MiniKrimi am 12. Dezember


Heute lest ihr den Prolog des 6. Bandes der Sara Konrad Thriller von Marley Alexis Owen. Die Verurteilung am Ende einer Gerichtsverhandlung in Russland ist der Anfang einer spannenden Story rund um Sara Konrad. Viel Spaß beim Lesen!

Der Russe

Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu weinen. Trotzdem konnte sie ihre Anwältin jetzt nur verschwommen erkennen. Sie hätte es auf das zentimeterdicke Panzerglas schieben können, doch das Brennen ihrer Augen war nicht zu leugnen.

Verteidigerin. Diese Bezeichnung hatte die Frau schlicht nicht verdient. Sie war zwar faktisch ihre juristische Vertreterin, hatte aber während des gesamten Prozesses kaum mehr als einmal das Wort ergriffen. Und auch da hatte sie nur eine Stellungnahme verlesen, die ihre Mandantin zuvor selbst verfasst hatte.

Kein Plädoyer. Keine Einsprüche. Keine juristischen Kniffe, die in letzter Sekunde für Gerechtigkeit sorgten, so wie jene, die sie aus den amerikanischen Gerichtssendungen kannte, die sie in ihrer Jugend auf illegal gebrannten DVDs gesehen hatte. Nichts.

Sie blinzelte und straffte ihre Schultern, im verzweifelten Versuch, wenigstens äußerlich die Fassung zu bewahren.

Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn sie reich gewesen wäre? Wenn sie ihr mehr Geld hätte bezahlen können? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hier trat sie gegen Mächte an, die nicht nur ihre Entschlossenheit parierten, sondern über Ressourcen verfügten, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. 

Ihr Blick sprang durch den Raum wie ein Eichhörnchen, das einen Ausweg aus dem Käfig suchte.

Die Zuschauerbänke waren bis auf wenige regimetreue Journalisten leer. Wo während der ersten Verhandlungstage noch ihr Herausgeber und einige Kollegen gesessen hatten, um ihr stumm Mut zuzusprechen, waren nach und nach alle bekannten Gesichter verschwunden.

Ihre Freunde hatten es nicht einmal für nötig gehalten, zur Eröffnung des Verfahrens zu erscheinen. Wenig überraschend, blieben sie jetzt auch der Urteilsverkündung fern.

Mit ihr befreundet oder gar verwandt zu sein, wäre einer Mitschuld gleichgekommen – und ihre Schuld wollte niemand teilen.

Sie wusste, dass Alexander, ihr Chefredakteur, zwischenzeitlich verhaftet worden war. Das hatte ihr ein Vögelchen im Gefängnis gezwitschert. Kein Wunder also, dass die anderen auch nicht mehr erschienen – wer konnte, war spätestens nach ihrer Anklageverlesung untergetaucht. Zumindest hoffte sie das inständig.

Obwohl sie nur ein T-Shirt trug, klebte ihr der dünne Stoff am Rücken. Gern hätte sie ihn abgezupft, weil es sie kitzelte, aber sie rührte sich nicht, um nicht zappelig auszusehen.

Konzentriert ließ sie ihren Blick weiter durch den Gerichtssaal schweifen. Der Raum war klein und wirkte beengt, aber vermutlich war das albern. Im Vergleich zu den Zellen, in denen sie seit einer gefühlten Ewigkeit hauste, glich er in der Größe eher einem Tanzsaal.

Der dunkle, rotbraune Lack der Richterbank schimmerte im künstlichen Oberlicht wie frisches Blut. Ihr schlanker Körper erzitterte und zur Abwechslung lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.

Die Pappkartons, die neben dem Ankläger standen, waren angeblich voller Beweismaterial gegen sie. Sie hatte nichts davon zu Gesicht bekommen. Ebenso wenig wie ihre Anwältin, wie sie vermutete. Im digitalisierten Russland war diese Zurschaustellung von Papier antiquiert und lächerlich. Alles Show. Wie der ganze Prozess.

Man wollte sie einschüchtern. Brechen. Sie sollte sich schuldig bekennen. Schuldig des was? Die Wahrheit zu sagen, war ihr von frühester Kindheit an anerzogen worden – seit wann stand darauf eine Strafe für Hochverrat?

Von allen Anwesenden unbemerkt hob sie das Kinn. Nicht einmal die beiden bewaffneten Soldaten, die links und rechts von ihrem Glasgefängnis Wache standen, reagierten auf ihren Haltungswechsel. Doch ihre Tränen versiegten und ihre Wut verdrängte die Angst.

Sie war Lenya Vasilieva Kusnezowa. Sie war freie Journalistin. Und keine Gefängnisgitter, kein Urteil und auch sonst nichts würde an dieser Tatsache etwas ändern.

Und wenn es ihr Opfer forderte, um der Wahrheit ans Licht zu verhelfen, dann würde sie es erbringen.

Im gleichen Moment fiel ihr ein, dass genau das eben nicht passieren könnte, wenn sie heute verurteilt und weggesperrt werden würde. Die Wahrheit wäre mit ihr begraben. Ihr Artikel würde nie erscheinen. Weder gedruckt noch in den Portalen des Internets. Ihr Opfer wäre völlig sinnlos.

Hoffnungslosigkeit umschloss, wie mit kalten Fingern, ihre Kehle und sie schnappte unwillkürlich nach Luft.

Währenddessen lauschte ihre Anwältin regungslos dem Urteil des Richters. Lenya nicht.

Sie konnte überhaupt nichts hören, so sehr konzentrierte sie sich darauf, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu halten.

Diese steckten in Handschellen, als wäre sie eine psychopathische Massenmörderin, die bei der erstbesten Gelegenheit jemanden anspringen würde, um ihm die Halsschlagader durchzubeißen. Auch das hatte sie irgendwann mal in einem Film gesehen. Hannibal hatte der Charakter geheißen und Lenya musste schmunzeln bei dem Gedanken. Doch kaum war er vorüber, spürte sie ihre Knie, die drohten, jeden Augenblick unter ihr nachzugeben.

Sie fuhr sich mit der trockenen Zunge über die spröden Lippen und zwang sich, langsam ein- und auszuatmen. Panik nützte jetzt auch nichts. Jetzt nützte überhaupt gar nichts mehr.

Eine Träne gewann den Kampf gegen ihren Stolz und rann ihr aus dem Augenwinkel über die Wange. Mit einer knappen Bewegung wischte Lenya sie beiseite und fuhr sich bei der Gelegenheit auch gleich über das andere Auge.

Die aufwallende Wut über die aussichtslose, und schlimmer noch, ungerechte Situation, gab ihr genug Kraft für ein letztes Gefecht und sie fixierte den Ankläger mit einem feurigen Blick aus ihren hellgrauen Augen.

Sie sollten nicht glauben, dass sie aufgeben würde, nur weil sie sie diffamierten. Weil sie ihre Arbeit verunglimpften. Sie der Lüge und des Hochverrats bezichtigten. Nein, sie würden sie nicht mit ihrem Schauprozess brechen.

Der Urteilsspruch erging.

Im Raum wurde es erst einen Moment still, dann begann das Rascheln und Rauschen. Ankläger und Anwältin nickten dem Richter zu und fingen an, ihre Unterlagen zu ordnen und einzupacken.

Die Journalisten tippten eifrig in ihre Smartphones oder warteten auf bereits gewählte Verbindungen.

Niemand beachtete Lenya.

Nur langsam und zeitverzögert drangen die Worte »Arbeitslager – lebenslänglich« in ihr Bewusstsein.

Der Wachhabende, der näher zur Tür stand, wandte sich um, ohne sie anzusehen, und machte sich daran, die Panzerglastür aufzuschließen.

Lenyas Körper wurde von einem Beben ergriffen. Verzweiflung schoss ihr wie heiße Lava die Kehle hoch und brach sich ihren Weg. Mit aller Macht warf sie sich mit erhobenen Fäusten gegen das Panzerglas, das unter dem Aufprall sonor vibrierte.

Aus Leibeskräften schrie sie: »Ihr werdet mich nicht mundtot machen! Ihr könnt mich in den Gulag werfen, aber ihr könnt mich nicht aufhalten! Ihr könnt die Wahrheit nicht begraben! Sie wird ans Licht kommen. Die ganze Welt wird erfahren, was ihr getan habt!«

Ihre Stimme brach.

Die Anwältin, die ihr am nächsten stand, hatte auf- und sie flüchtig angesehen. Nun schüttelte sie jedoch den Kopf und senkte den Blick ebenso rasch wieder auf ihre Aktentasche.

Weder der Richter noch andere Anwesende hatten auf ihren Ausbruch reagiert.

Atemlos und außer sich vor Zorn, schlug Lenya mit beiden Fäusten gegen das Glas. Jetzt trat der Wachhabende neben sie und beschwichtigte sie.

»Kommen Sie, es hat doch keinen Zweck.« In seinen Augen lag weder Feindseligkeit noch Ärger. Nur Resignation und eine Spur Mitleid. Auch er sah rasch beiseite, während er sie am Arm aus der Zelle führte.

Lenya war auf die Fußballen zurückgesunken und keuchte. Es war, als entwiche alle Kraft aus ihr, während sie einen kleinen Schritt zur Tür machte.

Wieder war es eine Filmszene, die ihr in den Sinn kam. Von einer schottischen Königin, die am Ende ihrer jahrzehntelangen Haft schließlich zum Schafott geführt wurde.

»Ich werde nicht wie Maria Stuart enden«, schwor sie so leise, dass nicht einmal die Wachen ihre Worte hörten, die sie an beiden Armen hielten.

Bild (c) mao_autorin.

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Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Eine schöne Bescherung 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am schlimmsten. Wenn draußen die Lichtgirlanden, in den Fenstern die Jakobsleitern und am Adventskranz die Kerzen leuchten, wenn die Luft nach Glühwein duftet und gebrannten Mandeln, wenn sich im Keller die Dosen mit frisch gebackenen Plätzchen stapeln und das Radio „Last Christmas“ in Dauerschleife dudelt, packen die Erinnerungen Erika jedes Mal mit aller Macht. Denn genau in dieser magischen, wunschprallen, nach Vergebung und Liebe suchenden Zeit ist Erika die schlimmste Kränkung ihres Lebens widerfahren. 

In der Vorweihnachtszeit ist es immer am besten. Wenn draußen ein eisiger Ostwind den Schnee vor sich hertreibt und drinnen vor dem munter flackernden Kaminfeuer Whiskey und Pfeife auf ihn warten, genießt Eduard die Erinnerungen am meisten. Und während das Holz in den Flammen knistert, ergreift die Genugtuung wieder Besitz von jeder Faser seines Körpers, prickelnd und über die Maßen erregend.

Erika hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Erstgeborene, ein Mädchen statt des ersehnten Stammhalters, schmal und schmächtig. Aus der konnte nichts „Gescheites“ werden, das hatte die Mutter gleich beim Anblick der Neugeborenen prophezeit. Im Laufe ihres Lebens hat Erika diese Erwartungen voll und ganz erfüllt. Von einer scheuen Schülerin, die sich statt in Freizeitaktivitäten lieber in Bücherwelten stürzte, entwickelte sie sich zur einer musikbesessenen Medizinstudentin. Natürlich gaben ihr die Eltern keinen Pfennig dazu, und Erika verdiente sich Studium, Bücher, Unterkunft und Essen durch Klavierunterricht. Dass sie ihr überhaupt erlaubten, die Universität zu besuchen, lag ganz einfach daran, dass sie dadurch früh „aus dem Haus, dem Auge und dem Sinn“ der Mutter verschwand.

Eduard interessierte sich schon im Kinderwagenalter für Geschwindigkeit: er stellte sich kerzengerade in seinem Buggy auf und hieb mit einem langen Schnürsenkel auf die Schwester ein, die ihn, wie ein eingespanntes Pferd, in Windeseile über den Hof ziehen musste. Mit fünf zerschnitt er die Bremsen ihres Fahrrads, woraufhin sie wie ein Pfeil die Straße bergab und gegen den Baum an der ersten Kreuzung sauste. Selbstverständlich trat er nach dem Realschulabschluss in das elterliche Autohaus ein und verdrängte den Vater, so schnell es ging, aus dem Geschäft. Sein rasanter Lebensstil kostete im Laufe der Zeit allerdings mehr, als ihm seine diesbezügliche Expertise einbrachte. Schließlich stand das Autohaus – das Lebenswerk des Vaters – kurz vor dem Konkurs. Dann starb die Mutter, und nur mit ihrem Geld konnte er die geschäftliche „Kurve kriegen“. Allerdings war dazu mehr als sein eigener Erbanteil nötig...

Erika, inzwischen längst Landärztin mit eigener Praxis, Ehemann und zwei Kindern, saß bei der Testamentseröffnung kerzengerade auf dem Ledersofa. Sie musste gegen die ungehindert durch die großen Fenster in den Raum hineinstürzende Sonne blinzeln und nahm den Anwalt, den die Mutter offenbar kurz vor ihrem Tod mit ihren Angelegenheiten betraut hatte, – übrigens ein Kunde und Duzfreund ihres Bruders – nur als Scherenschnitt war.  Im Nachhinein hat sie versucht, das Testament anzufechten, um zumindest einen Pflichttei des Erbes zu erhalten. Vergeblich. Nachdem sie alle Instanzen durchlaufen hatte, nahm der Richter, der ihr in der letzten Verhandlung die allerletzte Hoffnung genommen hatte, sie beiseite. Ob ihr bewusst sei, dass ihr Anwalt zur Clique von Eduard gehöre? Er habe es wirklich geschickt angestellt, so dass ihm, dem Richter, bei dieser lückenlosen Vorgehensweise tatsächlich die Hände gebunden gewesen seien.

Eduard sitzt vor seinem Kamin. Verträumt betrachtet er die Glut. Um ihn herum nur die Stille einer sternenklaren Nacht. Er hat den Brief zweimal gelesen. Wort für Wort. Aber er kann keinen Fallstrick erkennen. Nur eine tiefe Traurigkeit. Erika war schon immer melancholisch veranlagt. Sie schreibt, dass ihr Mann gestorben sei. Ein Unfall, der die gesamte Familie in arge Bedrängnis gebracht habe. Sie könne die Praxis nicht mehr halten und werde wohl auch aus dem Haus ausziehen müssen. Das wenige Geld, das ihr bleibe, sei für die letzten Studienjahre ihre Kinder bestimmt. Nach so viel Leid habe sie das dringende Bedürfnis, in ihrem Leben Ordnung zu schaffen. Sie wolle den Zwist mit ihrem Bruder beilegen. „Lassen wir den Schnee von gestern doch einfach tauen“, schrieb sie. „Und endlich wieder wie Geschwister zueinander sein.“

Der dem Brief beigelegte Versöhnungstropfen muss noch aus dem Weinkeller seines Schwagers stammen. Ein vorzüglicher Chateau Lafitte. „Santé, Schwester“, sagt Eduard und hebt das Glas.

Dank seiner Selbstgerechtigkeit ist er kaum überrascht, als sie trotz vorgerückter Stunde vor seiner Tür steht, und es gelingt ihm gerade noch, ihr das Glas in die Hand zu drücken, als die Welt um ihn herum sich zu drehen beginnt. Sekunden später liegt er leblos auf dem Terracottaboden.

Frau Dr. Erika Monhaupt ist untröstlich, den Bruder so unmittelbar nach ihrem Wiedersehen verloren zu haben. Dabei verschweigt die Ärztin natürlich sowohl ihren Brief samt Versöhnungsgeschenk als auch ihre Kenntnis bezüglich der Ursache für den plötzlichen Tod ihres Bruders. 

Die Vorweihnachtszeit, denkt sie, während draußen dichte Schneeflocken tanzen und im Kamin ein lustiges Feuer prasselt, ist doch gar nicht so übel. Morgen kommen die Kinder. Ist das nicht eine schöne Bescherung?