Im Auge des Bösen
von Patrick Woywod
(…) Als Nico und Chris gehen wollten, kam ihnen ein Arzt entgegen. Mike, Nicos ungeliebter Bruder. „Nico, gut, dass du noch hier bist. Eine Schwester hat das hier gerade im Mülleimer im Zimmer der jungen Patientin gefunden. Die Reste der Substanz, die da mal drin war, haben wir bereits in unser Labor gegeben. Aber wir dachten, der Beutel wäre hilfreich – wegen Fingerabdrücken. Es ist ein neuartiges Gift. Die versuchen gerade fieberhaft, die Zusammensetzung heraus zu finden. Ich hoffe, dass wir bald ein Ergebnis haben und ein Gegenmittel herstellen können. Sonst sieht es schlecht aus für Yuki“, sagte Mike. „Bist ja doch ein schlaues Köpfchen und nicht nur der sture Arzt, wie unser Vater“, grinste Nico den Bruder an. „Sehr witzig“, entgegnete dieser und ging weiter.
„Manchmal bist du echt fies zu Mike“, sagte Chris grinsend und ging zur Tür von Yukis Zimmer. „Sie dürfen da nicht rein“, rief eine Schwester hinter Ihnen. „Tschuldigung“, sagte Nico, und die beiden gingen Richtung Ausgang, wo der Polizeipräsident auf sie wartete. „Das ist ja ne echte Sch… Situation. Sie wissen nicht, was das für ein Gift ist, das man ihr verabreicht hat, und das sieht nicht gut aus. Aber immerhin haben wir ein Beweisstück. Vielleicht finden unsere Jungs da Fingerabdrücke dran“, sagte Chris sichtlich bedrückt. „Verdammt, wir dürfen sie auf keinen Fall verlieren. Wir können nur hoffen, dass sie überlebt. Es wird Polizeischutz vor Ihrem Zimmer abgestellt“, sagte der Präsident und schaute gen Himmel, als erwarte er von dort irgendwie Hilfe.
„Ich werde mir jetzt erst mal Spike vorknöpfen“, knurrte Chris und ging Richtung Auto. „Warte ich komme mit“, rief Nico und lief hinterher. Doch selbst nach stundenlangem Verhör waren sie keinen Schritt weitergekommen. Spike sagte rein gar nichts. Auch Yukis Zustand verschlechterte sich zunehmend, und das machte allen große Sorge. Das Gift hatte sich unerkannt bereits im ganzen Körper ausgebreitet. Da fiel Chris durch Zufall ein kleines Notizbuch in die Hände, als er sein Auto ausräumte. Die Handschrift war eindeutig die von Yuki. Es musste ihr aus der Tasche gefallen sein, als sie das erste Mal bei ihm mitgefahren war. Das Büchlein war randvoll mit komplizierten chemischen Formeln, und in Chris keimte ein Verdacht auf. Er hatte das Buch nämlich schon mal in den Händen von Spike gesehen. Er raste mit dem Buch zum Krankenhaus. Er informierte Mike von unterwegs, und als er ankam, stand dieser schon da und nahm das Notizbuch in Empfang. Mit diesen Eintragungen, so hoffte Mike, konnten sie das Gift identifizieren und ein Gegenmittel herstellen. Ein erster Hoffnungsschimmer nach Tagen des Bangens!
Nico und Chris nahmen daraufhin nochmals Spike in die Mangel und konfrontierten ihn mit dem Notizbuch. Da brach er zusammen, und endlich redete er. Wie es schien, war alles von Anfang an geplant. Eigentlich hatte nur ein Mensch sterben sollen, und zwar Yuki, als Rache an ihrem Großvater. Und zwar schon vor 16 Jahren! Damals war sie noch ein Kind. Der Anschlag ging schief. Und jetzt, 16 Jahre später, der zweite Versuch. Diesmal mit einer von Yuki selbst entwickelten Waffe. Genial, denn man hätte erstmal vermutet, dass sie sich selbst beim Experimentieren getötet hat. Nach dem Anschlag verstreute sich die Bande in alle Winde. Nur Spike wurde gefasst.
Nachdem das Gegengift gefunden und verabreicht worden war, verbesserte sich Yukis Zustand allmählich. Auf dem Rückweg zum Revier sprach Chris aus, was ihn die ganze Zeit schon bewegte: „Eines verstehe ich immer noch nicht. Wie kommt Yuki darauf, so ein Gift zu entwickeln.“ „Gute Frage“, antwortete Nico. „Sie ist schon weitaus weiter in Ihrer Entwicklung, als man denkt. Ich habe mal gehört, dass sie eine IQ von über 200 haben soll. Sie soll auch schon mit 14 Jahren einen Studienplatz bekommen haben. Medizin. Ihr Schwerpunkt war Tropenmedizin. Wer weiß, was sie mit dem Gift wirklich anfangen wollte? Aber das mit der Rache sollten wir noch mal klären. Was ist vor 16 Jahren passiert, und warum sollte sie sterben? Und vor allem: warum hat sie das Gift entwickelt, mit dem die Bande sie dann töten wollte? War das auch ein Teil ihres Plans? Wollte sie sich selbst umbringen? Das scheint mir als Racheakt doch sehr heftig. Ich will das auf jeden Fall wissen, ich mag Yuki nämlich wirklich sehr“, sagte Nico. „Nicht nur du. Für mich ist sie auch wie eine kleine Schwester geworden. Ich fühle mich für sie verantwortlich. Daher sollten wir echt sehen, dass wir diesen Fall zu Ende bringen“, knurrte Chris und krampfte die Hände ums Lenkrad. Nico spürte die Anspannung in seinem Partner. Sie kannten sich schließlich schon seit der Oberstufe.
Im Revier angekommen, kam ihnen gleich Darian entgegen. „Schlechte Neuigkeiten! Spike konnte mit Hilfe seiner Komplizen auf den Weg in die JVA fliehen. Es sind schon Beamte auf den Weg ins Krankenhaus. Was immer es ist, die haben was Großes vor“, sagte er. Nico und Chris blieben wie angewurzelt stehen und schauten sich an. Keine 2 Minuten später saßen sie wieder im Auto und jagten mit Blaulicht Richtung Krankenhaus. Dort herrschte ein heilloses Durcheinander. „Was ist passiert?“ fragte Chris eine Krankenschwester. „Auf der Intensivstation wurde geschossen. Es gibt mehrere Verletzte, 3 Schwestern, ein Arzt und 2 Polizisten. Die Männer haben sich im Zimmer der Giftpatientin verschanzt. Wenn nicht schnell was passiert, stirbt die junge Dame!“, antwortete die Schwester in heller Panik.
„Das wird nicht passieren“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter Ihnen. Es war der Polizeipräsident. Und er hatte das SEK gleich mitgebracht. „Wir holen sie da raus, und zwar lebend“, rief er. Und dann, zu Nico und Chris gewandt: „Ich weiß, wie ihr euch fühlt, aber leider muss ich euch von dieser Sache abziehen. Ihr seid emotional zu sehr belastet. Auch ich werde mich raushalten müssen, da ich familiär involviert bin“, sage der Polizeipräsident und schaute die beiden eindringlich an. „Wie meinen Sie das?“ fragte Chris verdutzt. „Yuki ist meine Enkelin. Wenn sie stirbt, wird das große Konsequenzen für die Täter haben. Wir werden auf keinen Fall dulden, dass sie ungeschoren davonkommen. Keiner hat das Recht, einfach so einen Mordversuch zu begehen. Und das hier ist jetzt vielleicht schon der zweite“, sagte der Präsident in die Runde.
Chris musste sich zügeln, um nicht gleich in Yukis Zimmer zu rennen, und Nico fluchte unverständlich vor sich hin. „Sie ist euch echt ans Herz gewachsen, wie?“ fragte der Polizeipräsident „Anfangs war ich nicht gerade begeistert von Ihrem Auftrag, Babysitter für ein junges Mädchen spielen zu müssen. Aber mittlerweile ist sie wie die kleine Schwester, die ich nie hatte. Ich werde keinem verzeihen, der ihr auch nur ansatzweise schadet“, grummelte Chris und setze sich in den Einsatzwagen. „Wir hätten besser auf sie aufpassen sollen. Das wäre nie geschehen, wenn sie uns gleich reinen Wein eingeschenkt hätte. Selbst, wenn sie das Gift entwickelt hat – als sie merkte, dass ausgerechnet Spike, ihr Freund, damit ein Attentat vorhatte, hätte sie uns informieren müssen. Aber sie wollte ja unbedingt noch weitere Beweise sammeln. Herrgott, was haben wir nur falsch gemacht!“, fluchte Nico.
„Aber nochmal: was ist vor 16 Jahren geschehen, dass Yuki damals schon sterben sollte?“ fragte Chris unvermittelt. Man sah dem Polizeipräsidenten an, wie schwer es ihm fiel, darüber zu sprechen. Schließlich sagte er: „Vor fast 21 Jahren kam es zu einer Schießerei zwischen der Polizei und einem Drogendealerring. Dabei wurde ein 3-jähriges Mädchen erschossen. Die Leute, die entkamen, darunter der Vater der Kleinen, schworen Rache. Sie fanden schnell heraus, dass ich eine Enkeltochter im gleichen Alter wie das getötete Mädchen habe. Yuki sollte entführt und zum Schein sollte Lösegeld gefordert werden, aber meine Enkelin wäre auf jeden Fall gestorben. Aber da Yuki bei der Geiselnahme dann fliehen konnten, erschossen sie kurzerhand Ihre Eltern, meine Tochter und meinen Schwiegersohn. Yuki bekam eine neue Identität und lebte bei meiner Schwester. Alles schien vergessen.
Zehn Jahre später kam Spike zu uns in die Sondereinheit, er war damals sechzehn. Keiner ahnte, dass er was mit der ganzen Sache zu tun hatte. Er war einfach ein aufgeweckter, interessierter Junge. Er war der Bruder des getöteten Mädchens. Sein Vater hatte ihn intensiv darauf vorbereitet, die zweite Racheaktion als Maulwurf zu planen.
Ich hätte es merken müssen. Aber er war mein Vertrauter. Es war also meine Schuld“, sagte der Polizeipräsident. „Aber warum wollten die sich ausgerechnet an Ihnen rächen?“, fragte Nico. „Ganz einfach: Die Kugel, die das Kind getroffen und getötet hat, war aus meiner Dienstwaffe. Das ergab die Ballistik. Verdammt, ich habe meine Familie in einen Krieg reingezogen, in dem alle nur verlieren können“, sagte der Polizeipräsident und ballte die Hände zu Fäusten. Nico und Chris schauten sich an und fasste sofort denselben Entschluss. „Lassen Sie uns von nun an Yuki beschützen. Wir werden nicht zulassen, dass ihr noch einmal jemand so nahekommen kann. Das ganze Team wird hinter ihr stehen und alles tun, damit sowas nicht noch einmal passiert“, sagte Chris mit entschlossener Stimme.
„So, Gefahr gebannt, fürs erste“, sagte Shadow, der Leiter des SEK, und schob einen fluchenden Spike vor sich her. Nach und nach kamen auch die anderen Jungs mit den Gefangenen nach draußen. „Wie geht es Yuki? Ist sie in Sicherheit?“ fragte Chris. „Unserer Prinzessin geht es gut. Die Ärzte kümmern sich um sie. Macht euch keine Sorgen. Aber lasst sie von jetzt an nie mehr aus den Augen.“
Wie recht er hatte. Noch ahnte niemand, dass die Festnahme von Spike und seinen Jungs noch lange nicht das Ende des Albtraums war.
Im Krankenzimmer saß Yuki aufrecht in ihrem Bett. Dafür, dass sie gerade einem Anschlag entkommen war, sah sie erstaundlich gut aus. „Du hast wirklich das Zeug zu einer 1A Agentin, sagte Nico bewundern. „Das hat sie von mir“, versuchte der Polizeipräsident, die Situation mit einem Scherz aufzulockern.
Ach, ich weiß nicht. Nach all dem Ärger, den ich euch verursacht habe, würde mich doch kein Ausbilder hier mehr nehmen“, sagte Yuki. „Mach dir keinen Kopf. Du bist weitaus stärker, als diese Jungs es sich vorstellen können. Ich meine, du hast in deinem Leben bisher mehr durchgemacht als einer von uns. Es ist erstaunlich, dass du noch so energiegeladen durch die Gegend laufen kannst. Ich meine, machen wir uns nix vor. Als Kleinkind bist du nur knapp einer Entführung entronnen. Und jetzt haben die versucht, dich mit deinem eigenen Gift zu töten. Was mich allerdings immer noch verwirrt. Wie kann man so ein Gift entwickeln? Schielst du vielleicht schon auf den Nobelpreis? Wie auch immer, ich schweife ab. Jeder im Team respektiert dich für das, was du jetzt bist, eine starke und zielstrebige junge Frau. Wir werde dich beschützen, egal, was kommt. Das haben wir alle geschworen“, sagte Nico und hob Yukis Kopf an. „Denk immer daran, für Chris und mich bist du wie eine Schwester. Und wir lassen selten zu, dass Familienmitgliedern was passiert.“
„ Also was die Verwirrungbezüglich des Giftes angeht. Das hat eine ganz einfache Erklärung. Ursprünglich wollte ich ja Ärztin werden. Das Gift war meine Doktorarbeit. Ich denke, dass meine gesammelten rfahrungen uns in schwierigen Situationen weiterhelfen können.“
„Abgemacht“, sagte Nico und reichte ihr die Hand. Keiner ahnte zu diesem Zeitpunkt, wie spielentscheidend Yukis Erfahrungen noch sein würden.
Eine Woche verging, in denen Nico, Chris und ihr Team sämtliche Unterlagen, die mit dem Einsatz vor 16 Jahren und den aktuellen Geschehnissen in Zusammen standen, sammelten und ordneten. Dann entwickelten sie ihren Plan, um den Chef des Drogendealerrings endgültig unschädlich zu machen. An einem sonnigen Morgen standen sie vor dem Haus des Polizeipräsidenten. „Yuki, bist du bereit? Jetzt können wir dich und deine Fähigkeiten brauchen.“ Keine 5 Minuten später saß sie mit Nico, Chris und den anderen im Einsatzbus und raste Richtung Norden. Auf Ihrem Schoß lagen die Unterlagen zum Einsatz. Sie starrte darauf, ohne etwas zu erkennen. Ihr Blick ging zurück in die Vergangenheit. Sie kannte den Ort, an den sie fuhren, aus ihrer Kindheit. Einer Kindheit vor den schrecklichen Ereignissen. „Also, was genau müssen wir tun?“ fragte sie in die Runde.
„Das ganze Gebäude wurde mit TNT gespickt. Wir sollen die Bombenentschärfer begleiten, damit eventuelle Angreifer sie nicht verletzen. Gott, wie sind die nur an soviel Sprengstoff rangekommen?“ Chris schaute aus dem Fenster. Er freute sich nicht auf die Stunden, die vor ihnen lagen. (…)
Patrick Woywod hat aus dem Nichts und ohne vorherige Erfahrung bereits drei Anthologien herausgebracht, um einen Gnadenhof in seinem Heimatort zu retten. Viele Mörderische Schwestern haben dafür Geschichten gespendet.
Patrikck liegt gerade im Krankenhaus. Schreibt einen Kommentar unter den Auszug aus seinem Thriller „Im Auge des Bösen“, den er in einer der nächsten Anthologien veröffentlichen wird. Er freut sich sicher darüber. Gute Besserung, Patrick!

