MiniKrimi Adventskalender am 16. Dezember


Tödliche Erinnerung/II

Lucia

Lucia ist überwältigt. Von der letzten Nacht, davon, wie einfach ihr mit heißer Nadel gestrickter Plan funktioniert hat – und von ihren Gefühlen. Die letzten 2 Wochen waren ein ständiges Auf und Ab, ein Hin und Her zwischen Verzweiflung, Angst und dem unstillbaren Hunger nach Rache. Dieser Hunger hat sich durch ihr Herz gefressen, bis er ihr Denken beherrschte. Rache. Vergeltung. Auge um Auge. Dieses Gefühl ist neu für Lucia, und sie staunt über sich selbst. Darüber, zu wieviel Hass sie fähig ist und darüber, wie präzise sie diese Aktion geplant und umgesetzt hat.

Aber vielleicht ist das so, wenn dein ganzes Leben plötzlich wie ein Kartenhaus über dir zusammenfällt, wenn nichts mehr ist, wie es war, wenn du alles verlierst, was dir Halt gegeben hat.

Lucias Leben ist in geregelten Bahnen verlaufen. Sie hat die Abwesenheit eines Vaters nie als schmerzhaft empfungen. Laura, ihre Mutter, und die Großeltern Angela und Pietro waren immer für sie da, liebevoll und fürsorglich. In den 1980ern durchlebten die Frauen in Italien eine Welle der Emanzipation, zumindest gefühlt. Eine „ragazza madre“ zu sein, eine ledige Mutter, war kein Makel, sondern ein Zeichen von Stärke. Jedenfalls in den Kreisen, in denen Laura sich bewegte. Als Lucia in den Kindergarten kam, fing Laura wieder an, als Anästhesistin in einer großen Klinik in Florenz zu arbeiten. Ihre Tochter blieb bei den „nonni“ – auch das war durchaus üblich. Die Familie war groß, Lucia hatte genug Cousins und Cousinen, Freundinnen und Freunde. Sie war beliebt, auch in der Schule und später an der Uni.

Ihr Leben was das eines normales italienischen Mädchens, später einer jungen Frau, des italianischen Bürgertums. Gut behütet und dann nach und nach immer mehr den eigenen Regeln folgend. Der Kontakt zur Mutter blieb eng, aber beiläufig. Jede lebte ihr Leben.

Bis zu jenem Freitag vor 2 Wochen. DIe Großmutter rief Lucia an, mitten im Unterricht. Lucia lehrt Italienisch für Ausländer an einer internationalen Sprachenschule in Siena. „Nonna, was ist passiert?“ Es musste etwas Schlimmes sein. Sonst hätte Angela sie nicht bei der Arbeit gestört.

„Es ist Laura. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Nein, sie wurde rechtzeitig gefunden! SIe liegt jetzt im Krankenhaus. Aber ich glaube, es wäre gut, wenn du kämest. Ach ja, und schau nicht in die Online Nachrichten, kauf keine Zeitung,“

Lucia fuhr sofort los, und natürlich scannte sie die Online-Nachrichten auf ihrem Smartphone. „Schon wieder ein Fall von gefälschter Approbation. Florentiner Ärztin mit sofortiger Wirkung entlassen. Laura C. droht eine saftige Freiheitsstrafe“, titelten bereits die „cronache nere“, die Boulevardblätter. Das Foto ihrer Mutter war alt, sicher hatte ein missgünstiger Kollege es gleich der Presse verkauft. Aber Laura war deutlich zu erkennen.

Im Krankenhaus erfuhr Lucia, dass ihre Mutter sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Mit zwei senkrechten Schnitten. Sie hatte es also ernst gemeint. Wenn Angela nicht zufällig vorbeigekommen wäre, wäre Laura jetzt tot. Lucia sah ihre Mutter an, blass, an Schläuche angeschlossen. Sie sah aus wie eine Fremde. Sie WAR eine Fremde. Oder eben eine andere, als sie ihre Tochter in immerhin 40 Jahren hatte glauben lassen. Laura war unruhig. SIe murmelte Unverständliches. Und dann, plötzlich, klar und deutlich: „Lukas.“

Lucia fuhr nicht zurück nach Siena, sondern übernachtete in der Wohnung ihrer Mutter. In den Räumen ihrer Kindheit. Aber auch hier kam ihr plötzlich alles fremd vor. Und sie wusste: sie musste dem Geheimnis ihrer Mutter auf die Spur kommen, wenn sie selbst jemals wieder frei atmen und unbeschwert leben wollte. Sie musste verstehen, warum ihre Mutter mit gefälschten Papieren über 30 Jahre lang als Ärztin gearbeitet hatte. Und – sie musste endlich wissen, wer ihr Vater war. Lucia hatte das Gefühl, dass die Antwort auf beide Fragen ein und dieselbe sein würde.

Sie durchsuchte die Wohnung. Sie fand Lauras Tagebuch. Sie las die ganze Nacht und den halben Morgen hindurch. Bis es Zeit war, wieder ins Krankenhaus zu fahren. Am Bett ihrer Mutter nahm sie die immer noch bleiche Hand, küsste sie, strich über Lauras graue Locken und flüsterte: „Adesso so tutto, mamma.“ Jetzt weiß ich alles, Mamma. „E lui pagherà.“ Und er wird bezahlen.

Der Rest ist ein Kinderspiel gewesen. Laura hatte alle Einladungen zu den Treffen der Tedeschi aufgehoben. Dass das nächste genau zwei Wochen später in Marina di Pisa stattfinden würde, hat Lucia als Wink des Schicksals gesehen.

Es war so einfach. Ihr Auftritt im Lokal. Lukas, der sich sofort in sie verliebt hatte – Lucia sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, und an diesem Nachmittag unterstrich sie die Ähnlichkeit noch. Gleiches Makeup, gleiche Frisur. Gleicher Kleidungsstil. Sie war erstaunt, dass Lukas‘ Freundin ihr so gar nichts entgegengesetzt hatte. Aber um so besser.

Nur dass Ingo sich an sie drangehängt hat, das hat Lucia nicht geplant. Andererseits – in den Aufzeichnungen ihrer Mutter steht, dass er damals mitgemacht hatte. Wenn schon Rache, dann am besten gleich als Rundumschlag.

Sie fuhren an eine einsame Stelle am Strand, die Lukas noch von damals kannte. Sie hatten Prosecco dabei. Und Lucia dazu noch Rohypnol. Zahn um Zahn. Bei Lukas setzte die Wirkung sehr schnell ein. Bei Ingo leider nicht. Er merkte, dass etwas nicht stimmte. „Ich rufe die Carabinieri“, sagte er. Da konnte Lucia nicht anders. Sie versetzte ihm einen Schlag mit der Proseccoflasche. Dann schleppte sie Lukas, der gerade noch stolpern konnte, über den Strand zu einer versteckten Grotte. DER Grotte, in der er vor 40 Jahren gemeinsam mit seinen Freunden Laura vergewaltigt hatte, nachdem er sie mit Rohypnol betäubt hatte.

Das ist jetzt 5 Stunden her. Lukas schläft immer noch, wird aber langsam unruhig. Als es hell wurde, ist sie, weil Lukas noch schlief, an den Strand gelaufen. Von Ingo keine Spur! Das heißt, dass sie sich beeilen muss mit dem, was sie noch vorhat, bevor Ingo Hilfe holt. Wenn er sich an irgendwas erinnert.

Später hat Lucia in ihrem Versteck in der Grotte Sirenen gehört. Carabinieri und eine Ambulanz. Sie fuhren Richtung Tirrenia. Aber danach ist kein Wagen mit Sirene zurückgefahren. Haben sie Ingo gefunden? Dann müssten sie ihn ins Krankenhaus gefahren haben. Oder ist er tot?

Lukas wird unruhig. „Was? Wo?“ fragt er. Und bemerkt, dass er sich nicht bewegen kann. Lucia hat ihn mit Kabelbindern an Knöcheln und Handgelenken gefesselt.

„Ciao Lukas. Oder soll ich sagen Papà?“ „Wie? Wer?“ Lukas ist noch benommen. Aber er wird schon wach werden, wenn sie ihm Lauras Tagebuch vorliest.

…..

Inzwischen ist es Spätnachmittag. Lucia klappt das Tagebuch zu. Lukas ist wach. Er war wütend, wollte schreien, da hat Lucia ihn geknebelt. Seit ein paar Stunden ist er einfach nur noch still. Ergeben? Er hat sich eingenässt. Es macht ihm nichts aus. Ist er immer noch so voller Arroganz?

„Du warst ihr Freund. Warum habt ihr sie mit Rohypnol betäubt? Warum hast du erlaubt, dass deine Freunde sie vergewaltigen? Warum hast du dich danach nicht mehr bei ihr gemeldet? Erst Jahre später? War es dir egal, dass du vielleicht eine Tochter hast?“

Jetzt stöhnt Lukas. Schüttelt den Kopf. Keine Tochter?

„Ah, du hattest damals schon eine Vasektomie machen lassen? Dann hast du meine Mutter also nur deshalb vergewaltigen lassen, weil du es konntest? Einfach so? Meine Mutter war von eurer Tat so aus der Bahn geworfen, dass sie ihr Studium nicht mehr aufnehmen konnte. Sie ist nach Südamerika gereist, hat sich dort bis zu meiner Geburt mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und meinen Großeltern bei ihrer Rückkehr eine herzzerreißende Geschichte über einen reichen Brasilianer erzählt, der ihr alles Glück der Erde versprochen und sie dann hochschwanger verlassen hat. In Brasiien hat sie sich eine gefälschte Approbation besorgt und damit bist vor 2 Wochen gearbeitet. Dann ist sie aufgeflogen. Irgendein blödes Datenleck. Jetzt liegt sie nach einem Selbstmordversuch auf der Intensivstation. Und an all dem bist NUR du schuld.“

Lukas starrt sie an. Unverwandt. Und nickt. Nickt. Und zuckt die Schultern. Dreht den Kopf weg. Nicht sein Leben. Nicht sein Problem. Lucias Geschichte hat seine schönen romantischen Erinnerungen an die Zeit in Pisa zerstört. Das gefällt ihm nicht. Was will diese Frau von ihm? Er ist ganz bestimmt nicht schuld daran, dass ihre Mutter zu schwach war, einfach aufzustehen und weiterzugehen.

Lucia sieht ihm an, was er denkt. Sie nimmt einen Stein. Schlägt Lukas damit an die Schläfe. Als es dunkel geworden ist, schleppt sie ihn mit der Sackkarre an den Strand, Zur alten, gesperrten Mole. Ein Sturm ist aufgekommen. Kein Mensch ist zu sehen. Sie kippt ihn hinunter. Ins Meer. Wenn er rechtzeitig aufwacht, hat sie ein Problem. Aber sie geht nicht davon aus.

Danke euch allen für die vielen spannenden Tipps. Ich habe sie in den zweiten Teil des Thrillers eingearbeitet.

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