Ziel für drei Tage.

An einer Säule vor dem Tor wird ihr Gesicht gescannt, dann öffnen sich die beiden Eisenflügel und schließen sich lautlos, nachdem Esther durchgefahren ist. ‚Hotel California‘ fällt ihr dazu ein, und sie fängt leise an zu summen.

An der Rezeption wird sie freundlich begrüßt und vom Pressereferenten auf ihr Zimmer – oder in ihre Zelle? – geführt. Spartanischer Luxus. Bett, Kissen, Decke, Nasszelle mit Ayurveda-Seifen. Fön und Saunatücher.

„Mach es dir erstmal gemütlich. Wir sehen uns beim Abendessen.“

Das ist dann ganz passabel. Nur, dass Esther statt Wein die Wahl zwischen zwei Kräutertee-Varianten hat. Gesüßt oder ungesüßt. Als sie mit der Zigarette in der Hand auf die Terrasse will, erklärt ihr eine Mitarbeiterin – die gleiche, die ihr auf ihr freundliches Grüß Gott geantwortet hat: ja, wenn ich ihn sehe… -, Rauchen bringe ein schlechtes Karma und sei hier nicht erwünscht.

Der Höhepunkt des Abends ist das gemeinsame Chanten im zentralen Versammlungsraum. Dabei werden unterschiedliche Gottheiten mit Ghee übergossen, während alle, im Schneider- ach nein – im Lotussitz auf Kissen am Boden hockend, monotone Gesänge intonieren, deren Worte, wie bei einem riesigen Karaoke, auf eine Leinwand projiziert werden. Mantras, hat ihr der Pressereferent erklärt. 

„Himmel, was soll ich denn hier schreiben?“, denkt Esther verzweifelt. Und fängt an, die Umsitzenden zu betrachten. Links neben ihr ein Mann um die 50, schlank, früher mal sportlich, jetzt mit einem Wulst über dem Gürtel seiner Designerjeans. Bürohengst in gehobener Stellung und Midlife Crisis, sentenziert Esthers geübter Blick. Auf ihrer rechten Seite ein Pärchen Mitte zwanzig. Beide cool und auf Understatement gebürstet. Sowas wäre noch vor zehn Jahren in ein Survivalcamp gegangen. Aber gut, was ist dieses Ashram schon anderes? Schräg vor ihr sitzt eine blonde Frau, deren Silhouette Esther bekannt vorkommt, ohne dass sie sagen könnte, warum. Es muss die Ausstrahlung sein, die sogar nach hinten wirkt. „Jetzt fange ich auch schon an zu spinnen.“ Esther lacht in sich hinein, wirft noch einen Blick auf die Leinwand. Om Namah Shivaya. Angeblich eines der bekanntesten Mantras, sagt ihr Handy. Das darf sie eigentlich gar nicht dabeihaben, und das Pärchen neben ihr schaut sie vorwurfsvoll an. Kaum ein paar Stunden da, und schon hat sie gegen alle Spielregeln verstoßen. So wird das nichts mit dem Sensationsbericht.

Egal. Sie steht auf, klettert über den Mann mit Bauch und schiebt sich an der Wand entlang Richtung Ausgang. Viele Köpfe drehen sich nicht nach ihr um. Die meisten sind völlig in einer Welt versunken, von deren Existenz Esther weder etwas ahnt noch etwas wissen will. Spiritualität war ihr schon immer ein Gräuel. Kurz vor der Tür spürt sie einen bohrenden Blick im Rücken. Die blonde Unbekannte schaut ihr direkt in die Augen. Und diesen Blick hätte Esther überall erkannt. Auch in einem vollen, nach ranzigem Fett, Schweiß und Räucherstäbchen stinkenden Ashramsaal. Irmgard.

„Irmgard, ausgerechnet!“, stöhnt Esther, als sie bei offenem Fenster ihre Zigarette qualmt, um den Rauchmelder nicht zu irritieren. Es ist bitterkalt im Bayerischen Wald. Und so still, hier sagen sich nicht mal Fuchs und Hase gute Nacht. Geschweige denn Eulen. Nur ein Käuzchen heult einsam über den mondschattigen Fluren, sein Ruf schwingt sich hinauf in einen Himmel, der von so vielen Sternen übersäht ist, dass die Luft zu funkeln scheint. „Oh nein“, denkt Esther, „demnächst schreibe ich Schnulzen statt investigativer Reportagen. Vielleicht hat Fritz recht, und ich bin wirklich am Ende.“

Hinter ihr beginnt der Rauchmelder zu fiepen. Sie wirft die Zigarette aus dem Fenster, hüllt sich in Schal, Daunenjacke und Decke und fällt schnell in einen unruhigen Schlaf.

Es ist noch stockdunkel, als ein Mantra durch die Lautsprecher in den Fluren tönt und die Bewohner zur ersten Yoga Stunde ruft. Ohne Kaffee! Esther nimmt alles nur durch einen Schleier wahr. Den kalten Raum, den Buddha mit den Räucherstäbchen, die roten, grünen, pinken Matten, und darauf pinke, grüne, rote Gestalten, um Frische bemüht, aber nur langsam und ächzend in Bewegung kommend. Man hat sie der Gruppe der Ü50 zugeordnet, bemerkt Esther lakonisch. Wohl wegen des Rauchens. Aber als sie versucht, sich durch den Sonnengruß zu räkeln, von Tadasana, der Bergpose, über Kobra und Hund und wieder zur Ausgangspose, ist sie froh, nicht mit den beiden Coolen von gestern Abend zusammen zu sein. Das wäre zu peinlich geworden.

Bis zum Frühstück vergehen noch zwei Stunden in meditativer Stille – regelmäßig unterbrochen von Esthers grummelndem Magen. Und auch da wieder nur Tee! Sie mustert mit unverhohlener Neugier die anderen Gäste. Es sind rund 30. Alle gut gekleidet, wohlgenährt und offenbar auch gut betucht. So ein Retreat Wochenende kostet leicht ein paar Tausend Euro – und das ohne die Massagen und Einzelstunden, die quasi ein Muss sind.

„Wenn ich bei so einer Einzelstunde Mäuschen sein könnte, zwischen einer knackigen Novizin und einem nicht ganz ehrwürdig ergrauten Yogi – dann hätte ich wenigstens was für die Klatschspalte.“ Aber Esther fürchtet, dass sowas hier nicht passiert. Dafür sind die Yogis und Yoginis alle zu bieder. Geradezu spießig, auf ihre spirituelle Art.

Esther steht auf und macht eine Erkundungstour auf dem weitläufigen Gelände. Große, helle Räume mit hohen Fenstern, Matten, Altären. Und alles riecht nach Räucherstäbchen.

Durch einen nicht ganz zugezogenen Vorhang kann sie unbeobachtet einer Einzelstunde zuschauen. Was sie sieht, ist Yoga in höchster Vollendung. Zumindest beinahe. Mit Unterstützung des Yogi versucht eine blonde Frau sich an den schwierigsten Asanas der Welt. Das weiß Esther nicht, aber ihr ungeübtes Auge erkennt sofort, dass das an Akrobatik  grenzt. Kurbasana, Shalabhasana, Padmasana Mayurasana – hier kommt die Frau aber mit dem Kopf nicht vom Boden hoch – und Vrichikasana. Dabei gelingt es ihr nur mithilfe des Yogi, die Fußspitzen auf den Hinterkopf zu legen, aber nur kurz, Dann fällt sie unsanft zur Seite, das Kinn knallt hart auf den Boden. „Aua“, denkt Esther. „Yoga kann ja richtig gefährlich werden.“ Allerdings ist der Frau nichts weiter passiert, und der Yogi führt sie, einen Arm fürsorglich um ihre Schulter gelegt, aus dem Raum. Schade. Das wäre doch eine Schlagzeile gewesen.

Nach dem Mittagessen schwänzt Esther die Yogastunde, aus Recherchegründen, wie sie dem Pressereferenten erklärt. Sie will mit ein paar Gästen über ihre Erfahrungen auf dem spirituellen Weg sprechen. „Dann musst du unbedingt mit Prana reden. Sie kommt schon seit Jahren hierher.“ „Prana?“ „Ich bring dich zu ihr. Sie hatte heute Morgen eine anstrengende Stunde und ruht sich gerade aus. Aber für dich hat sie bestimmt Zeit.“

Prana liegt auf einer weichen Bank in einem sonnewndruchfluteten Raum, umhüllt von sanfter Handpan Musik.

Prana öffnet langsam die Augen und dreht sich zu Esther um. Es ist Irmgard. „Esther. Nach so vielen Jahren. Ausgerechnet hier. Was für eine Überraschung.“ Leise, im Singsang-Einklang mit der Musik. „Ich freue mich, dich zu sehen. Erinnerst du dich noch an mich? Aber natürlich! Wie kannst du dein schlechtes Gewissen vergessen? Die einzige Zeugin deines kleinen Betrugs, auf dem du aber offenbar dein Berufsleben ganz gut aufgebaut hast.“

Irmgard war eine Kommilitonin, damals an der Journalistenschule. Genial, aber desinteressiert. Während Esther unbedingt einen guten Abschluss haben wollte, machte sich Irmgard einen Spaß daraus, mühelos die besten Texte zu schreiben, die verrücktesten Stories zu finden und die Anderen, die Ernsthaften in den Schatten zu stellen. Esther hatte ihr für ihre damaligen Verhältnisse ein Vermögen gezahlt, damit sie ihr die Examensarbeit schrieb.

„Und jetzt bringt Buddha dich zu mir. Was bezweckt er wohl damit? Ich weiß: Es geht mir momentan finanziell nicht sehr gut. Diese ganzen Retreats gehen ziemlich aufs Geld. Weißt du was, Esther? Hilf mir doch mit ein paar Zehntausend aus. Dann vergesse ich ganz schnell wieder, dass ich dir damals deine Arbeit geschrieben habe. Lass dir ruhig Zeit. Wir sprechen heute Abend. Jetzt muss ich meine Asanas üben. Das sind die allerschwersten, übrigens. Du kannst auch gerne darüber berichten!“

Esther dreht sich wortlos um und geht aus dem Raum. So, das war’s. Kein Artikel, und jetzt auch noch eine Erpressung. Der sie nichts entgegensetzen kann. Für die sie keinen Cent übrig hat. Das Ende ihrer Karriere kommt plötzlich viel schneller auf sie zu als gedacht.

Oder?

Vom Mut der Verzweiflung getrieben, geht Esther zu dem Yogaraum, in dem Prana-Irmgard schon heute morgen ihre Asanas geübt hat. Das Fenster ist noch offen. Irmgard ist allein. Sie liegt bäuchlings am Boden, legt das Gewicht auf ihre angewinkelten Unterarme und hebt die Beine im 90 Grad-Winkel nach hinten. Rollt den Oberkörper auf und nähert die gestreckten Fußspitzen ihrem Hinterkopf. Sie ist hochkonzentriert und bemerkt nicht, dass Esther hinter ihr steht und mit einem entschlossenen Griff Pranas Kopf fest nach hinten reißt. Es knackt leise. Dann sackt Irmgard leblos in sich zusammen.

Esthers Exklusivstory mit dem Titel „Tödliches Asana im Luxus Ashram“ sprengt alle Verkaufsrekorde. Fritz ist begeistert, und plötzlich schauen die Yuppies und Hipsters sie sogar mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung an.

„Vielleicht ist an dieser Sache mit der Spiritualität doch was dran?“, denkt Esther. „Oder warum ist mir Irmgard gerade dort über den Weg gelaufen?“

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