Stürmische Erbschaft
Wer kennt ihn nicht, den Onkel aus Amerika? Den es dann doch nicht gibt, oder wenn, dann hat er nix zu vererben?
Es geht auch umgekehrt. Über eine der vielen Ahnenforschungsseiten im Internet hatte Janet Becker aus Albany, New York, ihre Großtante väterlicherseits gefunden. Sie hieß Elfriede Jost, geb. Becker, war gesunde 91 Jahre alt und wohnte in Lübeck.
Janet war schon immer ein Papakind, und als sie nach der Scheidung ihrer Eltern zu ihrem Dad zog, wurde das Verhältnis der beiden noch intensiver. An ungezählten Winterabenden, während draußen der dichte Schnee am Fenster vorbeirieselte und drinnen ein munteres Kaminfeuer prasselte, erzählte Daddy ihr gerne die Geschichte, wie sein Vater Ernst 1939 als junger Dichter und glühender Antifaschist nach New York gekommen war. Um zu überleben, war er Redakteur einer kleinen Lokalzeitung geworden, später Herausgeber und Inhaber. Er hatte geheiratet und einen Sohn bekommen, Janets Dad. In Deutschland hatte er eine um etliche Jahre jüngere Schwester hinterlassen, und sein ganzes amerikanisches Leben über hatte er davon geträumt, sie zu sich zu holen. Doch, warum auch immer – es war ein Traum geblieben.
Kurz vor seinem Tod hatte er seinen einzigen Sohn gebeten, nach Elly, so nannte er seine Schwester liebevoll, zu suchen. Aber irgendwie war dieser letzte väterliche Wunsch in Vergessenheit geraten. Bis Janet, ambitioniert, kreativ, unstet und immer in Geldnöten, die fixe Idee entwickelte, Tante Elly hätte ein Vermögen und keine Verwandten, denen sie dieses vererben könnte. Bevor es irgendein Tierschutzverein bekam, oder, schlimmer noch, ein Verein zur Bewahrung deutscher Volkslieder (Janet hatte sehr rudimentäre Vorstellungen von Europa und seinen Bewohnern und hielt sie allesamt für hinterwäldlerische Nationalisten. Diese Vorstellung stieß sich übrigens nicht an ihrer Vorliebe für Donald Trump…), wollte sie, Janet Becker, ihr rechtmäßiges Erbe antreten.
Eile war geboten, denn Janet wusste, dass Tante Elly bereits die Schwelle zum zehnten Lebensjahrzehnt überschritten haben musste. Aber es dauerte dann doch ein paar lange Monate, bis sie Namen und Kontaktdaten von Elfriede Jost beisammenhatte. Was sie über ihre Großtante in Erfahrung brachte, war vielversprechend. Ihr verstorbener Mann, Manfred Jost, war Inhaber einer Kette von Bekleidungshäusern gewesen. Er war vor gut 20 Jahren gestorben, die Ehe war kinderlos geblieben, und Jost hatte keine leiblichen Verwandten. Da musste ganz schön was zu holen sein.
Die erste Kontaktaufnahme verlief etwas holprig. Um die alte und sicher schon recht demente Dame nicht zu sehr zu verwirren, hatte sie ihr vorab eine Mail geschrieben. Sehr vorsichtig und vage gehalten, denn sie musste davon ausgehen, dass der junge Betreuer sie Elly vorlesen würde. Die süße Alte konnte wahrscheinlich kaum noch aus den Augen schauen. Erstaunlicherweise kam Ellys Antwort schon nach ein paar Stunden. Freundlich, aber distanziert fragte sie nach Janets „Credentials“. Sie war nicht bereit, so ohne weiteres an eine plötzlich aufgetauchte Enkelin zu glauben. Es gäbe in Deutschland leider so viele Verbrechen mit der „Enkeltrick-Methode“, erklärte sie in ihrer in gutem Englisch geschriebenen Mail. Der Betreuer musste ein großes Interesse an Elly haben, um ihr so viel Zeit zu widmen. Oder – und das hielt Janet für wahrscheinlicher – er wollte sich das Geld der Alten selbst unter den Nagel reißen. Aber da hatte er die Rechnung ohne Janet gemacht.
Sie konnte die Verwandtschaft zu Großtante Elfriede lückenlos nachweisen. Und als sie schließlich das erste Mal telefonierten, sprach sogar Janets Dad ein paar Worte in dem gebrochenen Deutsch, an das er sich aus der Zeit mit seinem Vater erinnern konnte. Elfriede schien gerührt darüber, dass ihr Bruder quasi an seinem Totenbett an sie gedacht hatte. Wie schade, dass sie sich nie mehr gesehen hatten. Aber das Leben hatte sie einfach nicht mehr zusammengeführt. Wie gerne würde sie wenigsten einmal an Ernstens Grab stehen.
„Kein Problem, Auntie,“ sagte Janet. Ich komme nach Germany und hole dich ab. Dann musst du die weite Reise nicht alleine machen. What do you think? Und ich möchte so gerne die lovely Heimat meines Grandpas besuchen!“
„Aha. Na gut. Dann komm.“ Wenn Janet gedacht hatte, ihre liebe Auntie würde ihr ein Flugticket schicken, hatte sie sich allerdings getäuscht. Aber ihr Dad war plötzlich und ebenso unerwarteter- wie glücklicherweise komplett auf Familie gebürstet und kaufte Janet das Ticket. Sie selbst allerdings musste sich für eine große Investition in ihre goldene Zukunft von ihren besten Freunden das Geld für die Überfahrt für zwei Personen auf einem Luxusliner von Hamburg nach Ney York borgen. „Ihr kriegt es mit Zinsen zurück, sobald ich Auntie beerbt habe“, versprach sie ihnen. Und da ihrPlan dafür plausibel klang, hatte sie das Geld bald beisammen.
Erstaunlicherweise verstanden sich Janet und Elfriede vom ersten Moment an sehr gut. Janet war nicht nur ehrgeizig und bis zu einem gewissen Grad hemmungslos, sondern auch intelligent. Schnell akzeptierte sie, dass Auntie Elly noch komplett selbständig war und das Firmenimperium, das zwar nominell von ihrem Mann, de fakto aber von ihr geleitet worden war, immer noch beriet. Sie verfasste und las ihre E-Mails alleine, und Samuel, der gutaussende 35-Jährige, der bei ihr wohnte, war eine Mischung aus Sekretär, Koch und und Personal Trainer.
Für einen kurzen Moment dachte Janet daran, ihn in ihre Pläne einzuweihen, entschied sich aber dagegen. Teilen war einfach nicht ihr Ding.
Zwei Monate vergingen wie im Flug. Dann eröffnete Janet ihrer Großtante, dass sie ihr eine Überfahrt auf einem Luxusliner geschenkt hatte. „Du sollst genau so nach New York kommen wie dein geliebter Bruder“, lächelte sie. „Du bist wirklich bezaubernd, Janet“, antwortete Elly. „Und du hast sehr viel von meinem Bruder, deinem Großvater.“ „Ja, Blut ist eben dicker als Wasser“, sagte Janet. Und gestand, dass sie leider kein Ticket für Samuel gekauft hatte und das Schiff inzwischen komplett ausgebucht war.
„Dann reisen wir beide eben alleine“. Elly schien nicht das geringste Problem damit zu haben.
Die Überfahrt ließ sich sehr gut an, zumindest, solange die See ruhig war. Als das Wetter rauer wurde, blieb Janet öfter unter Deck. Ihr Magen vertrage die heftigen Bewegungen einfach nicht, erklärte sie. Und feilte an dem Plan, der sie noch vor Erreichen des heimatlichen Hafens zu Millionenerbin machen sollte – sofern die Elemente mitspielten.
Und dann endlich kam der ersehnte Sturm. Er war zu erwarten gewesen, in dieser Jahreszeit. Elfriede hatte auf dem Weg zum Dinner noch kurz bei Janet reingeschaut, aber die lag mit ungesund grüner Gesichtsfarbe im Bett.
Elfriede konnten Wind und Wellen nichts anhaben. Die Besatzung bemühte sich, alle Passagiere unter Deck zu bugsieren, als der Sturm an Stärke zunahm. Aber Elly wollte noch kurz das Naturschauspiel genießen.
Später versuchte der erste Offizier, den Hergang des Dramas zu rekonstruieren. Auf dem Weg zur Brücke war ihm die junge Amerikanerin begegnet, Janet Becker. Sie sei auf der Suche nach ihrer Tante, sie mache sich sorgen, weil die alte Dame doch nicht ganz sicher auf den Beinen sei, in ihrem Alter! Und dann dieser Sturm! Sein Angebot, mitzukommen, hatte Janet abgelehnt. Die Tante sei Fremden gegenüber noch sturer als mit Familienangehörigen. Er setzte also seinen Weg fort – und hörte plötzlich einen markerschütternden Schrei, der sogar das Sturmgeheul übertönte. Und dann hieß es auch schon: „Mann über Bord“, bzw. in diesem Fall „Frau“.
Der Offizier rannte an Deck und sah sich nach Janet um. Sie hatte es ganz offenbar nicht geschafft, ihre Tante rechtzeitig zu finden.
Doch dann entdeckte er Elfriede Jost, geb. Becker, in eine Decke gehüllt und von pitschnassen Helfern in Ölhäuten umringt, an der Reling stehen.
„Es ging alles so schnell“, sagte Elfriede später. Janet kam auf mich zu, streckte ihre Hände nach mir aus – und da kam diese Riesenwelle und spülte sie einfach von Deck. Schrecklich! Wenn ich nicht so dicht an der Trennwand gestanden und mich mit meinem Stock festgekrallt hätte, wäre ich sicher auch über Bord gegangen. Mein tägliches Fitnessprogramm mit meinem Personal Trainer hat mir wohl das Leben gerettet.“
Elfriede verkniff sich den salbungsvollen Satz „um mich alte Frau wäre es nicht schade gewesen, aber sie war doch noch so jung“. Stattdessen sagte sie: „Und sie erinnerte mich so an meinen Bruder.“ In Gedanken fügte sie inzu: „Genauso gerissen und skrupellos. Er hat mich damals einfach hier sitzenlassen und mich auch noch bei der Gestapo angezeigt. Um ein Haar wäre ich im Konzentrationslager gelandet, als Preis für seine Freiheit. Und Janet hatte wohl geplant, mich auf der Überfahrt beseite zu schaffen.“ Allerdings war Elfriede ihr zuvorgekommen. Auch, wenn sie es nicht gern gehört hätte: Blut war eben dicker als Wasser.
Da Elfriede die alleinige Nutznießerin der Lebensversicherung war, die sie kurz vor der Abreise auf Janet abgeschlossen hatte, gönnte sie sich, gemeinsam mit dem schon in New York wartenden Samuel, eine faszinierende Rundreise durch die USA. Leider reichte die Zeit weder für einen Kondolenzbesuch bei Janets Dad noch für einen Abstecher zum Grab ihres Bruders.
Die Idee für diesen MiniKrimi kam mir beim Lesen einer Zeitungsnotiz, dass eine Riesenwelle eine Amerkanerin auf einem Schiff von Bord gespült habe.
