Wer Vertrauen schenkt (Auszug)
von Monja Luz
Gemeinsam betreten Chris Muth und Jake Imhof die Küche. Die ist hell erleuchtet und sperrt das spärliche Tageslicht gänzlich aus. Am Bartisch sitzt ein junger Mann mit geröteten Augen, sein Hemd ist blutverschmiert. Die Hände halten eine Tasse.
Er bemerkt sie offenbar nicht. Selbst als sie direkt vor ihm stehen, reagiert er nicht, sondern starrt weiter vor sich hin. Die Tasse ist unbenutzt. Es scheint, als hätte er danach gegriffen und im nächsten Moment vergessen, was er damit wollte.
»Herr Danner? Wir haben ein paar Fragen.«
Unsicher hebt der Angesprochene den Kopf, schaut von Chris zu Jake. Chris stellt sie beide vor, während Jake sich an der Kaffeemaschine zu schaffen macht. Das laute Mahlen der Kaffeebohnen überbrückt das Schweigen. Ein aromatischer Geruch breitet sich aus, der den Zeugen zusehends belebt. Jake verteilt die gefüllten Tassen. Nach einem ersten vorsichtigen Nippen drückt der Zeuge den Rücken durch, blickt Chris fest in die Augen und sagt: »Ich werde Ihnen keine große Hilfe sein. Im Moment kann ich mich nur daran erinnern, hergekommen zu sein. Und plötzlich standen Ihre Kollegen vor mir.«
»Aber Sie haben den Notruf gewählt?«
»So hat es mir Ihre Kollegin geschildert, aber ich kann mich nicht entsinnen, es getan zu haben. Sobald ich versuche, den Morgen zu rekapitulieren, sehe ich Steff, wie sie daliegt …« Wieder verliert sich sein Blick.
»Wie wäre es, wenn Sie uns zunächst einmal Ihre persönlichen Daten nennen, Herr Danner?« Chris zückt seinen Notizblock.
»Mein Name ist Daniel Danner, siebenundzwanzig Jahre, ich bin Germanistikstudent im fünften Semester.«
Kommt daher seine gestelzte Sprache, wundert sich Chris. Dann fragt er: »Wohnen Sie hier?«
»Nein, ich habe eine Wohnung in Gonsenheim, die Adresse hat Ihre Kollegin notiert.«
Sichtlich dankbar lässt sich Herr Danner auf den Plausch ein.
»Und wer wohnt hier?«
»Steff mit ihren Eltern. Wobei die vor einem Jahr auf die Kanaren umgesiedelt sind und sich nur selten in heimatlichen Gefilden aufhalten. Herr Seidel hat ein Lungenleiden, das ihn sehr einschränkt. Die Seeluft und das gleichbleibende Klima dort erleichtern ihm den Alltag.«
»Wie lange sind Sie und Frau Steffanie Seidel ein Paar?«
»Seit zehn Monaten. Wir kennen uns von der Uni. Ich betreue die Erstsemester.«
»Das machen Sie neben dem Studium?«
»Richtig, das hat sich durch die Pandemie entwickelt. Ich habe mich zurückgezogen und mich mit den Möglichkeiten vertraut gemacht, ein Leben ohne direkten Außenkontakt zu führen. Ich bin nicht technikaffin, aber ich kenne mich mittlerweile gut aus. Ich mache auch die Betreuung online, um die Studierenden auf eine erneute Umstellung vorzubereiten. Damit nehme ich ihnen die Angst und zeige, wie die soziale Isolation vermieden werden kann, auch wenn der Individualkontakt nicht möglich ist.«
Chris spürt, wie wichtig seinem Gegenüber das Thema ist. »Wann haben Sie Ihre Selbstisolation aufgehoben?«
»Ich meide weiterhin große Ansammlungen und trage FFP2-Masken, wenn ich einkaufen gehe, beim Arzt, in Bus und Bahn und in der Uni.«
»Auch bei Ihrer Familie und unter Freunden?«
»Ich habe keine Familie. Und Freunde … ich treffe mich im Grunde nur mit Steff.«
»Haben Sie sich gestern gesehen?«
»Ich denke schon.« Die Bemerkung stoppt Danners Redefluss, wieder verfällt er in stummes Starren ins Nirgendwo.
»Herr Danner, was ist gestern passiert?«
»Ich glaube, wir hatten einen Disput. Unseren ersten kleinen Konflikt.«
»Worum ging es?«
Danner richtet sich auf, schüttelt den Kopf. »Es war nichts. Nur eine infantile Bemerkung in der Nachricht einer Freundin. Wir haben es geklärt. Nur wegen des Nachklangs des Streits haben wir uns nicht wie gewohnt verabschiedet.«
»Wie muss ich mir das vorstellen?«, hakt Chris nach und wirft einen Blick auf Jake, der es sich auf einem Barhocker bequem gemacht hat. Dabei trinkt er Kaffee und wirkt abwesend.
»Ich … ich weiß, dass es so war, aber an die Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich heute Morgen dachte, ich muss Steff gleich als Erstes herzen.«
»Sie können sich nicht an den Ablauf erinnern?«, mischt sich Jake nun doch ein.
»Nein«, antwortet Herr Danner mit einer Selbstverständlichkeit, die Chris erstaunt.
»Haben Sie das öfter? Immerhin sind seitdem wohl kaum mehr als zwölf Stunden vergangen. Und es war Ihr erster Streit, den behält man in Erinnerung.«
»Nein.«
»Sie wollen sich nicht daran erinnern?«, fragt Chris.
»Richtig. Negativ belegte Erlebnisse bewahre ich nicht im Gedächtnis. Wozu auch? Ich weiß, dass etwas war, mehr nicht. Warum soll ich mich mit solchen Erinnerungen quälen?«
Darauf kann Chris nichts erwidern, fast beneidet er sein Gegenüber um die Fähigkeit – wenn der Wahrheit entspricht, was er sagt. »Dann erzählen Sie, woran von gestern Abend Sie sich erinnern.«
»Wir haben uns Essen bestellt, thailändisch, die Vorspeise haben wir uns geteilt und beim Hauptgericht nach der Hälfte die Teller getauscht. Das machen wir immer so.« Ein Lächeln blitzt auf. »Dann hat Steff ihre Geschenkliste überarbeitet. Da ist sie sehr penibel. Ich habe versucht herauszufinden, was ich ihr schenken soll.« Das Lächeln wird stärker. Offensichtlich hat Herr Danner seine tote Freundin im Wohnzimmer nebenan ebenfalls vergessen.
»Dann kam der Streit?«
»Nein, der war später.«
»Wann?«
»Ich habe sie nach Hause gefahren.«
»Sie haben ein Auto?«, wundert sich Chris, der sich von seinem Wagen wegen der Parkplatznot und den horrenden Parkgebühren in Mainz vor Längerem getrennt hat.
»Nun, den Luxus erlaube ich mir.«
»Und als Sie hier ankamen, kam es zum Streit.«
»Nein.«
»Sondern?«
Die Antwort kommt zögerlich: »Sie wollte, dass ich das Haus inspiziere.«
»Und? Haben Sie?«
»Nein.«
»Herr Danner, können Sie uns bitte den Ablauf erzählen, wie Sie ihn in Erinnerung haben?«
Der Angesprochene schüttelt erst den Kopf, richtet sich auf und schaut Chris direkt an.
»Gewiss. Ich habe Steff hergefahren. Dann hat sie rumgedruckst. Vorher war sie schon fahrig gewesen, hatte ständig ihr Handy in der Hand und hat Nachrichten und sogar Anrufe bekommen.«
»Von wem?«
»Darüber habe ich keine Kenntnis.«
»Sie haben nicht gefragt?«
»Nein.«
»Und wegen der Nachrichten haben Sie sich gestritten?«
»Gestritten? Nein. Das war später. Sie wurde immer unruhiger. Um kurz nach halb elf wollte sie plötzlich nach Hause. Also habe ich sie gefahren. Dann sollte ich eine Runde durchs Haus machen, nach Einbrechern suchen. Steff hat aufgeschlossen, aber die Alarmanlage war aktiviert. Wie soll da jemand Unbefugtes im Haus sein? Außerdem waren die Katzen unten. Ich bin gleich weg.«
»Ohne Verabschiedung?«
»Ja. Weil es einfach albern war. Ich habe gefragt, was los ist, darauf hat sie nicht geantwortet.«
Scheint, als hätte sich die erste Verliebtheit verflüchtigt und ohne rosarote Brille entsprach die Partnerin nicht mehr hundertprozentig den Vorstellungen. Wie so oft, denkt Chris.
»Sie wollte einfach nur ihren Willen durchsetzen!«
Die Heftigkeit der Bemerkung lässt selbst Jake aufhorchen, der gerade sein Handy hervorgeholt hat. Doch genauso plötzlich, wie das Aufbegehren gekommen ist, erlischt es und Herr Danner sitzt mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern da, knetet seine Hände.
Dann flüstert er: »Bin ich schuld an ihrem Tod?«
Monja Luz verbringt ihre krimifreie Zeit hauptberuflich mit Buchhaltung. Dabei ordnet und schiebt sie die Zahlen so lange hin und her, bis sie stimmig sind. Genauso verfasst sie ihre Krimis. Nach und nach wird das Knäuel aus Verdächtigen und Motiven entwirrt, und am Ende wird das Lügengeflecht des Täters entlarvt.

(copyright Foto: Studioline)



