MiniKrimi Adventskalender am 21. Dezember


Kommt Zeit, kommt Rat

von Roswitha Zatlokal

Kommt Zeit, kommt Rat von Roswitha Zatlokal

Widerwillig betrat Otto das Lokal. Ihm war sofort klar, warum Regina ausgerechnet dieses Schickimicki-Restaurant ausgesucht hatte. Er hasste diese eingebildeten Deppen, die in derartigen Lokalitäten verkehrten, und das wusste sie. „Zieh dir gefälligst was Anständiges an“, hatte sie ihn am Telefon noch angekeift. Als ob er nicht immer ordentlich angezogen wäre. Nur weil er kein Anzugträger war, hieß das noch lange nicht, dass er sich nicht zu kleiden wusste. Hoffentlich war dieser Zirkus bald vorbei. Diese Frau brachte ihn noch ins Grab.

Suchend sah er sich um. Ein Kellner watschelte schnurstracks in seine Richtung. Sein Auftreten eine Spur zu hochnäsig, die angedeutete Verbeugung beinahe widerwillig ausgeführt. Herablassend fragte er: „Sie wünschen, der Herr?“

„Ich werde erwartet. Von Frau Mittergruber Regina, um genauer zu sein.“ Otto sah über die Schulter des Kellners. „Ah, da hinten sitzt sie ja und winkt mir zu. Danke.“ Er streifte den Kellner im Vorbeigehen an der Schulter, entschuldigte sich jedoch nicht. Forschen Schrittes ging er auf Reginas Tisch zu. „Wieso hier in diesem Restaurant? Und warum jetzt? Und wie bist du überhaupt an die Reservierung gekommen, wartet man hier nicht wochenlang auf einen Tisch? Ich übernehme mit Sicherheit nicht die Rechnung, meine Liebe.“

„Freut mich auch, dich zu sehen, mein Lieber.“ Sie erhob sich. Angedeutete Küsschen links rechts wurden an seinen Ohren vorbeigehaucht, seine Hände von ihren gedrückt. „Komm, schau nicht so grantig. Setz dich.“

„Was willst du?“ Er traute dem plötzlichen Frieden nicht. „Geht es um die Scheidung? Das Haus? Das Auto?“

„Aber nicht doch, mein Lieber, nichts dergleichen. Ich hab nachgedacht. Alles, was ich will, ist Theo. Sonst nichts.“

„Theo?“ Er spürte die Bleiche in seinem Gesicht aufsteigen, Schwindel ergriff ihn. „Wieso Theo. Du weißt genau, wie viel er mir bedeutet.“

„Schau, ich liebe Theo doch auch. Im Gegenzug verzichte ich auf alle deine Reichtümer.“ Sie zeichnete bei ihrem letzten Wort Entenfüßchen in die Luft. „Sogar auf die mir zustehenden.“ Betont milde lächelte sie, zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

„Ich verstehe nicht ganz. Wieso? Du hast doch bis vorige Woche um jeden Cent gestritten. Ist es, weil du mein Elternhaus nicht kriegst?“

„Ach, komm. Das hab ich doch nur gesagt um dich zu ärgern. Wer will schon dieses alte Haus? Werde doch glücklich damit. Ich habe alles schon geplant. Ich ziehe nach unserer Scheidung zu meiner Schwester nach Spanien, brauche also deinen ganzen Krempel überhaupt nicht. Aber Theo würde ich gerne mitnehmen. Er gehört schließlich nicht nur dir. Wir haben ihn gemeinsam zu uns geholt, falls du dich noch daran erinnerst, mein Lieber.“

„Im Adoptionsvertrag steht aber mein Name.“ Seine Augenbrauen zogen sich unwillkürlich zusammen, die Ader auf seiner Stirn pochte. Er hasste es, wenn er so reagierte. Regina brauchte ihn nur anzusehen, und sie wusste, wie es um ihn stand.

„Otto, Theo ist doch nur ein Hund. Du kannst dir einen anderen aus dem Tierheim holen.“ Sie lächelte zuckersüß.

„Nur ein Hund? Nur ein Hund?“ Seine Stimme überschlug sich beinahe. Die anderen Gäste reckten ihre Hälse. Empörte Blicke wegen der mittäglichen Ruhestörung und aufgeregtes Murmeln waren die Folge seines Ausbruches. Besänftigend hob er die Hände und deutete eine Verbeugung in sämtliche Richtungen an. Das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war, sich in der Öffentlichkeit zu streiten. Er durfte nichts tun, was ihr bei der Scheidung in die Hände spielte.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen …“

„Warum um Teufels Namen holst DU dir nicht einfach einen anderen Hund? Wieso möchtest du unbedingt Theo?“

„Dasselbe habe ich eben zu dir gesagt, mein Lieber.“ Freundlich lächelte sie ihn an.

Sie beobachtete wie er an seinem Hemdkragen zerrte. Jetzt hatte sie ihn genau da wo sie ihn haben wollte. Aufgebracht, polternd und am Rande eines Herzinfarkts. Ein Riese von einem Mann, der wegen eines kleinen Hundes jämmerlich einknickte und vor Verzweiflung am liebsten losgeheult hätte. Insgeheim kicherte sie in sich hinein. Er war so herrlich einfach gestrickt, so berechenbar. Ihn zu manipulieren bereitete ihr eine Mordsfreude.

„Niemals. Nur über meine Leiche“, keuchte er mit hochrotem Gesicht. „Theo ist alles für mich.“ Er griff sich an die Brust. „Du miese kleine …“ Er röchelte.

„Ja, ja. Aber hier trink erst einmal einen Schluck Wasser. Du kriegst ja noch einen Herzinfarkt, wenn du so weitermachst. Ich weiß, Theo erinnert dich an deinen Strolchi aus Kindheitstagen, der für dich gestorben ist, indem er dich von der Straße weggezogen hat, um dich vor einem Auto zu retten. Aber Theo ist nicht Strolchi. Hol dir einen ähnlich aussehenden Hund und gib mir Theo. Dann siehst du mich nie wieder.“

Er griff mit zitternden Händen nach dem Glas, stürzte den Inhalt hinunter. Dann nestelte er eine Packung Tabletten aus seiner Jackentasche. „Los, gib mir noch ein Glas Wasser.“ Sie füllte das Glas nach und sah ihm zu, wie er zwei Tabletten aus der Schachtel nahm und mit dem Wasser einnahm. „Niemals! Du kriegst Theo niemals. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen! Er sprang auf, der Stuhl kippte polternd zu Boden. „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, meine Liebe.“ Als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte er aus dem Lokal. Entschuldigend nickte Regina in die Runde. Mitfühlende Blicke streiften sie. Regina deutete dem Kellner, die Rechnung zu bringen.

„Nicht doch, meine Liebe. Ich übernehme das für Sie. Dieser Rüpel hat sie doch tatsächlich mit der Rechnung sitzen gelassen, Menschen gibt`s.“ Der Herr vom Nebentisch gab dem Kellner ein Zeichen, alles auf seine Rechnung zu schreiben.

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen.“ Regina nickte höflich und verließ hocherhobenen Hauptes das Restaurant.

„Was haben wir?“ Major Stettel von der Mordkommision stopfte sich den Rest seiner Leberkässemmel in den Mund und schaute seinen Kollegen Meierhofer, der bereits in einem kleinen Park auf ihn wartete, erwartungsvoll an.

„Gute Frage. Männliche Leiche, Mitte fünfzig, keine äußeren Verletzungen. Gefunden wurde er von der Dame dort drüben. Anfangs dachte sie, er schlafe hier seinen Rausch aus. Als sie ihn nicht wachbekam, hat sie sofort die Rettung und die Polizei verständigt.“

„Und wieso bin ich hier?“ Stettel dachte an die zweite Leberkässemmel im Auto, die er noch gerne gegessen hätte, solange der Leberkäse noch heiß war.

„Weil es auch dein Job ist, hier zu sein. Fürchtest du dich neuerdings vor Tatorten?“

„Quatsch. Aber ein Toter ohne jegliche Gewaltanwendung kann auch bis morgen auf mich warten. Oder schaffst du den nicht alleine? Was sagt denn unser Medikus?“

„Erst wenn der Mann auf seinem Tisch war, kann er mehr sagen.“

„Also wie immer. Gut, dann geh ich wieder zu meiner Leberkässemmel.“

Seufzend sah ihm Meierhofer nach. Stettel war der unmotivierteste Kollege, mit dem er jemals zusammengearbeitet hatte. Welch ein Glück, dass Stettel in drei Wochen in Pension ging.

„Meine Lieben, der Doc sagt, Euer Toter vom Park hatte es mit dem Herzen. Möglich, dass er wegen der Herzattacke panisch wurde und sich zu viele Medikamente eingeschmissen hat. Ihr wisst ja, wenn das Herz rast, sich vielleicht sogar der Hals zuschnürt und man nach Luft schnappt …Aber das müsst ihr herausfinden.“ Inspektor Gruber legte einen Akt auf Meierhofers Schreibtisch.

„Also nix mit Mord. Wie ich es mir ja gleich gedacht habe.“ Stettel grinste selbstgefällig.

„Zumindest auf den ersten Blick, sagt der Doc.“ Gruber stibitzte sich einen Keks von Stettels Schreibtisch. „Ich soll dir übrigens ausrichten, dass du deinen Leberkässemmel-Konsum ein wenig einschränken sollst, deine Blutfette sind nicht gerade ohne.“

„Was zum Teufel gehen dich meine Blutfette an? Hat der Doc nicht so was wie Verschwiegenheitspflicht?“, grantelte Stettel. „Da bittet man ihn um eine Kleinigkeit, und der macht das gleich in der ganzen Abteilung publik.

„Selber schuld, wenn du in die Patho gehst statt zum Hausarzt.“ Meierhofer schüttelte missbilligend den Kopf.

„Ich wollte doch nur Elvira beweisen, dass alles in Ordnung ist.“

„Oh, hat die Frau Gemahlin bemerkt, dass du von ihrer gesunden Jause nicht so zugenommen haben kannst und Euer Hausarzt ihr das stecken könnte?“, feixte Gruber.

Meierhofer griff nach seiner Jacke. „Du, ich möchte trotzdem nochmal mit der Frau von unserem Toten reden. Die hat das doch sehr gefasst aufgenommen, das mit seinem plötzlichen Tod. Findest nicht auch?“

„Die leben schließlich getrennt, wollten sich scheiden lassen. Warum sollte sie sein Tod da noch erschüttern? Hat sie nicht gesagt, dass sie nach der Scheidung zu ihrer Schwester nach Spanien ziehen wollte?“

„Hat sie. Aber was heißt das schon?“

„Frau Bogner, Ihr Mann hatte es mit dem Herzen?“ Meierhofer zückte Bleistift und Notizblock und sah sie erwartungsvoll an. Stettler seufzte insgeheim. Dass Meierhofer immer so eine Getue veranstalten musste. Der guckte echt zu viele Krimis im Fernsehen.

„Ja, das sagte ich Ihnen ja schon. Und auch, dass er sich bei unserem Gespräch furchtbar aufgeregt hat. Es war eine derart peinliche Situation, einfach nur furchtbar.“

„Wir haben im Lokal nachgefragt. Ihre Aussage wurde uns bestätigt. Aber nochmals, nur damit ich es auch verstehe: Ihr Mann hat sich wegen ihrem Hund Theo so aufgeregt?“

„Ja. Ich wollte Theo mitnehmen ins sonnige Spanien. Das hat ihn total aufgebracht. Plötzlich wollte er den Hund behalten und mir im Gegenzug sogar sein Elternhaus überschreiben. Aber der Herr vom Nebentisch hat das ja alles mitangehört. Leider.“

„Nun, das mit Theo hat er mitbekommen. Aber ob ihr Mann ihnen das Haus überschreiben wollte, konnte er nicht bestätigen. Obwohl die Worte Haus und Vermögen gefallen sind, sagt er. Auch hat er gesehen, dass ihr Mann etwas einnahm.“

„Ja, auch das sagte ich Ihnen schon. Seine Medikamente. Aber was wollen Sie jetzt von mir?“

„Laut ihrem Hausarzt Doktor Pichler war ihr Mann doch schon seit zehn Jahren krank und wusste genau umzugehen mit seinen Medikamenten. Wieso also hat er sich dieses Mal wohl bei der Dosierung vertan?“

„Sie fragen mich das im Ernst? Ich meine, ich war doch nicht ständig bei ihm. Woher soll ich das denn wissen?“ Regina zog ihre Augenbrauen derart hoch, dass Stettler befürchtete, sie würden ihr am Haaransatz kleben bleiben.

„Wer alles hatte Zugang zu den Medikamenten?“ Meierhofer ließ nicht locker. Stettler verfluchte ihn dafür. Er könnte jetzt friedlich im Büro bei einem Kaffee sitzen und sich im Internet die Wiederholung des gestrigen Fußballspieles ansehen, welches er versäumt hatte. Er hatte extra keine Zeitung gelesen und keine Nachrichten gehört, damit er das Ergebnis nicht kannte. Aber nein, sein Herr Kollege musste ja nachfragen. Wenn der sich wo festgebissen hatte, gab es kein Erbarmen.

„Auch das kann ich Ihnen nicht sagen, da ich bereits seit Wochen nicht mehr im Haus wohne. Ich hatte doch nicht einmal mehr einen Schlüssel dafür.“

„Aber sie wollten doch gar nichts, sagten sie.“

„Ach du meine Güte. Haben Sie sich noch nie getrennt? Da sagt und tut man Dinge, die man gar nicht so meint und im Prinzip auch gar nicht machen möchte. Hören Sie, wenn Sie mich jetzt nicht bald in Ruhe lassen, rufe ich meinen Anwalt an. Ich fühle mich schikaniert.“ Sie verschränkte die Arme und schaute ihn böse an.

„Wann fliegen Sie nach Spanien?“ Stettler wollte das Thema wechseln. Auch ihm ging Meierhofer mittlerweile gründlich auf die Nerven.

„Ich weiß es noch nicht. Es gibt noch so viel zu erledigen. Die Beerdigung und die Verlassenschaftsangelegenheiten. Keine Ahnung.“

„Sie wandern also trotzdem noch aus?“ Meierhofer konnte es einfach nicht lassen.

„Ich weiß es noch nicht. Würden Sie jetzt bitte gehen?“

„Eine Frage noch“, Meierhofer kratzte sich am Kopf. „Was wollte Ihr Mann wohl in dem Park?“

„Vielleicht sich beruhigen, was weiß ich! Wahrscheinlich ist er rausgerannt aus dem Restaurant und hat sich dort auf diese blöde Bank gesetzt, um sich zu beruhigen.“

„Was war das gerade? Wieso schikanierst du die Frau so? Ich meine, wie soll die Schuld am Tod ihres Mannes sein? Indem sie mit ihm gestritten hat?“, giftete Stettler, kaum dass sie vor dem Haus standen.

„Da stinkt doch was. Ich mein, die bestellt ihn in dieses schicke Lokal, streitet mit ihm, und dann fällt der einfach tot um?“ Meierhofer schüttelte den Kopf. „Das stinkt, sag ich dir.“

„Nein, er ist gestorben, weil er sauwütend war und sich dadurch sein Zustand derart verschlechterte, dass er in Panik zu viele Medikamente zu sich nahm. Das ist ein großer Unterschied, mein Lieber. Nicht alle Witwen haben ihre Männer umgebracht.“

Am Tag der Beerdigung beobachtete Meierhofer griesgrämig aus einiger Entfernung  die Trauerzeremonie. Es ärgerte ihn maßlos, dass der Leichnam trotz seines Protestes freigegeben worden war. Stettler, dieser verfressene Faulpelz, hatte dem Staatsanwalt bestätigt, dass es keinerlei Indizien für einen gewaltsamen Tod gab. Die Witwe veranlasste natürlich sofort eine Feuerbestattung. Hätte er auch gemacht an ihrer Stelle. Einen verdammten Tag mehr hätte es gebraucht, und dieser Vollpfosten wäre in die Pension verabschiedet gewesen. Meierhofer schüttelte verärgert den Kopf.

Erleichtert und mit sich zufrieden stieg Regina vor ihrem Haus aus dem Taxi. Mit dem Wissen, wie es um Otto stand, war alles ein Kinderspiel gewesen. Aufregungen taten ihm nicht gut. Aufregungen am laufenden Band waren mittlerweile lebensbedrohlich für ihn. Ihn zu ärgern war nicht schwer gewesen. Otto kochte schon immer leicht über, geriet wegen Kleinigkeiten in Rage. Ihn dann auf diesem Level zu halten, war das reinste Kinderspiel, je länger sich die Scheidungsgeschichte hinzog. Theo ins Spiel zu bringen, war ihr Meisterstück. Niemals hätte er freiwillig auf seinen geliebten Hund verzichtet. Niemals! Sie grinste zufrieden und schloss die Tür auf.

„Frau Bogner?“ Eine Männerstimme brachte sie zum Innehalten. Langsam drehte sie sich um. Es war der nette Mann aus dem Restaurant, der ihre Rechnung übernommen hatte.

„Ja?“ Misstrauisch beäugte sie ihn.

„Ich denke, wir haben einiges zu bereden.“

„Wir? Ach, wegen der Rechnung vom Restaurant? Wollen Sie das Geld zurück?“

„Geld will ich schon, aber nicht für die Restaurantrechnung. Das wäre doch unehrenhaft, das Geld jetzt von Ihnen zurückzuverlangen, finden Sie nicht auch?“

„Aber, was wollen Sie denn dann von mir?“

„Nun, ich habe alles gesehen. Sie wissen schon, die Tabletten in der Wasserkaraffe, die Sie dann nach all der Aufregung aus Versehen umgeschüttet haben und das alles.“

Verdammt, dieser Mistkerl! Ob er bluffte? „Ich weiß zwar nicht wovon Sie reden, aber kommen Sie doch erst einmal herein.“ Regina hielt ihm freundlich die Tür auf. Nur nicht aufregen, Regina, dachte sie bei sich. Wie hat Großmutter schon immer gesagt? Kommt Zeit, kommt Rat. Sie lächelte und schloss die Tür hinter sich.

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MiniKrimi Adventskalender am 8. Dezember


Heute, meine Lieben, geht’s mir ans Leder. Oder das hat sich zumindest die liebe M. gedacht, als sie mir folgende Clues für diesen MiniKrimi geschickt hat: blutiges Tangahöschen/ weisser Rauschebart/ Kristallkugel/ Trommel/ Kirchenglocken/ Seemöwe/ hohe Nordseewellen/ Pirat(enkostüm)/ Messwein. Na, dann schau’n wir mal, ob ich daraus was aus dem Hut, nein, aus meinem Kopf zaubern kann.

Agentin Feli’s erster Fall

Ich habe lange gezögert und bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich das Richtige tue. Mein Alltag verläuft in geregelten Bahnen. Aufstehen, essen, putzen, schlafen, das Haus inspizieren, essen, putzen, schlafen, den Garten inspizieren – aber nur im Sommer, denn der Winter in diesen Breiten jagt mir beständige Kälteschauer über den Rücken. Ich lebe nun schon seit 8 Jahren in Deutschland, aber an das milde Klima meiner Heimat Mallorca erinnere ich mich noch immer mit Wehmut. Allerdings ist es das einzige, was ich hier vermisse. Wäre ich geblieben, wäre ich schon lange tot. Aber Mia hat mich gerettet und zu sich nach Hause geholt. Dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Deshalb passe ich gut auf sie auf, allein schon in meinem Interesse. Und deshalb bleibe ich bei meinem Entschluss. Immerhin habe ich berühmte Vorbilder, die es nicht nur zu Ruhm, sondern auch zu einigem finanziellen Erfolg gebracht haben. Denkt nur an die Wanze Muldoon und seine berühmte Gartendetektei. Oder an den von mir wegen der politischen Entgleisungen seines menschlichen Mitbewohners nicht besonders geschätzten Francis. Da ich selbst Ausländerin bin, bin ich da sehr empfindlich. Aber ich schweife ab.

Mia ist Schriftstellerin. Sie hat es nicht leicht. Und stellt mir und den anderen trotzdem jeden Tag ein gutes Essen hin. Und nicht etwa irgendein Billigzeug, nein! Sie informiert sich immer wieder über die beste und bekömmlichste Ernährung. Dabei übertreibt sie es manchmal zwar mit ihrer Fürsorge. Kürzlich hat sie auf einer dubiosen esoterischen Internetseite gelesen, dass Messwein stimulierend auf den Organismus alternder Katzen wirken soll, wegen der positiven psychogenen Vibrationen. Ein völliger Quatsch, natürlich. Ich habe mit dem Essen solange gewartet, bis meine Mitbewohnerin Bruna in der Küche war, und dann so getan, als sei ich kurz abgelenkt. Die Arme ist nicht die hellste Birne am Kronleuchter, aber – Achtung: Trommelwirbel – extrem verfressen. Sie hat meinen Napf in Sekundenschnelle leergefressen, Messwein hin oder her. Mia hat nicht mal bemerkt, dass Bruna den Rest des Abend tänzelnd durchs Wohnzimmer ging. Müssen die Vibrationen gewesen sein.

Aber ich schweife schon wieder ab. Verzeiht. Das ist mein erster Versuch als Geschichtenschreiberin, ich verliere noch leicht den Faden. Also: ich will euch von meinem ersten Fall – und dem ersten Erfolg – als Privatdetektivin berichten. Und das kam so:

Stop. Bevor ich besagten Fall aufschlüssele, muss ich euch erst mehr über unsere kunterbunte Hausgemeinschaft erzählen. In unserem kleinen Hexenhäuschen am Stadtrand von München leben wir zu sechst: Meine beiden älteren Schwestern Chiara und Bruna, ich, dazu ein Mafioso aus Dubai, nennen wir ihn Mischief, und seit neuestem noch ein Baby namens Pepa. Ach ja, und Mia, natürlich. Ihr gehört das Haus. Chiara und Bruna sind schon in die Jahre gekommen und, wären sie Menschen und hätten sie jemals sozialversicherungspflichtig gearbeitet, Rentnerinnen. Das heißt, die beiden haben schon immer mal wieder beim Film gejobbt, vor allem Chiara, sie hat in ihrer Jugend viel gemodelt und hatte ihr letztes Shooting noch in diesem Herbst. Statt eines Honorars hat sie drei maßgeschneiderte Mäntel bekommen, über die Mia zunächst gelacht und gesagt hatte, Chiara sähe darin aus wie in einem Piratenkostüm. Jetzt ist es Winter und Chiara besteht nur noch aus Haut und Knochen. Ohne Mantel wäre sie augeschmissen.

Das muss man sich mal vorstellen! Ein Schlittenhund im Mantel! In einem früheren Leben wäre sie mit wehendem Fell an einem einsamen skandinavischen Strand durch die Brandung gerannt, über sich kreischende Seemöven und die Gischt hoher Nordseewellen wie Diamanten im Fell! Ach ja. Traurig. Aber ihr Verstand funktioniert noch und ist scharf wie das japanische Küchenmesser, an dem Mischief sich beim Abschlecken schon mal die Zunge aufgeschnitten hat, weil es nach Lachs roch.

Ja. Also das ist unser bunter Haufen. Chiara, eine 15 Jahre alte Malamute-Dame, Bruna, ein 11 Jahre alter Dobermann-Verschnitt (das hört sie gar nicht gerne, ihr Vater sei rein und rassig gewesen, nur kleingewachsen, behauptet sie), Pepa, das vorlaute Zwegdackelmädchen und – Mischief, der Hahn im Korb. Mitten in der Pubertät, Arabic-Mau und 7 Kilo schwer, ein Kraftprotz, wie er im Buche steht, immer darauf aus, anderen eins auszuwischen und Unruhe zu stiften. Ob er Mias Hausschuhe verschleppt, den handgeknüpften Teppich aufdribbelt oder mitten in der Nacht die Haustür aufmacht und uns – theroretisch – der Gefahr aussetzt, von Mördern gemeuchelt zu werden. Ich habe zwar in Erfahrung gebracht, dass die Kriminalitätsrate in diesem Stadtteil äußerst niedrig ist, aber das binde ich Mischief natürlich nicht auf die Nase.

Achso, ihr fragt, wer ich eigentlich bin? Ja. Ich bin Feli, bin 8 Jahre alt, stamme aus Mallorca, und die Menschen nennen mich eine Glückskatze. Warum? Keine Ahnung. Aber ich weiß, dass ich das große Glück hatte, Mia zu begegnen. Sie hatte natürlich genauso großes Glück, denn was würde sie ohne mich tun? Wenn ich nicht gewesen wäre, wäre der Fall, von dem ich euch jetzt endlich berichten werde, vermutlich tödlich ausgegangen. Und wir hätten einen Störenfried weniger im Haus. Aber „psst“, das habt ihr nicht gehört!

Gut. Vorgestern war ein Tag wie jeder andere. Chiara verweigerte ihr Essen und pinkelte stattdessen aufs Parkett – warum Mia ihr nicht immer diese WIndeln anzieht, die schon ihre Mutter getragen hat, also Mias, versteh ich nicht. Bruna lag auf der Seite und knurrte unentwegt prophylaktisch, falls Pepa auftauchen sollte. Aber die war damit beschäftigt, Mischief durchs Haus zu jagen. Treppauf treppab. Hach – das sind die Momente, die ich liebe. Früher hat er das nämlich mit mir gemacht. Tja, so kann das Blatt sich wenden….

Mia saß in ihrem Zimmer und versuchte, das Seitenpensum für ihren neuen Roman zu schaffen. Es dauerte eine Weile, bis sie in Fahrt kam, aber dann fing sie an zu schreiben – udn vergaß die Zeit. Wie schön, wir alle hatten Ruhe!

So wurde es Nachmittag. Stille lag über dem Haus. Nur einmal schien es mir, als hörte ich ein Scheppern ganz oben. Vielleicht ein loser Dachziegel?

Um kurz vor sechs stand ich auf und beschloss, nach Mia zu sehen. Wenn sie so in Schreibwut ist, vergisst sie leicht, dass bei uns um Punkt 18 Uhr Abendbrotzeit ist. Und gewisse Regeln müssen einfach eingehalten werden. Dafür sorge ich. Auf dem Weg ins Arbeitszimmer begegnete mir Chiara. „Gerade wollte ich Mia holen“, sagte sie. Wer’s glaubt! Bruna schloss sich uns an. Pepa bellte, kam alleine aber nicht die Treppen hoch. Also standen wir drei vor Mias Schreibtisch und sahen sie an. Erst mal ganz still. Dann bellte Chiara kurz. „Jaja, was ist denn?“, fragte Mia. Bruna jaulte. Sie ist immer gleich so ne Heulsuse. „Bruna, ist ja gut.“ Mia starrte weiter auf den Bildschirm. Zeit, zu handeln! Kurzentschlossen sprang ich auf die Tastatur und starrte sie auffordernd an.

„Achso, ist es schon Essenszeit? Kann nicht sein, Mischief hat sich noch nicht gemeldet.“ Er ist eigentlich immer der erste, der nach Futter schreit. Und jetzt fiel es auch mir auf: ich hatte den dicken Kater den ganzen Nachmittag über nicht gesehen! Weshalb ich auch so ruhig hatte dösen können.

„Wir gehen einfach runter und fangen schon mal mit dem Essen an,“ schlug ich vor. „Wenn er das Rascheln der Tüte mit seinem Trockenfutter hört, kommt er ganz sicher angerannt.“ Ob Mia mich verstanden hatte oder nur dem gleichen Gedankengang wie ich gefolgt war, weiß ich nicht. Aber sie ging in die Küche und bereitete unser Abendessen zu. Dabei rief sie immer wieder „Mischief!, Komm, lecker lecker!“ Wie albern. Ich reagiere auf sowas gar nicht erst. Doch bei ihm klappte das normalerweise. Als wir dann aber alle um unsere Töpfe versammelt waren, war von dem roten Mafioso immer noch nichts zu sehen.

Wir aßen dann schließlich ohne ihn. Aber jetzt war Mia richtig besorgt. „Wo kann er nur stecken? Das ist noch nie passiert!“ Und hier musste ich ihr recht geben. Egal, welchen Unsinn er wieder angestellt hatte – sein Futter hatte er noch nie verpasst. Also fing auch ich an, mir Sorgen zu machen.

Mia begann mit einer systematischen Suche im ganzen Haus. Waschküche – den warmen Platz hinter der Heizung nicht vergessen! Und auch nicht den ausrangierten Wäschekorb mit den Kissen für die Hollywoodschaukel, die dort in Erwartung des nächsten Sommers vor sich hin staubten. Nichts. Unter den Betten, unter den Matratzen – dort fand Mia, das hörte ich an ihren erpörten Ausrufen, alte Kotknöllchen und ein Mauseskelett. Dann die Schränke. „Ich habe doch gar keinen aufgemacht, heute?“ Sie wühlte sich durch Wintermäntel und Daunendecken bis in die hintersten Ecken. Überall das gleiche: Spuren seiner Anwesenheit, wie etwa einen zerrissenen Wollschal, Berge zerkauter Computer- und Ladekabel („Dieses Monster, ich bring ihn um!“), Reste von Kaustäbchen, obwohl die auch von Pepa stammen konnten, sie war ja nur halb so groß wie er und folgte ihm gerne in seine geheimsten Verstecke. Aber diese Spuren hatten eines gemeinsam: sie waren alle alt.

Nach zwei Stunden vergeblicher Suche ließ Mia sich auf das Sofa fallen. „Es ist wie vom Erdboden verschluckt. Wo kann er nur sein?“

Ich war Mia die ganze Zeit gefolgt, beobachtend, darauf achtend, dass sie nichts übersah. Aber nein – auch ich hatte den Kater nicht entdeckt. Jetzt war es an der Zeit, andere Methoden anzuwenden. Da ich nichts davon halte, meditirend in einer Kristallkugel nach Lösungen zu suchen, befragte ich zunächst die Zeuginnen im Haus. Und stieß dabei auf eine Mauer des Schweigens. Weder Chiara noch Bruna oder Pepa wollten Mischief in den letzten Stunden gesehen haben. „Ich finde übrigens nicht, dass er hier sonderlich fehlt“, bemerkte Chiara. Die alte Dame hatte so manches Haarbüschel in seinen Fängen verloren. „WIr sind als reiner Frauenhaushalt doch viel besser dran“, stellte Bruna fest. Und Pepa? Die Kleine verfügte noch nicht über eine besonders ausgeprägte Beobachtungsgabe. „Keine Ahnung. Also das letzte Mal habe ich ihn gesehen, als ich mir sein Kaustäbchen ausleihen wollte. Da ist er wie der geölte Blitz in den Flur gerannt und ab durch die Katzenklappe.“

Moment mal, da hatte Mia noch gar nicht nachgesehen. Eigentlich ist der Kate rnämlich zu dick, ehm, zu groß, um sich durch die Klappe zu zwängen, und ruft immer nach Mia, wenn er raus will. Aber wie sollte ich sie dazu bewegen, das nachzuholen? Da kam Chiara ins Spiel. „Auf dich hört sie am meisten. Sag ihr, dass du piseln musst. Dann rennt sie sofort mit dir raus. Und dann schaust du dich um. Bitte!“ „Na gut“, meinte Chiara. Auch, wenn sie Mischief nicht besonders mochte, legte sie doch Wert darauf, ihre Rolle als Rudelchefin zu betonen. Gesagt, getan. Als sie nach einer Viertelstunde wieder ins Haus kamen, wartete ich schon ungeduldig. „Und?“ „Du hattest recht, ausnahmsweise“, sagte sie. „Draußen vor der Tür roch es irgendwie seltsam. Nach Mischief, aber so, wie er riecht, wenn er Angst hat“.. Ich hatte noch nie bemerkt, dass der Kater so ein Gefühl überhaupt kannte. „Und dann auch fremd. Nach einem fremden Menschen. EInem Mann.“ „Und? Ist das alles?“ Ich war enttäuscht. Hier kamen immer mal Fremde her. Der Gärtner, der Schornsteinfeger. Allerdings nicht in den letzten paar Stunden. Aber wie zuverlässig war der Geruchssinn einer uralten Dame? Litten die nicht alle unter Anosmie? „Nein, das ist natürlich nicht alles“, triumphierte Chiara. „Auf dem Boden vor der Haustür lag ein Stück Papier. Braun, sah aus wie ein Blatt. Mia hätte es übersehen. Aber ich habe dran rumgekaut, da hat sie es mir weggenommen. Und es stand was drauf.“ „WAS?“ „Keine Ahnung, ich kann Menschenschrift nicht lesen.“

Wie enttäuschend. Ich auch nicht! Was nun? Aber da kam Mia wieder ins Zimmer. Setzte sich mit dem Stück Papier – es sah aus wie ein abgerissener Streifen einer Brottüte, und es roch auch so – aufs Sofa, und ich daneben. Ich kenne meine Mia. Wenn sie nicht weiterweiß, fragt sie immer uns um Rat. Ihre besten Freundinnen. „Chiara, Feli, das ist furchtbar. Hier steht:

Ihr Kater hat nun zum wiederholten Mal in meinen Garten gekackt. Gekackt. Wie vulgär! Jetzt reicht es mir. Ich habe ihm einen Denkzettel verpasst, von dem er sich so schnell nicht erhoien wird. Und wenn er überlebt, dann bringe ich ihn das nächste Mal ganz sicher um.

Typisch. Ohne Unterschrift. Der arme Mischief. Wer weiß, was er mit ihm gemacht hat! Wenn er verletzt ist, hat er sich bestimmt verkrochen. Und wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden, verblutet er vielleicht. Oder erstickt. Oder…. „

Chiara und ich sahen uns an. WIr mochten den einfältigen Kater nicht besonders. Aber den Tod wünschten wir ihm deshalb noch lange nicht. Jetzt hieß es konzentiert nachdenken.

Und genau das tat Agentin Feli. Ich ließ die letzten Stunden Revue passieren. War mir irgend etwas aufgefallen? Etwas Außergewöhnliches? Dann fiel es mir ein: ich hatte ein Geräusch gehört. Irgendwo oben. Vielleicht auf dem Dach.

Das Dach! Der Nachbar hatte einen alten Kastanienbaum, dessen Äste in unseren Garten hinüberwuchsen. Mia hatte damit kein Problem, sie erntete die Nüsse, die zu uns runterfielen, und aus den Blättern kochte sie Tee. Igitt. Aber bitte. So weit, so gut. Ich hatte einen Anhaltspunkt. Aber wie brachte ich Mia dazu, auf den Dachboden zu gehen? Dort hatte sie nicht mal gesucht, denn der Zugang war von innen für den Kater unerreichbar, und er war dort noch nie gewesen.

Ich begann, zu miauen. Lauter und lauter. Bis ich Mias Aufmerksamkeit hatte. Dann sprang ich vom Sofa und ging zur Treppe. Chiara hinterher. Ich miaute, sie bellte. Schließlich fiel bei Mia der Groschen. Menschen sind manchmal unendlich langsam! Sie folgte mir. Chiara blieb unten, Treppen sind mit ihrer Artrose nicht mehrmals am Tag zu meistern. Immer, wenn Mia zögerte, schaute ich sie intensiv an. Wozu hat man schließlich einen hypnotischen Blick?

Vor der Treppe zum Dachboden blieb ich stehen. Und rief nach dem Kater. Auch Mia fing an, ihn zu locken. Rufen. locken, Stille. Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hörten wir einen Ton. Ein Scharren. Dann ein leises Klagen. Ganz untypisch für den Mafioso. Aber vielleicht ging es ihm wirklich schlecht? Mia öffnete die Luke zum Dachboden und machte sich an der Leiter zu schaffen. „Mist, ich hab mein Handy nicht dabei. Kein Licht.“ Sonst hat sie das blöde Ding permant in der Hand. Aber zum Glück leuchtete durch die beiden Dachluken noch etwas Spätabendsonne. Ich klettere nicht gerne, aber manchmal muss man über seinen Schatten springen. Vor allem als Agentin. Ich zwängte mich also an Mia vorbei. Staub, Spinnweben, kaputte Schindeln, alte Kacheln und Bretter. Kisten mit Gerümpel, Faschingsklamotten, kaputtes Spielzeug. Was die Menschen so alles ansammeln, ohne sich trennen zu können. Ich blieb stehen. „Mischief“, flüsterte ich. „Wo bist du?“ Plötzlich kam aus der Dunkelheit ein Ungeheuer auf mich zu. Ich schrie und pralle gegen Mias Bein. Auch sie war endlich oben angekommen. Und stieß ebenfalls einen erschrockenen Schrei aus. Das Monster kam jetzt direkt auf uns zu. Unter einem Wust feuerroter Haare hing ein riesiger, schmutzigweißer Rauschebart. Und um den Körper gewickelt – ein blutiges Tangahöschen. Getränkt mit dem Blut, das aus einem Riss im buschigen Fell unseres Katers tropfte. „Mischief“, riefen Mia und ich erleichtert. Der dumme Kerl hatte sich über die Kastanie auf unseren Dachboden geschleppt und war prompt in die Kiste mit den Faschingssachen geplumpst.

Ganz benommen humpelte er auf uns zu, un in meiner Euphorie hörte ich jubilierende Kirchenglocken läuten.

„Du hast ihn gerettet“, sagte Mia später, als ich neben ihr auf dem Sofa lag. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, auf dem Dachboden nachzuschauen. Ich hatte keine Ahnung, dass man da von der Kastanie aus reinkommt.“ Naklar, wie auch, du bist ja ein Mensch, dachte ich. Die Tierärztin hatte Mischiefs Wunde verarztet und uns geraten, Anzeige zu erstatten. Der Zettel sei Beweis genug. Aber ich denke, Mischief wird in Zukunft einen großen Bogen um Nachbars Garten machen.

Und ich? Habe schon den nächsten Fall. Vorhin kam Pepa zu mir. Sie kann ihren Quietscheteddy nicht finden, ohne den sie nicht einschlafen kann. Und ich habe jetzt eine gewisse Reputation. ich bin mir fast sicher, dass Mischief dahinter steckt. Ich fange gleich an mit der Spurensuche.

MiniKrimi Adventskalender am 7. Dezember


Verlorene Träume (Auszug)

Von Sandra Halbe

Prolog

Nie hätte ich gedacht, dass dieses Lied mich so sehr bewegen würde. Hunderte, wenn nicht tausende Male habe ich es ge­hört, in den ver­schiedensten Varianten. Immer klingt es gleich. Und dann auch wie­der nicht.

Als ich auf diese Version gestoßen bin, waren all die Bilder auf ein­mal zu­rück. Alles, was ich jahrelang verdrängt habe. Nicht ver­gessen, nein. Ich erin­nere mich an jene Nacht, als wäre sie gestern gewesen, an jedes Detail. Nur wollte ich meine Erinnerungen nicht. Diese Ge­danken an all das, was da­mals passiert ist. Also sperrte ich sie aus.

Bis ich dieses Lied hörte. Nach all den Jahren.

Die erste Zeile von »The Sound of Silence«. Worte, die ich schon so oft ge­hört habe. Und doch waren sie auf einmal neu.

Ein Hallo an die Dunkelheit. Die Dunkelheit, mein Freund? Ist das mög­lich?

Ich erinnere mich an unsere Zeit hier. Die Abende, an denen wir gefeiert, gelacht und getanzt haben. Dieser Ort bedeutete uns alles. Mein Klavier, auf dem du dieses Lied so oft gespielt hast. Die Weih­nachtsdekoration darauf, die wir so liebevoll ausgesucht hatten. Ob­wohl wir bereits wussten, dass dies das Ende sein würde. Diese Endgültigkeit, als ich zum letzten Mal das Licht aus­schal­tete. Die­ses Gefühl, als ich zum letzten Mal den Schlüssel im Schloss he-rumdrehte.

Es war vorbei. Für immer. Und obwohl ich es wusste, konnte ich es nicht begreifen.

Denkst du noch daran? An diesen Moment, der alles än­derte?

Denkst du noch an mich?

Ich werde dafür sorgen, dass du dich wieder erinnerst.

1

Sonntag

»Wir könnten ihn da hinstellen.«

»Wo?«

»Na, da!«

»Ist er da nicht zu nah am Kamin?«

»Was interessiert mich der Kamin?«

»Wir zünden ihn momentan gerne an. Wenn du ihn so nah ran stellst, wird der Weihnachtsbaum schnell trocken. Dann wäre er nach ein paar Tagen nicht mehr zu gebrauchen und wir könnten ihn schon vor dem sechsten Januar zu Brennholz ver­arbeiten. Wäre doch schade, oder?« Alex sieht mich ab­wartend an.

»Die paar Tage hält der das schon aus. Weihnachten dau­ert ja nicht ewig.«

»Lassen wir ihn nicht die ganze Adventszeit stehen?«

Ich überlege. »Bei uns zu Hause wurde der Weihnachts­baum immer am 23. Dezember aufgestellt.«

»Und bei meiner Familie am ersten Advent. Jetzt entschei­den wir, wie wir es in unserem Zuhause handhaben.« Alex zieht mich an sich.

»Ich hätte nie damit gerechnet, wie viel man entscheiden muss, wenn man zusammenzieht.« Ich schüttele den Kopf.

Ein paar Monate ist es jetzt her, dass ich zu Alex in sein klei­nes Haus Am Birkenstrauch in Bad Laasphe gezogen bin. Ein Haus, das schon fix und fertig eingerichtet war. Wir mussten keine Küche aussuchen, kein Bad renovieren … Okay, letzteres kommt irgendwann auf uns zu, aber zumin­dest momentan ist davon keine Rede. Alles in allem war der Ein­zug schnell erle­digt. In den Wochen zuvor hatte ich den Großteil meiner Sa­chen bei Alex untergebracht. Eine eigene Zahnbürste und mein Sham­poo im Badezimmer. Kleidung im Kleiderschrank. Hier ein Bild an der Wand, dort eine Lampe für die Kommode. Am Ende fuhr ich in die Ost­preu­ßenstraße zu meiner Mutter und packte das, was in meinem alten Kinderzimmer noch übrig war, in einen Koffer, den ich bei Alex ein paar Straßen weiter wieder auspackte. Klingt ein­fach, oder?

Obwohl mein Einzug bei Alex ein mehr oder minder schlei­chender Prozess war, war es doch etwas anderes, als ich plötz­lich meinen eige­nen Schlüssel hatte und klar war: Die­ses Haus ist jetzt auch meins. Ir­gendwie. Meiner Meinung nach gehörte ab diesem Zeitpunkt das Brot nicht mehr in den Kühlschrank, wo Alex es lagerte. Er wiederum be­schwerte sich, dass ich meine Schuhe mitten im Flur liegen ließ, wo ich sie nach der morgendlichen Laufrunde auszog. Jahrelang hatte Alex sämtli­che Wäsche in den Trockner geworfen, ob das Etikett auf dem Kleidungsstück das zuließ oder nicht. Wollten wir das für meine Kla­motten riskieren oder ab jetzt alles zum Trocknen auf den Wäschestän­der hängen? Wer be­kam wie viel Platz im Ar­beitszimmer, um den Pa­pierkram zu erledigen? Und die Dis­kussionen, die wir darüber führten, wie die Fächer im Bade­zimmerschrank verteilt werden … Sa­gen wir: Zu­sammenziehen ist eine Sache. Zusammenwohnen doch eine andere.

Nun sind wir beim Weihnachtsbaum angekommen.

»Hattest du hier schon mal einen Weihnachtsbaum?«, will ich wis­sen.

Alex schüttelt den Kopf. »Ich hab Weihnachten entweder ge­arbeitet oder bei meiner Familie verbracht.«

»Und jetzt willst du direkt einen über die ganze Advents­zeit aufstel­len?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ich arbeite unsere Dienst­pläne für Weih­nachten erst in den nächsten Tagen aus. Aber ob die dann so bleiben, werden wir sehen. Du weißt ja, dass es jeder­zeit einen neuen Fall geben kann. Falls wir beide Weihnachten auf dem Präsidium verbringen, ha­ben wir we­nigstens an den Abenden davor etwas von unserem Baum.«

Damit hat er nicht unrecht. Was bringt uns ein Weih­nachts­baum, der eine Woche steht, wenn wir kaum zu Hause sind oder abends, wenn es dunkel ist und wir die Lichter an­zünden könnten, direkt ins Bett fallen?

»Ich finde trotzdem, dass er sich im Wohnzimmer am bes­ten machen würde«, beharre ich. »Hier verbringen wir die meiste Zeit, wenn wir dann mal zu Hause sind. In der Küche brauche ich keinen Weihnachts­baum.«

»Natürlich kommt der Baum ins Wohnzimmer, ich rede nicht von einem anderen Raum. Aber wir könnten über einen Standort weniger nah am Kamin nachdenken.«

Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. »Ohne die Möbel umzustellen?«

»Wir brauchen ja keinen riesigen Baum. Wie wäre es denn mit …«

In diesem Moment klingelt Alex’ Handy. Bei seinem Blick aufs Dis­play spare ich mir jeden weiteren Kommentar zum Thema. Unsere Dis­kussion, wo und für wie lange wir den Weihnachtsbaum aufstellen wer­den, müssen wir auf später verschieben.

Das Buch gibt es überall, wo es Bücher gibt. Infos zu Sandra Halbe und ihren Büchern gibt’s auf www.sandra-halbe.de oder auf Instagram unter sandra_halbe.

2

Stünzel ist der kleinste Ort, der zu Bad Berleburg gehört. Je­des Jahr im Juni findet hier auf dem Festplatz die Kreistier­schau, das Stünzelfest, statt. Dass hier an jenem Wochenende 25.000 Besucher feiern, ist jetzt, im November, nicht zu sehen, und so haben wir kein Problem, einen Parkplatz zu bekom­men. Kran­kenwagen und Notarzt sind bereits ein­getroffen. Ich notiere mir schnell die Nummernschilder der beiden üb­ri­gen Autos, die hier geparkt sind, und stolpere dann hinter Alex her, der zügig in Richtung Wald vorangeht. In den letz­ten Tagen hat es viel geregnet, sodass der Boden stellenweise matschig ist. Auch geschneit hat es vor ein paar Wochen schon einmal, hier und da sind noch Reste von Schnee zu se­hen. Immer wieder sinken meine Füße ein, und so komme ich nur langsam voran. Ein paar Meter vor mir höre ich Alex leise fluchen. Ihm geht es offenbar nicht anders.

Endlich kommen wir auf der Lichtung an. Mein Blick fällt auf ein winziges Gebäude, das in den Wald hineingebaut ist. Die Tür steht sperrangelweit offen, auf dem Dach ist ein klei­ner Holzzaun ange­bracht. Ein alter Rübenkeller, schießt es mir durch den Kopf. Davor ste­hen der Not­arzt und zwei Sa­nitäter und winken uns zu. Ein paar Meter entfernt kniet eine Frau über etwas im Gras, das ich von hier aus nicht erkenne. Eine weitere Frau steht neben ihr, einen Terrier angeleint zu ihren Fü­ßen. Alex geht auf den Rübenkeller zu, ich steuere die beiden Frauen an.

»Caroline König von der Polizei«, weise ich mich aus. »Kön­nen Sie mir sagen, was hier passiert ist?«

»Wiebke Schneider«, stellt die Frau mit dem Hund sich vor. »Ich bin hier mit meinem Rocky spazieren gegangen, wie jeden Sonntag. Da hin­ten hab ich die Frau liegen sehen. Sie hat nicht auf meine Rufe reagiert, nur leise gestöhnt. Ich wollte ihr hel­fen, aber ihr dummer Hund hat mich nicht zu ihr gelassen, also hab ich einen Krankenwagen gerufen.«

»Ihr Hund hätte vermutlich nicht anders reagiert«, mischt sich die Frau ein, die vorher auf dem Boden gekniet hat. Vor ihren Füßen steht eine Transportbox, in der ein zweiter Hund leise knurrt.

»Was ist mit ihm?«, frage ich.

»Ich habe ihn da hinein verfrachtet, so beruhigt er sich. Ich bin An­drea Klein vom Ordnungsamt. Die Kollegen vom Ret­tungsdienst haben mich gerufen, damit ich ihnen einen Weg zu der Frau verschaffe.«

»Hätte man da nicht einen Tierarzt rufen müssen, um ihm ein Beru­higungsmittel zu spritzen?«, wundert sich Wiebke Schneider.

»Nein, in solchen Fällen ist das Ordnungsamt zuständig. Ein Tierarzt kennt den Hund auch nicht zwingend und weiß nicht, auf welche Mittel er allergisch reagiert. Deswegen kommen wir mit einem langen Stock, an dem eine Schlinge be­festigt ist, und verfrachten den Hund in eine Transport­box.« Sie zeigt auf die Box, aus der mittlerweile nur noch ein leises Winseln kommt. »So ist kein Medikament nötig. Hunde sind für ihren stark aus­geprägten Beschützerinstinkt bekannt. Wenn das Frau­chen wehrlos am Boden liegt, kommt dieser zum Vorschein. Das ist lei­der nicht immer ideal, weil so auch Helfer vom Opfer fern­gehalten wer­den.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hab mir mal das Sprungge­lenk gebrochen, mitten im Wald. Als ich da lag, haben Spa­ziergänger ver­sucht, mir zu helfen. Keine Chance. Mein Hund hat sie nicht gelassen, obwohl ich bei Be­wusstsein war und ihm immer wieder versichert habe, dass es okay ist, wenn diese Leute mir nahekommen. Erst als mein Le­bensge­fährte auftauchte, hat Joy sich beruhigen lassen und man kam an mich heran, um mir zu helfen. Diese Frau konnte sich nicht verständi­gen, sodass die Reaktion ihres Hundes nach­voll­ziehbar ist. Ihr Hund hätte nicht anders reagiert.«

Hat die Frau während ihrer Ausführungen nur einmal Luft geholt? Ich staune. »Was passiert jetzt mit dem Hund?«, frage ich und wappne mich für den nächsten Redeschwall.

»Ich bringe ihn zum Hof Birkefehl und hinterlege den Stand­ort bei Tasso. Das ist eine zentrale Datenbank, in der Be­sitzer nach vermissten Tieren suchen können. Vielleicht kommt die Frau ja wieder auf die Beine. Dann weiß sie, wo sie ihren Lieb­ling abholen kann.«

Ich sehe in Richtung Rübenkeller. Die beiden Sanitäter und der Not­arzt stehen ein paar Meter abseits, während Alex wild gestikulierend mit seinem Handy Verstärkung anfor­dert.

»Davon sollten wir wohl nicht ausgehen«, murmele ich.

Den Roman gibt es überall, wo es Bücher gibt. Infos zu Sandra Halbe und ihren Büchern gibt’s auf www.sandra-halbe.de oder auf Instagram unter sandra_halbe.

MIniKrimi Adventskalender am 1. Dezember


Die Mischung macht’s

Julius

„Ich weiß wirklich nicht, was er hat,“ denkt Julius. Mit „er“ meint er seinen Partner, Max. Eigentlich ist er mehr als sein Partner. Er ist sein bester Freund. Einer, mit dem Julius durch dick und dünn geht. Für den er sogar sein Leben riskieren würde. Wahrscheinlich. Deshalb schmerzt die Kluft, die sich seit zwei Wochen zwischen ihnen aufgetan hat, so sehr. Um so mehr, als Julius nicht wirklich versteht, welches Problem Max mit ihm hat.

„Du hast dich Bella gegenüber nicht nur falsch verhalten, du hast sie in eine furchtbare Lage gebracht, eine, aus der sie nie wieder rauskommt. Das ist unverzeihlich!“ Noch nie hat Max ihn so angeschrien. Julius ist verstört. Zunächst hat er versucht, seinen Partner zu beschwichtigen. Mit den üblichen Tricks, von denen er eine ganze Menge auf Lager hat. Schuldbewusster Blick. Stummes Nicken. Dann, nach einer angemessenen Pause, ein freundlich kumpelhafter Stups. Eine hoffnungsvolle Aufforderung: „Ok. Du bist sauer. Aber sind wir jetzt wieder gut? Beste Freunde?“

„Nein, Julius, so leicht kommst du mir diesmal nicht davon. Lass mich einfach mal in Ruhe. Ich muss nachdenken. Darüber, wie es mit uns weitergeht.“ Dieses Nachdenken dauert nun schon fast zwei Wochen. Julius schleicht durch’s Haus wie ein Schatten seiner selbst, auf Schritt und Tritt bemüht, Max nicht noch mehr zu verärgern. Das Schlimme ist: er weiß eigentlich gar nicht, warum Max sich so aufregt.

Ja. Er hat sich in Bella verliebt. Und sie sich in ihn. Die beiden kennen sich seit ihrer Kindheit. Aber jetzt sind sie erwachsen. Und da ist es halt passiert. Es gehört doch dazu, zum Leben. Gut, dass Bella gleich schwanger werden würde, damit hat Julius nicht gerechnet.  Um ehrlich zu sein, hat er keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, in der Hitze des Augenblicks.

Und jetzt? Abtreiben kommt offenbar nicht in Frage. Und selbst wenn – Bellas Zukunft ist durch diese Schwangerschaft kompromittiert. Ihr ganzes weiteres Leben ist in Frage gestellt. Sagt Max. „Das ist mir zu hoch“, denkt Julius.

Und überhaupt: Im Grunde ist es ja nicht einmal sein Problem, sondern das von Bella und ihrer Familie.

„Julius? Komm, wir gehen raus. Ich halte das hier nicht mehr aus. Weißt du was? Wir gehen auf die Jagd. In zehn Minuten sind wir an der Lichtung. Genau die richtige Zeit, uns einen Hasenbraten zu schießen. Was meinst du?“ Was Julius meint? Er ist begeistert. Draußen hängt die Nacht noch zwischen den Bäumen, und die Gebäude des Hofs sind nicht mehr als dunkle Umrisse in der taugrauen Luft. Wie spät ist es? Drei, vier Uhr? Egal, Julius ist hellwach, er hat ohnehin einen leichten Schlaf. Auf die Jagd! Mit Max. Seinem Partner. Seinem Freund. Hat er sich endlich beruhigt? Wird jetzt wieder alles so wie früher?

Auf dem Weg über den Bach und den kleinen Hügel hinauf redet Max unablässig leise vor sich hin. Julius weiß nicht, ob das Gespräch überhaupt für seine Ohren bestimmt ist. „Der spinnt ja total! Fünfzig Tausend Euro! Um Bellas Zukunft abzusichern. Schmerzensgeld, sozusagen. Der Karl hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Und wie der geschaut hat, als ich im auf den Kopf zugesagt habe, wo er sich seine Forderung hinschmieren kann.“

Jetzt sind sie am Rand der Lichtung angelangt. Sie müssen sich beeilen, denn bald ist die Nachtzeit vorbei und das Schießen verboten. Da – ein Schatten löst sich von den Bäumen. Julius versucht, Max darauf aufmerksam zu machen. Aber der hat nur Augen für den Hasen, der mitten in der Lichtung sitzt. Er hebt die Flinte. Es fällt ein Schuss. Max sackt lautlos in sich zusammen. „Julius, lauf heim, schnell,“ flüstert er. Und genau das tut Julius, während rechts und links die Schrotkugeln an ihm vorbeizischen. Aber er ist zu schnell. Und entkommt.

Max

Max ist mit Weimeranern aufgewachsen. Schon sein Vater hat sie gezüchtet. Ausgezeichnete Jagdhunde. Treu und pflichtbewusst. Julius ist sein 10. Hund. Aber zu keinem hatte er ein solches Verhältnis wie zu Julius. Obwohl er erst ein Jahr alt ist, übertrifft er alle seine Vorgänger. Er ist klug, verständig, dabei zuverlässig und zärtlich. Julius würde für Max durchs Feuer gehen. Und umgekehrt. Die Menschen, die Hunden jegliche Intelligenz absprechen, haben einfach keine Ahnung. Oder keine Erfahrung.

Um so größer war die Enttäuschung, als Julius eines Abends einfach vom Hof lief und erst am nächsten Morgen wiederkam. Ausgerechnet im Jeep von Karl Wieser, dem einzigen Nachbarn in der kleinen Oberpfälzer Gemeinde, mit dem Max immer wieder aneinandergerät. „Ich hab deinen Hund bei meiner Bella im Stall gefunden“, hat Karl geschrien. „Wenn da was passiert ist – dann gnade dir Gott. Dir und deinem geilen Köter.“ Max hat noch versucht, darauf hinzuweisen, dass Hunde besser im Haus als im Stall aufgehoben sind, zumal Hündinnen während der Läufigkeit. Aber Karl hat eine völlig andere Auffassung von Tierhaltung. Für ihn sind seine Hunde nur eins: ein Mittel zum schnellen Geld. Deshalb hat er sich aufs Züchten von Labradoodles spezialisiert. Die hypen gerade ungemein, gepuscht durch unzählige „lustige“ Videos in den Sozialen Netzwerken. Seit Corona will jeder einen Hund, und am besten einen, der pflegeleicht ist. Das wird den Tieren nicht gerecht, weiß Max. Aber er weiß auch, dass er damit bei Karl gar nicht erst anzufangen braucht.

Und es kam, wie es kommen musste. Bella wurde trächtig. Ein Drama! Eine Hündin, die von einem „Dahergelaufenen“ gedeckt wurde, noch dazu von einer anderen Rasse, ist für die Zucht nämlich nicht mehr verwendbar. Karl fordert Zehntausende von Max. Die der nicht zu zahlen bereit ist. Immerhin sind Labradoodle genau genommen auch nur Mischlinge. Der Streit eskalierte. Max war wochenlang wütend auf Julius. Und auf sich. Denn im Grunde genommen ist das, was nun mal passiert ist, ausschließlich seine Schuld.

Irgendwann hat sich sein Ärger auf seinen Lieblingshund, seinen besten Freund, gelegt. Irgendwann ist heute. Er ist früh aufgewacht, lange vor Sonnenaufgang. Was gibt es Schöneres, als mit seinem Julius endlich wieder gemeinsam durch die Wiesen zu streifen und dabei vielleicht auch noch einen Sonntagsbraten zu erlegen?

Auf dem Weg durch das taunasse Gras lässt Max noch einmal das letzte Gespräch – ach was, den Streit – mit Karl Revue passieren. Mitten auf dem Marktplatz. „Ich hab mein ganzes Geld in diese Zuchthündin investiert. Ich hätte Zehntausende mit ihr verdienen können. Hätte! Alles futsch! Also, entweder, du erstattest mir das, was ich wegen dir und deinem dämlichen Köter verloren habe – oder….“ „Oder was?“ hat Max gefragt. „Oder ich leg euch beide um. Dich und deinen Drecksrüden.“ „Na dann viel Erfolg.“ Und mit diesen Worten hat Max seinen Nachbarn stehengelassen, ist zu seinem Landrover gegangen und nach Hause gefahren. Zu Julius.

Max macht sich Vorwürfe. Zwei Wochen lang hat er seinen Hund sträflich vernachlässigt. Ihn bestraft dafür, dass er seiner Natur gefolgt ist. Wenn er auf jemanden sauer sein müsste, dann auch sich selbst. Der Vorwurf, den er Karl gemacht hat, trifft auf ihn ja genauso zu. Und die ganze Zeit über hat Julius seine schlechte Laune still erduldet. Hat sogar immer wieder versucht, durch die düstere Stimmung hindurch zu Max vorzudringen. „Sorry, Alter. Ich hab‘ mich total blöd benommen. Ekelhaft. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Komm, wir gehen auf Hasenjagd. Nur du und ich.“

Gesagt, getan. Jetzt streifen die beiden leise und völlig synchron über die Wiese, den Hügel hinauf. Dorthin, wo die Hasen äsen.

Da sieht er auch schon ein Prachtexemplar in Schussweite seiner .22 Hornett. Er legt an – feuert – und spürt gleichzeitig, wie Schrotkugeln in ihn eindringen. Seine Ohren sausen, seine Sicht ist getrübt. Er stürzt. Im Fallen ruft er nach seinem Weimeraner: „Julius!“ Und flüsternd: „Lauf heim, schnell.“

Ein halbes Jahr später

Die Schrotkugeln von Karl haben keine lebensgefährlichen Verletzungen verursacht. Dennoch wäre Max verblutet, wenn Julius nicht schnell genug Hilfe geholt hätte. Inzwischen sind die Wunden verheilt. Zumindest körperlich. Max sitzt auf der Bank unterm Walnussbaum in der Mitte des Hofes. Die Märzluft ist mild und frühlingsleicht. Um ihn herum tollen vier ausgelassene Welpen, während die stolzen Eltern immer mal wieder mahnend knurren, wenn das Treiben gar zu bunt wird.

Die Kleinen sind nicht nur wunderschön. Sie vereinen auf geradezu perfekte Weise die Rassemerkmale von Weimeraner und Labradoodle. Die Kaufgebot überschlagen sich, und mehr als einmal fragt sich Max, was wohl gewesen wäre, wenn Karl die Chance einer neuen Züchtung erkannt hätte, statt in blinder Wut einen Mord zu begehen. Gut, zu versuchen. Aber auch dafür sitzt er nun hinter Gitter. Und zwar für mindestens 3 Jahre. „Vielleicht schenke ich ihm bei seiner Entlassung einen Welpen aus Julius‘ und Bellas 4. Wurf. Aber nur, wenn er seine Zuchtmethoden ändert. Was meinst du, Julius?“ Der Blick des Weimeraners ist eindeutig. „Ok, Alter. Du hast recht. War ne Schnapsidee.“

Nachtrag: Die Idee zu dieser Story kam L. schon Anfang dieses Jahres, kurz, nachdem der MiniKrimi Adventskalender seine Türen geschlossen hatte. Aber wir sind drangeblieben, und herausgekommen ist diese Koproduktion aus Inspiration und Schreibe. Dass ich seit 3 Wochen einen öußerst fotogenen Dackelwelpen habe, spielt natürlich überhaupt keine Rolle!

Meine Fans


Ich bin – rein geburtstechnisch betrachtet – nicht mehr ganz taufrisch. Mental, psychisch und im Hinblick auf mein Selbstbild mag das anders sein. Da bin ich je nach Gemütszustand, körperlicher Verfassung, besonderen Glücksmomenten mal 5, mal 15 oder auch mal 100.

Nun habe ich den Verdacht, dass es einigen meiner „Fans“ genauso geht. Gestern hatte ich eine fantastische Lesung in Moosch. Im „Seniorenclub Lebensfreude“. Im Vorfeld hatte ich mich bei der Leiterin nach der mentalen Verfassung meiner Zuhörer*innen erkundigt, um die Lesung entsprechend zu gestalten. Die Antwort wies mich – freundlich – in die Schranken. Die Mehrzahl der Damen sei ungefähr so alt wie wir (!), lebe alleine und selbstversorgt und sei mit allem ausgestattet, was ein moderner Alltag mit sich bringe: Handy, Computer, Internet und Hörgeräte.

Letztere trage ich auch, seitdem die Hersteller versprechen, damit auch einem Tinnitus beizukommen. Klappt bei mir leider nur so lala, weshalb ich permanent ein Konzert in den Ohren habe und infolgedessen zuweilen einfach nicht verstehe, was mir Menschen über diesen kopfinternen Lärm hinweg zu sagen versuchen. Aber sei’s drum: ich bin meinen Zuhörer*innen tatsächlich auf vielen Ebenen verbunden.

Gestern stand ich nun in dem gut gefüllten Saal – und begegnete erwartungsvollen Augen. „Wird’s spannend?“, „Wird’s auch deutlich genug`“ „Laut genug?“ Der Saal hat eine grauenhafte Akustik, die durch ein Mikro nicht wirklich verbessert wird. Ich stellte mich also vor, fragte ab, ob meine Zuhörerinnen (kein Gendern nötig) thrillertauglich seien („Je brutaler, desto besser“, war die Antwort 🙂 ) und machte gleich einen Verständnistest. Ich war, so hatte mir die Leiterin berichtet, das Highlight im herbstlichen Veranstaltungskalender. Die Latte hing also hoch.

Und ich begann.

Meine Lesungen sind „szenisch“, bzw. „performe“ ich eher, als dass ich nur lese. Oft erzähle ich auch zwischendrin und weiche vom Text ab. Dabei schaue ich immer in die Gesichter und reagiere spontan auf das, was ich sehe. Mache einen Scherz mehr, singe ein Liedchen weniger. Ihr wisst, was ich meine. Nun, gestern stand ich vor einem sehr vielfältigen Ausdrucksmix. Die einen lachten, die anderen lächelten, einige schauten konzentriert – und eine döste mit geschlossenen Augen. Zuviel Kaffee, Kuchen, zu warme Luft?

Ich ezählte gerade, wie die Gräfin S. den Seitensprung ihres zweiten Mannes mit der Büste ihres ersten Mannes aus rotem Alicante Marmor erschlug, da erklärte vorne links eine Dame, in Alicante gäbe es keinen Marmor. Und breitete ihr Wissen über dieses edle Gestein aus, das das meine bei weitem übertraf. Ich hatte lediglich bei Goggle nachgefragt.

Da öffnete die „Dösende“ die Augen und schoss mir einen scharfen, freundlich-komplizenhaften Blick zu. Sie hatte alles genau verfolgt und die Augen nur der besseren Konzentration halber geschlossen. Soweit zu voreiligen Schlüssen.

Nach einer Stunde und drei Geschichten war ich heiser – und froh, dass ein paar der Damen meinten, es sei für heute genug. Den anderen musste ich versprechen, bald wiederzukommen. Und eine gab mir noch den Stoff für einen neuen Thriller mit auf den Weg., WOW. WOW. Ihr werdet ihn lesen. Im MiniKrimi Adventskalender.

Was mir noch nachzutragen bleibt: Es war ein toller Nachmittag. Die älteren Zuhörerinnen waren viel kritischer und aufmerksamer als so manche jungen. Ach ja, mit dem Alicante Marmor hatte ich recht. Uff.

Und auf dem Foto seht ihr mich mit den „Fans“, die bereit waren, allem Datenschutz zum Trotz mit mir abgelichtet zu werden.,

Danke, liebe Frau Röck, für die Einladung. Ich komme gerne wieder.

Freie Liebe


Auf der Ladies Crime Night in Leipzig fragte mich eine Zuhörerin, der meine „Agentur zweites Glück“ offenbar sehr gefallen hatte: „Und wie geht es weiter? Wo steht die Fortsetzung? Ehm – das war ein Einzelkrimi. Aber die Idee war geboren. Elvira und ihre Agentur sind mir viele weitere MiniKrimis wert. Und dann werde ich das Buch natürlich auch drucken. Wenn Ihr Vorschläge habt, wen, wann, wo und wie Elvira ihre Paare zursammenbringen soll – her damit! Ich erwähne euch als Ideengeber*in – Ehrensache!

Ein augenzwinkernder MiniKrimi über Lieben und Sterben im Europa ohne Grenzen

„Guten Morrrgen, Zeit zum Aufstöhn!“ Thea reißt erschrocken die Augen auf und schaut sich sekundenlang orientierungslos um. Weiß gekalkte Wände statt weicher Klippen, Betonboden statt Sand und ein Flickenteppich dort, wo gerade noch ihr leuchtend rotes Handtuch lag. Das Meer rauscht ungehört jenseits des Fensters. Eben hat sie sich noch wohlig in der schaumigen Brandung geräkelt. So ein schöner Traum. Aber eben nur ein Traum. Die Wirklichkeit ist eng und riecht nach ungewaschenem Körper, Urin und altem Fett. Und sie ist laut. „Guten Morrrgän“, schreit es wieder, diesmal energischer.

„Thea, heast du ned, Odysseus ruft. Wenn du runter gehst, bring mir glei an Kaffee rauf“.


Das „Bitte“ ist auf dem Weg vom ersten Kennenlernen bis zu Theas Einzug in das Exchikò, das strahlende Ferienhaus mit den blauen Fensterläden hoch über der schönsten Bucht von Kefalonia, verlorengegangen. Geblieben sind Harrys starke Hände. Nur, dass sie jetzt nicht mehr streicheln, sondern Theas Handgelenk umkrallen. „Thea!“ Harrys Stimme ist heiser von zu viel Ouzo und Zigaretten. Aber immer noch kräftig. Genau wie sein Griff.

„Ich geh ja schon. Hatte nur gerade so einen wunderschönen Traum. Ich – wir, korrigiert sie hastig – haben gebadet, unten am Xi. Das Wasser war ganz weich und warm. Du, wollen wir da heute mal hin?“

„Ich glaub, du spinnst. Wie soll ich denn da hinkommen? Willst mi die Klippen runterkippen, im Rollstuhl, oder was? Seit i di kenn, bin i doch a kompletter Krüppel worn!“

Thea beißt sich auf die Lippen, während sie ihr graugesträhntes Haar von den Schultern schiebt, ein T-Shirt über ihr Nachthemd streift und in die Mules schlüpft. Dabei lehnt sie sich kurz an den Bettrand. Und schon greift Harrys Hand in ihren Schritt. „So verkrüppelt dann doch nicht, was?“ Unwillkürlich muss Thea lachen. „Lass los, Odysseus wird ungeduldig.“ Von unten ist jetzt ein Rasseln zu hören, ein Geratter wie von einem startenden Motorrad. „Ruhe, Odysseus. Ich bin schon da.“

Mit geübtem Schwung zieht sie das Laken von der großen Voliere und öffnet die Tür. Odysseus, der 40 Jahre alte Graupapagei, starrt sie an. „Guten Morrgen“, krächzt er in perfekter Harry-Parodie. Zwei Gestrandete auf einer Insel. Schade, dass Harry das Federvieh nicht Freitag genannt hatte. Vielleicht wäre er dann freundlicher geworden. Oder wenigstens handzahm.

Während Thea den Kaffee kocht und einen Apfel in mundgerechte Bissen schneidet, trippelt der Papagei auf dem Holztisch hin und her. „Hungerrrr“, krächzt er. „Thea, Kaffee!“ Das ist Harry. „Ja doch!“ Sie füllt das heiße Gebräu in eine Tasse, dazu ein paar Tropfen aus einer Phiole und vier Löffel Zucker. Gestern hat Harry nur am Kaffee genippt. „Der schmeckt so bitter, was hast da reingetan?“ Heute wird er ihn hoffentlich trinken. „Thea, Kaffä“, schnarrt Odysseus. Sie schleudert dem Vogel ein Apfelstück hin, knapp an der Tischkante vorbei. Doch statt sich den Kopf anzuschlagen, fängt der Papagei es geschickt auf. „Dankä“, schnarrt er. Das Tier wird ihr zunehmend unheimlich. 

Thea schaut in den sonnigen Morgen und seufzt. Das dauert alles viel zu lange. „Kein Angst, diesmal klappt alles wie am Schnürchen“, hatte Elvira, ehemalige Krankenschwester und jetzt Inhaberin der Agentur „Zweites Glück“ ihr versichert. Und tatsächlich hatte es auch so ausgesehen, im Mai, auf Elviras Agentursofa im regnerischen München, mit dem umfangreichen Ordner und seinen vielversprechenden Junggesellen vor sich auf dem Couchtisch. „Das hast du bei Jean Claude und Salvatore auch gesagt“, hatte Thea gemurmelt. Und dann – ein Fiasko nach dem anderen.

„Na ja, wer konnte schon ahnen, dass Jean Claudes romantisches Schloss in der Normandie tatsächlich nur ein rostiges Vorhängeschloss an einer klapprigen Fischerhütte war, seine florierende Kreuzfahrflotte ein marodes Schmugglerboot und das Foto auf seinem Profil ein Fake?“, hatte Elvira gefragt. „Jeder, der sich mit KI auskennt. Und eigentlich hättest du auch sehen können, dass das Porträt bearbeitet war. Zuviel Haare und zu wenig Bauch.“ „Ach kommt, du konntest doch nicht schnell genug aus München wegkommen. Die Normandie war dir ja gerade mal weit genug entfernt. Warum eigentlich?“

Die Antwort darauf war Thea Elvira schuldig geblieben. Was hätte sie auch sagen sollen? Die Wahrheit? Ich habe versucht, meinen Mann zu vergiften, bevor er mein ganzes Geld mit seinem blonden It-Girl durchbringt. Leider hat sie den Cocktail getrunken, er ist nur um Haaresbreite dem Gefängnis entkommen, und jetzt jagt er mich durch ganz Europa?

Jean Claude war ihr wie ein rettender Engel erschienen. Allerdings hatte er sich als komplette Nullnummer erwiesen. Kein Schloss, keine Erotik, dafür jede Menge gefährliche Macken. Als er sie auf der Rückfahrt von einer Schmuggeltour bei rauer See – Windstärke 7 mindestens – mitsamt der Ladung schottischen Whiskys über Bord gehen ließ, um der Gendarmérie Maritime zu entgehen – zog Thea die Reißleine. Aber nicht, ohne Jean Claude noch eine Flasche auf den Kopf zu schlagen. Der Whiskyverkauf reichte gerade mal für die Rückfahrt nach München. Dort las sie von dem bedauerlichen Tod eines international bekannten Schmugglers im Ärmelkanal. Die genaue Todesursache war – zu Theas Glück – nicht mehr zu ermitteln gewesen. Zu starke Brandung, zu viele Verletzungen.

Mittellos und immer noch auf der Flucht hatte Thea erneut Elviras Ordner studiert. Salvatore war ein in die Jahre gekommener italienischer Selfmademan im maßgeschneiderten Nadelstreifen-Anzug. Er versprach Thea eine sorglose Zukunft, gependelt zwischen seiner Luxusjacht auf dem Pazifik und seiner Villa auf Sizilien. Leider hatte er bis zu ihrer Landung in Messina vergessen, zu erwähnen, dass ihr Aufenthalt stets räumlich begrenzt sein würde – nämlich auf Schlafzimmer und Küche. Offenbar hatte er Thea für so schüchtern, einfältig oder beides gehalten, dass ihn ihr Angriff mit seinem eigenen Stilett völlig überrascht hatte. Sie stand in der Küche über die Spüle gebeugt, wo sie für ihren neuen Gebieter eine Flasche Champagner öffnen sollte. Er drängte sich von hinten an sie, wobei ihm das Klappmesser – unglücklicher Zufall oder göttliche Fügung? – aus der Hosentasche fiel. Thea bückte sich blitzschnell und zu Salvatores ausgesprochenem Vergnügen – welches aber nur so lange währte, bis sie ihm das Messer bis ins Heft in die Brust stieß. „Das schöne Hemd“, dachte sie noch.

Die Polizei schien ihrer Version der Ereignisse – brutaler Angreifer aus dem Dunkel, Blutrache eines verfeindeten Clans – Glauben zu schenken, im Gegensatz zu Salvatores Familie. Und so war Thea, lediglich im Besitz ihrer Kleidung, einer Rolex und einem Platinarmband, wieder auf der Flucht.

Mit Harry sollte alles anders werden. „Er ist ein solider Bayer. Vor zwanzig Jahren hat er seine Liebe zu Griechenland entdeckt, seinen Job als Manager eines IT-Konzerns an den Nagel gehängt und sich auf Kefalonia niedergelassen. Mit seiner Abfindung hat er sich ein nettes Häuschen gekauft und den Rest seines Vermögens in sicheren Aktien angelegt. Er führt Wandergruppen über die Insel und wird von den Bewohnern dafür geliebt, dass er zuverlässig für einen Strom angenehmer Touristen sorgt. Nicht die Partyheinis, sondern Leute, die das Land, die Natur und die Kultur lieben. Er sieht zwar nicht umwerfend aus, ist aber für sein Alter recht gut in Form. Und seien wir ehrlich, liebe Thea, du ähnelst deinem Profilbild auch nur noch im Dunkeln und ohne Brille. Wir werden eben alle älter. Er sucht eine Frau in den besten Jahren – also dich! Auf geht’s!“

Zur Sicherheit und quasi als Entschädigung für die beiden fehlgeschlagenen Vermittlungen hatte Elvira Thea ein Fläschchen aus ihrem „Insektengiftschrank “ mitgegeben. Nur für den äußersten Notfall. Also um sich und ihr eigenes Leben zu retten. „Du scheinst ja vom Pech geradezu verfolgt zu sein“; hatte sie gesagt. „Da ist es vielleicht am besten, wenn du sowas wie eine Versicherungspolice bei dir hast. Aber Vorsicht: Missbrauch von Neonicotinoiden ist strafbar und wird mit Gefängnis bis zu 25 Jahren geahndet.“ Denn das ist in Deutschland die tatsächliche Verweildauer hinter Gittern für eine lebenslängliche Haftstrafe.

Thea schaut aus dem Fenster auf das immer gleiche Bild. Ein Wirrwarr malerischer Dächer, bergabwärts meandernde Sträßchen und Gassen, umrahmt vom wogenden Graugrün einer dank des Inselklimas wollüstig üppigen Vegetation. Und dann das Meer. Bis zum Horizont, und dahinter der Himmel. Blau in schwelgendem Blau. Tag für Tag.

Aber was nützt mir das alles?, fragt sie sich. Was habe ich davon? Ich bin eingemauert in diesem gleißenden Haus. Mit einem mürrischen Alten und einem schizophrenen Papagei.

Sie hat sich nichts vorzuwerfen. ist von Anfang an ehrlich gewesen. „Ich suche ein neues Zuhause“, hat sie Harry gesagt, als er sie von der Fähre abgeholt hat. Der erste Eindruck war gar nicht so schlecht gewesen. Weiße Leinenhose, gestreiftes Matrosenhemd, ein keck gewinkelter Panamahut über dem tief gebräunten Gesicht. „Ein neues Zuhause.“ Keinen neuen Mann. Aber Harry hat es nicht so mit Worten, und er zerklaubt auch keine Sätze nach Mehrdeutigkeiten.

Gut, die ersten Nächte waren anstrengend. So ein alternder Lebemann ist halt auch nur in seinen eigenen Augen ein Adonis. Für andere kommt er eher als Nereus daher, allerdings ohne die dazugehörige Portion Weisheit. Aber schlau ist er schon, der Harry. Er weiß sich in Szene zu setzen. Es dauerte ein paar Wochen, bis Thea das Viagra-Versteck fand. Und einen Monat, bis sie herausbekam, dass seine Beliebtheit im Dorf in direkter Beziehung zu der Menge an ausgegebenen Ouzo-Runden in der Taverne am Platz steht. Und dass Harry von vielen sogar gefürchtet wird. Denn von ihm und seiner Schilderung der Insel und ihrer Bewohner hängt es ab, ob der Strom angenehmer Touristen auch im nächsten Jahr munter fließt – oder versiegt.

Die Deutschen geben eben viel auf die Meinung so genannter Spezialisten. Und Harry ist so einer. Mit jeder Veröffentlichung in einem Abenteuerblatt, einem Blog oder auch einer populären Tageszeitung kann er Kefalonia bewerben – oder die Insel in Misskredit bringen. So jemanden behandelt man mit Vorsicht, mit Ehrfurcht – aber nicht mit Vertrauen oder gar Zuneigung.

Sei’s drum. Thea bemühte sich um die Gunst aller. Um Harrys, um die der Dorfbewohner und auch um die des Papageien, der um die gleiche Zeit wie Harry auf dem griechischen Eiland gestrandet ist. Seitdem bilden die beiden eine unzertrennliche Einheit. Während Harry und die Dorfbewohner sich bald Theas schüchternem Charme öffneten, blieb Odysseus misstrauisch. Und er ist, im Gegensatz zu den Menschen auf Kefalonia, unbestechlich. Weder gekochte Kartoffelstückchen noch Obst, Nüsse oder – heimlich hinter Harrys Rücken zugesteckt, feine Schokolade schienen die Abneigung des Papageien gegenüber der Neuen im Haushalt aufzuweichen. Im Gegenteil. Odysseus hatte die Schokolade vorsichtig mit seiner rechten Kralle ergriffen, zum Schnabel geführt, beäugt und dann, ohne Vorwarnung in Harrys unnachahmlich heiserem Bariton trompetet: „Schokolaaaaade. Schlächt für Odyssois. Sehrrr schlecht! Mörrrder.“  Was zum ersten Streit zwischen Harry und Thea führte. Oder eigentlich nur zur ersten offenen Konfrontation.

Denn wie Thea schnell bemerkte, war Harry durch ihre Anwesenheit immer wieder irritiert. „Schließ die Küchentür ned ab. Das machen wir im Dorf ned. Nein, hier klaut niemand.“ Glaub ich nicht, dachte Thea, als sie ihr silbernes Armband nicht finden konnte. „Warum trägst du auch sowas“, war Harrys einzige Reaktion. „Geh ned mit kurzen Hosen ins Dorf. In deinem Alter machen das die Frauen hier ned.“ Kein Wunder, bei der Figur, die die meisten haben, dachte Thea. In diesem griechischen Dorf scheint die Welt stehengeblieben zu sein. Die verheirateten Frauen, Mütter und Großmütter, tragen dunkle, lange Röcke, viele sogar ein Kopftuch. Wenn ich das bei uns erzähle, glauben die, ich sei in einem islamischen Land und nicht in einem unserer beliebtesten Urlaubsziele. Überhaupt merkt Thea, dass sie die kulturellen Unterschiede nicht nur unterschätzt, sondern überhaupt nicht „auf dem Schirm gehabt“ hat. Das Leben ist hier ganz anders. Das fängt beim Umgang miteinander an und hört bei der Struktur der Tage nicht auf. Thea hat das Gefühl, auf der Dorfstraße durch ein Lasergitter neugieriger Blicke zu laufen. Was kauft die Deutsche ein? Wann steht sie auf? Wann fegt sie den Hof, wann geht sie zum Strand und wie und wie lange? Schau mal, sie hat sich einen tüchtigen Sonnenbrand geholt – typisch deutsch. Wer bleibt schon über Mittag am Meer?

In den ersten Wochen hat Thea versucht, sich anzupassen. „Musst du immer so auffallen?“, hatte Harry sie gefragt, als sie am Abend an „seinem“ Tisch in der Taverne saßen, vor sich einen Teller mit würzigem Schafskäse, zart hellgrünen Paprikaschoten und glänzenden Oliven. „Wie meinst du das?“ „Die Frauen hier tragen koan knallroten Lippenstift. Und sie trinken koan Schnaps. Des schadet meinem Ruf im Dorf.“

Ihr erster Impuls war, jetzt erst recht und ganz gezielt aufzufallen. Aber das wäre nicht klug gewesen. Also hat Thea versucht, sich, wenn schon nicht anzupassen, dann wenigstens im Schatten aufzuhalten. Unauffällig. Leise. Unsichtbar, außer, wenn es darum geht, Harry zu unterstützen. Ihn zu stützen. Denn seit ein paar Wochen scheint er an Kraft zu verlieren. Die letzte Wanderführung über die Insel musste er abbrechen. Seine Beine versagen ihm immer öfter den Dienst. Starrsinnig wie er ist, weigert er sich, auch nur an Hilfsmittel zu denken. Einen Arzt will er ebenfalls nicht aufsuchen. Das einzige Zugeständnis ist der Bergtee, den ihm die bucklige Nachbarin vor die Tür gestellt hat.

Immer öfter schreit er Thea jetzt an – mit dem ganzen Dorf als Zeugen, da Thea die Fenster meist geöffnet hat. Wenn sie danach im Dorfladen Eier kauft, Honig oder Harrys Zigaretten und Schnaps, wird sie von Daphne, der Inhaberin, freundlich angelächelt. Ihr Mann hat ihr neulich den Korb mit den schweren Kartoffeln vor die Haustür getragen. Sonntagmorgen ist sie in die Kirche gegangen, ohne Lippenstift, im grauen Kleid und mit einem passenden Schultertuch. Der Pfarrer hat die Brauen hochgezogen. Aber vor der Tür der kleinen Kapelle haben ihre mehrere Frauen still die Hand auf den Arm gelegt.

Läuft doch. Sogar an die vielen Katzen und Mücken kann man sich gewöhnen. Wenn der Papagei nicht wäre, könnte Thea sich vorstellen, einen der streunenden Hunde aufzunehmen. Den schwarzen mit den treuen Augen. Kommt Zeit, kommt Rat.

Im August geht es Harry zunehmend schlechter. Er nimmt ab, wird immer aggressiver und lässt eigentlich nur noch Odysseus an sich ran. Anfang September hält Thea es nicht mehr aus. Sie packt einen Koffer und bittet Daphnes Ehemann, sie nach Argostoli zu fahren, der Inselhauptstadt. Der alten Nachbarin hat sie 50 Euro zugesteckt mit der Bitte, einmal am Tag nach Harry zu schauen. Für alle Fälle hat sie ihr ihre Mobilnummer aufgeschrieben.

Es dauert drei Tage. Dann ruft die Alte an. Sie hat Harry tot im Bett gefunden. Der Arzt aus dem Nachbardorf stellt einen natürlichen Tod fest. Wegen des Deutschen machen sie kein großes Aufheben. Zumal er keine Angehörigen hat. Außer Thea. Und die hat es in letzter Zeit schwer genug gehabt, mit ihm.

Als sie ins Dorf kommt, hat der Bürgermeister schon die Beerdigung organisiert. Die griechischen Behörden sind zufrieden mit der Versicherung von Daphne und Harrys alter Nachbarin, dass Harry Thea das Haus überlassen wollte. Er hat ja sonst niemanden. Von den Aktien weiß hier ohnehin keiner.

Thea sitzt auf der Terrasse und schaut hinunter auf den Strand von Xi. Die Luft ist schwer mit dem würzigen Duft von Lavender und Thymian. Ein leichter Wind trägt Spätsommergeräusche herüber. Lachen und Musik. Thea legt ihre Hand auf den Kopf von Hades, dem schwarzen Hund. Odysseus hackt mit dem Schnabel auf die Stäbe der Voliere ein. Thea lässt ihn täglich raus und hofft, dass er einfach fortfliegt. Aber er bleibt im Garten und krächzt „Harrrriiiie“, „Harriieee, komm zu Odyssois“. So täuschend ahmt er die Stimme seines toten Freundes nach, dass Thea jedes Mal zusammenzuckt und nervös über die Schulter schaut.

Jetzt sieht sie einen Wagen die Dorfstraße hochfahren. Die schwarze Limousine hält vor ihrem Haus. Ihrem Haus in ihrer neuen Heimat. Ein blonder Mann im Anzug steigt aus. Klopft an die Tür. Eine Klingel hat Harry nie gewollt, und Thea hat noch keine Zeit gehabt, sich darum zu kümmern.

„Frau…?“ „Friedrich.“ „Sie sind, äh, Sie waren die Lebensgefährtin von Herrn Müller?“ „Ehm. Ja.“ „Bergengrün von der Deutschen Botschaft. Ich… wollte nur mal nach dem Rechten sehen.“ Thea ist ganz kurz versucht, die Tür zu schließen. Die Kette vorzulegen. Und abzuwarten. Aber das würde nichts nützen. Im Gegenteil. Also: „Kommen Sie doch rein.“

Bergengrün wartet im hellen Vorraum. Die Küchentür steht offen. Plötzlich fliegt ein grauer Schatten herein. Lässt etwas aus seinem Schnabel fallen. Direkt vor Bergengrüns Füße. Der Mann ist schneller als Thea. Nachdenklich dreht er die Phiole in seinen Händen. Sie ist leer. „Harriiie, Harriiee“, krächzt der Vogel mit der Stimme des Toten und dann, laut und deutlich: „Mörrderr!“

Adventskalender MiniKrimi am 10. Dezember


Falls Euch – wie mir beim Schreiben – in der ersten Hälfte der Geschichte die Tränen kommen wollen: lest weiter. Alles wird gut!

Haltet den Dieb!

Die Sonne geht hinter den Hügeln unter. Bruno hat jedes Zeitgefühl verloren, aber sein grummelnder Magen sagt ihm, dass er schon viele Stunden umherirren muss. Andererseits kann er sich gar nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so richtig satt war. Sicher nicht, seitdem der Unbekannte ihn direkt vor der Haustür mitgenommen hat. Gegen seinen Willen. Aber der Mann war so viel stärker als Bruno. Er hat versucht, sich zu wehren, aber der Mann hat ihn einfach auf den Arm genommen und gezischt: „Still jetzt, oder ich muss dir weh tun.“

Da hat Bruno sich in das Unvermeidliche ergeben. Irgendwann hat der Mann ihn dann wieder auf den Boden gesetzt und ihn mit fester Hand hinter sich hergezogen. Sie sind lange gelaufen, bis in eine Gegend, in der Bruno noch nie vorher war. Endlich sind sie vor einem Wohnwagen stehen geblieben. „Rein mir dir“, hat der Mann gesagt. Drinnen roch es muffig und ranzig, eine unappetitliche Mischung aus Schweiß, schmutzigen Socken und altem Fett. Eklig. So roch es bei Bruno daheim nie!

Unsanft hat der Mann ihn in eine Ecke geworfen, ihm einen Kanten Brot und Wasser hingestellt und ist dann wieder gegangen, aber nicht, ohne die Tür zweimal abzusperren. Das hat Bruno genau gemerkt. Irgendwann ist er vor Erschöpfung eingeschlafen.

Heute Morgen ist der Mann wiedergekommen. Es gab nochmal etwas Brot, diesmal in Wasser eingeweicht. Normalerweise würde Bruno sowas nicht anrühren. Aber der Hunger hat es runtergetrieben. „Warum bin ich hier? Wann kommen Eva und Tim und holen mich ab? Sie hätten mir doch sagen können, dass sie weggehen und ich woanders bleiben soll. Das haben sie bisher immer gemacht!“

Bruno war ratlos, einsam, und er fror. Keine Decke, kein Kissen. Nur der harte Boden. Vielleicht war er entführt worden, und jetzt wartete der Mann auf das Lösegeld?

Als sich der Himmel verdunkelte und dicke Schneeflocken zu fallen begannen, sagte der Mann: „Los jetzt. Es ist soweit.“  Er hievte sich einen großen Rucksack auf den Rücken, nahm Bruno wieder auf den Arm und trug ihn zu einem Auto. „Du machst keinen Mucks, sonst dreh ich dir den Hals um,“ drohte er, als Bruno leise zu wimmern begann. „Spar dir das Geheule für später.“ Bruno mochte sich nicht ausmalen, was der Mann damit meinte. Ihm war jämmerlich zumute. Fünf Jahre lang war er nur von Liebe umgeben gewesen, von zärtlicher Aufmerksamkeit. Aber obwohl er so klein war, war er gut erzogen. Also gehorchte er dem Mann. Sie fuhren eine ganze Strecke, und als sie schließlich ausstiegen, waren sie mitten im Großstadtgewühl. Überall eilende Menschen, ein ununterbrochener Strom von Autos, Bussen und Motorrädern, Hupen schrillten, Bremsen kreischten. Wütende Stimmen fluchten. Keiner nahm sich die Zeit, um den wunderschönen Baum zu bewundern, der mitten auf dem großen Platz stand, geschmückt mit Lichtern und Sternen. So einen Baum hatte Bruno schon gesehen. Jedes Jahr im Winter stand er auch ganz in der Nähe von zuhause. Wie gerne wäre Bruno stehengeblieben, um den Baum näher zu erkunden. Aber der Mann zog ihn weiter. „Los, wir haben’s eilig.“ Dann holte er sein Handy aus der Tasche und flüsterte heiser und kaum hörbar: „Charly? Ich bin jetzt vor der Bank. Wie weit bist du? Du parkst um die Ecke, und in genau 5 Minuten fährst du direkt vor den Hintereingang. Olli hat ihn aufgelassen. Maske nicht vergessen, hörst du? Du könntest ja Corona haben, hehehe.“

Die hässliche Lache ließ Bruno die Haare zu Berge stehen. „So, mein Kleiner. Showtime,“ sagte er dann und riss Bruno unvermittelt hoch. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und versetzte Bruno einen Schnitt ganz unten am Bein. Bruno schrie auf und fing an, fürchterlich zu jammern.

Der Mann zog sich eine schwarze Maske über, riss mit Bruno unterm Arm die Glastür zur Schalterhalle auf, stürmte in den Raum und rief: „Hilfe, er ist verletzt!“ Brunos Blut rieselte auf den Boden, er heulte, die wenigen Leute, die kurz vor Schluss noch in der kleinen Bankfiliale waren, schauten erst hin, dann schnell weg und verließen eilig das Gebäude, um blloß nicht helfen zu müssen. Eine junge Frau kam hinter einem Schalter hervor, einen Erste-Hilfe-Koffer in der Hand. „Das ist ein Überfall,“ zischte der Mann. „Tu, was ich sage, und es passiert nichts. Vergiss deinen Kollegen, der kommt nicht mehr. Wir gehen jetzt mit dem Hund nach hinten, und du gibst mir alles Geld, an das du schnell rankommst. Wenn du das nicht machst, ersteche ich erst den Hund und dann dich.“

Die Frau lief durch einen Gang in ein kleines Zimmer, der Mann mit dem blutenden Bruno hinterher. Dann setzte er ihn ab, öffnete den großen Rucksack und bedeutete der verängstigten Angestellten, das Geld aus dem Tresor hineinzupacken. Diese Gelegenheit nutzte Bruno, um wegzulaufen, so schnell seine drei unverletzten Beinchen ihn tragen konnten. Vom Ende des Ganges her spürte er einen Luftzug. Richtig, die Hintertür war offen. Nur einen kleinen Spalt, aber der war für den Zwergdackel groß genug. Hinter sich hörte Bruno einen scharfen Pfiff, aber er rannte weiter und kauerte sich atemlos unter einen Busch. Es war inzwischen schon so dunkel gewesen, dass sein schwarzes Fell nicht von den Blättern zu unterscheiden war.

Wie lange ist das her? Ist das wirklich erst heute passiert? Bruno kann nicht mehr. Sein Bein schmerzt, aber zum Glück blutet die Wunde nicht mehr. Durch wie viele Menschenbeine hat er sich hindurchgewunden? Er will nur noch schlafen. Schlafen und nicht mehr aufwachen.

Da vorne: ein großes Tor. Dahinter warmes Licht und leckere Düfte. Dort war er doch schon mal? Mit Eva und Tim? In einem anderen Leben… Bruno schleppt sich durch den Eingang und steht auf einem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt. An diesem Winterabend ist er gut besucht, und große und kleine Leute drängen sich an den Buden, suchen sich einen Christbaum aus, trinken Punsch und Glühwein und essen Waffeln und Striezel. Es riecht nach Zimt und Bratwurst. Bruno wird schlecht vor Hunger und Müdigkeit. Ein Mann mit einem großen Stock stolpert beinahe über ihn. „Sch…köter!“, schimpft er und tritt mit seinem Stiefel nach Bruno. Der jault auf. „Bruno, Bruno!“ Evas Stimme überschlägt sich beinahe. „Lassen Sie sofort meinen Hund in Ruhe. Bruno, nicht weglaufen. Bruno, bleib!“ Aber Bruno denkt gar nicht daran, wegzulaufen. Er kauert sich auf den Boden und wartet, bis Eva bei ihm ist. Sie hebt ihn hoch. „Meine Güte, du bist ja verletzt.“ „Nicht so schlimm“, denkt der Dackel und leckt seiner Besitzerin übers Gesicht. „Tim, Tim, ich habe Bruno gefunden.“ Da kommt Tim auch schon gelaufen. Er wirft den kandierten Apfel, den er in der Hand hält, zu Boden und nimmt seiner Mutter den zitternden Bruno ab. „Bruno“, flüstert er und vergräbt sein Gesicht im nassen Hundefell.

„Servus, liebe Hörerinnen und Hörer. Heute habe ich hier auf Radio Menzing eine ganz besondere Vorweihnachtsstory für euch. Vor einer Woche wurde die Filiale der Stollbergbank in Neuhausen überfallen. Die Täter hatten offenbar einen Bankangestellten als Komplizen. Kurz vor Schalterschluss erbeuteten sie immerhin 200 Tausend Euro in kleinen Scheinen. Dabei griffen sie zu einem ganz besonderen und brutalen Trick. Sie hatten einen Dackel gestohlen, den sie absichtlich verletzten, um für Aufruhr zu sorgen. Das Tier konnte während des Überfalls entkommen. Die Täter allerdings auch.

Der Dackel wurde rein zufällig von seiner Besitzerin gefunden. Als diese ein paar Tage später mit ihm in der Stadt unterwegs war, fiel der Hund plötzlich ganz gegen seine Gewohnheit einen Mann an und biss ihn in die Wade. Der Mann konnte sich losreißen und weglaufen, aber die Besitzerin hatte geistesgegenwärtig ein Foto von ihm gemacht.

Der Mann konnte als einer der Bankräuber und Hundekidnapper überführt werden, dank der exzellenten Spürnase von Dackel Bruno. Dafür erhält er von der Stollbergbank eine Belohnung und einen Ehrenplatz in der Fotogalerie der Bankzentrale. Frohe Weihnachten allerseits.“

MiniKrimi Adventskalender am 17. Dezember


Krieg der Schneesterne

Es gibt Kriege, die dauern Jahre an. Jahrzehnte, sogar. Der längste über ein Vierteljahrhundert, ungefähr von 1618 bis 1648, der Vietnamkrieg wütete von 1955 bis 1975. Dagegen ist die Auseinandersetzung, die Christiane seit ihrem Einzug in das Eckhaus im ruhigen Villenvorort vor 10 Jahren mit der Firma führt, die von der Stadtverwaltung mit der Reinigung ihrer kleinen Seitenstraße betraut wurde, rein zeitlich gesehen eine Lappalie.

Aber emotional gleicht der Kampf einem Atomkrieg. Zumindest, was Christiane betrifft. Im Laufe des Konfliktes ist sie von einer erhöhten Reizbarkeit über nervös bedingte Unruhezustände mit Schlafstörungen in eine handfeste Depression hinübergeglitten, die sie, vor allem in den Wintermonaten, nur mit starken Psychopharmaka in den Griff bekommt.

Und das kam so: Christiane und ihre Familie konnten ihr Glück kaum fassen, als sie aus einer Schar von über 100 Beweber*innen ausgewählt wurden und in die frisch renovierte kleine Eckvilla an der putzigen Spielstraße einziehen durften. „Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, hatte die Vermieterin ihnen noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahegelegt. Woraufhin Christianes Mann nach einem langen Blick aus dem Fenster gemurmelt hatte: das ist ein Eckgrundstück. Gefühlt müssen wir mehrere hundert Meter Straßenrand ‚pflegen‘!

Christiane hatte in ihrer Begeisterung über den positiven Ausgang ihrer Überzeugungstaktik („Wir sind die idealen Mieter: fast erwachsene Kinder, eine Gärtnerin als Großmutter, keine Haustiere – und wir sind so oft unterwegs, wir haben gar keine Möglichkeit, das Haus zu ver-, ehm zu bewohnen.“ Was natürlich – fast – alles nicht wirklich stimmte. Die Kinder waren kaum aus der Pubertät heraus und gerade in dem Alter, in dem Parties in Haus und Garten, laute Rockmusik zu jeder Tages- und Nachtzeit und eine permanente Durchflutung des Hauses mit Gleichaltrigen gang und gäbe sind. Die Oma praktizierte Ikebana und lebte 500 Kilometer weit weg. Und auch wenn Asta, Rex, Kugel und Mäuschen von Christiane wie Menschen behandelt wurden, waren sie für Außenstehende Dobermann, Afghane, Siam und Kartäuser) nur beiläufig geantwortet: „Naja, das müssen wir ja nicht allein machen, dafür gibt es ja die Straßenreinigung.“

Beim süffisanten Lächeln der Vermieterin hätte sie eigentlich Verdacht schöpfen müssen. Tat Christiane aber nicht. Denn es war Sommer. Sommer in der Stadt. Die Straße war und blieb sauber, und das Thema Straßenreinigung geriet in Vergessenheit. Bis im September die ersten Blätter zu fallen begannen. „Hallo Frau Müller, ich bin vorhin zufällig bei Ihnen vorbeigefahren. Also, da liegen immens viele Blätter auf der Straße. Die müssen Sie entsorgen. Das hatten wir doch besprochen! Und außerdem – kann es sein, dass ich einen Hund bellen gehört habe? Und ich hätte beinahe eine Katze überfahren, die dann auf Ihrem Grundstück verschwunden ist….“ Die Vermieterin klingt gereizt.

„Alles gut, Frau Huber. Da müssen sich mich wohl in dem Moment verpasst haben, als ich im Baumarkt einen Laubbläser geholt habe. Hundegebell? Ich habe noch nie was gehört. Tja, die Nachbarskatzen fühlen sich bei uns sehr wohl, offensichtlich…. Ja, tschüss dann, Frau Huber! Ach, Moment, Frau Huber?“

Aber da hatte die Vermieterin schon aufgelegt. Minuten später hörte Christiane ein Geräusch, an das sie sich dunkel aus ihrer Schwabinger Wohnung erinnerte. Eine Straßenreinigungsmaschine. Christiane rannte vor die Tür, riss das Gartentörchen auf – und sah die Maschine gerade noch um die Straßenecke verschwinden. Sie hastete hinterher. „Moment!“, rief sie. „Sie haben vergessen, unsere Straßenseite zu kehren.“ Tatsächlich war die gegenüberliegende Seite, die an einen kleinen öffentlichen Park grenzte, blankgeleckt, kein Blättlein lag mehr auf dem Asphalt. Während entlang ihres Gartenzauns ein bunter Blätterhaufen vor sich hingammelte. „Halt, warten Sie!“ Endlich hörte der Mann in der Kabine Christianes Rufen. Er kurbelte die Scheibe runter und erklärte unwirsch: „Das ist ne Spielstraße hier. Da müssen die Bewohner ihre Seite selber kehren. Nur im Winter nicht.“ Sprachs und ward nicht mehr gsehen.

Also nahm Christiane den Laubbläser in Betrieb und die Blätterhaufen in Angriff. Doch bereits nach zwei Minuten klopfte ihr die erboste Nachbarin aus Nummer 7 auf die Schulter. Christiane, ganz berauscht von der Macht der Maschine, verstand zunächst nichts. Als die Frau immer wilder gestikulerte, schaltets sie den Bläser ab. „Nicht in der Mittagszeit zwischen zwölf und drei“, brüllte die Nachbarin in die plötzliche Stille.

„Ach so, das wusste ich nicht, entschuldigte sich Christiane. „Aber am Nachmittag habe ich einen Kundentermin…..“ „Egal. Gesetz ist Gesetz“, sagte die Frau und kehrte in ihre Jägerzaunburg zurück. Um 17.30 Uhr war Christianes Termin vorbei, und sie ging, mit Laubbläser bewaffnet, wieder auf die Straße. Dort traf sie ihre Tochter Isabella, die aus der Schule zurückkam. Sie riss der Mutter wortlos das Gerät aus der Hand, schaltete es aus und dozierte erbost: „Sag mal, bist du total übergeschnappt? Weißt du nicht, dass diese Dinger GIFT für die Tiere sind? Und übrigens auch für alle Menschen unter 50, bei denen das Gehör noch funktioniert. Nimm gefälligst den Besen, Mama.“

„Na hör mal, damit dauert das ja ewig. Gut, dann machst du das eben, Madame Umweltbewusst.“ „Das könnte dir so passen. Ich muss bis morgen die Seminararbeit fertigschreiben. Ne, ne, das machst du gefällgst selbst, wenn du deinen Putzfimmel jetzt schon auf die Straße ausweiten musst.“

Um es kurz zu machen: Christiane konnte weder Mann noch Kinder von der Notwendigkeit des Straßenreinigens überzeugen. Auch das Argument „Vermieterin“ zog nicht, weil nur sie von zuhause aus arbeitete und die Anrufe von Frau Huber entgegennahm. Also kehrte und blies (wenn isabella nicht daheim war) Christiane den ganzen Herbst über im Schweiße ihres Angesichts über 50 Straßenmeter – gefühlt waren es 5000. EInmal die Woche kam das von der Stadt beauftragte Reinigungsiunternehmen, putzte die gegenüberliegende, an einen kleinen Park angrenzende Straßenseite- und blies die Blätter gegelmäßig gegen Christianes Gartenzaun. Sie beschwerte sich per Mail. Sie rief in der Stadtverwaltung an. Sie rannte auf die Straße udn stellte sich von das Gefährt. Alles umsonst. Im Gegenteil. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Der Sachbearbeiter in der Stadtverwaltung, die Straßenreinigungsfahrer – und sogar die Blätter, die vermehrt dann runtersegelten, wenn sie gerade ihren Straßenanteil reingefegt hatte. „Nimm dir das noch nicht so Herzen. Du wirst ja regelrecht hysterisch“, sagte ihr Mann, statt sie zu trösten oder, besser noch, zu unterstützen.

Christiane wachte jeden Mittwoch, dem Tag der Straßenreinigung, mit Bauchschmerzen auf. SIe hastete vor die Tür, fegte alle über Nacht gefallenen Blätter auf die andere Straßenseite – und erlebte mit, wie der Fahrer diese mit einem höhnischen Grinsen wieder zu ihr hinüberschob.

Egal. Christiane ertrug all dies und tröstete sich damit, dass sie im Winter wenigstens keinen Schnee schippen musste.

Im ersten Winter war das auch so. Denn die paar wenigen Flöckchen, die zwischen Dezember und März vom Himmel rieselten, waren getaut, noch bevor sie das Wort Schneeschippen auch nur angedacht hatte.

Doch dann kam der vierte Winter in der Spielstraße. Püntklich zu Weihnachten schneite es, als hätte Frau Holle das ganze dänische Bettenlager ausgeschlagen. 3 Tage und Nächte. Der Schneeräumer kam – nicht. Auf der kleinen Straße häuften sich Schneemassen. Ein Nachbar klingelte und erklärte der erstaunten Familie Müller, dass sie für das Straßenstück an ihrem Haus verantwortlich seien, wie alle hier. Nur, dass die anderen kaum 10 Meter hatten, jeweils. Während das Eckgrundstück….. „Ich wusste es!“, schimpfte Christianes Mann. „Aber nein! Im Winter räumt die Firma. Das haben die mir so versichert“, wandte Christane ein. „Ja, theoretisch schon. Aber Spielstraßen liegen in der Priorität an letzter Stelle. Erst kommen die Haupt-, dann die Nebenstraßen. Und dann wir. Das kann bei so ’nem Wetter eine Woche dauern. Und bis dahin sind wir, also SIE verantwortlich.“

Schließlich schippten alle Männer der Straße – ganz ausnahmsweise – gemeinsam, und Christianes Mann baute aus dem aufgetürmten Schnee eine Bar, an der sie dann bis in die Nacht standen und Bier tranken.

Inzwischen begann es zu tauen, und nach 7 Tagen erschien die Straßenreinigungsfirma und streute tonnenweise Split in die Pfützen.

Im darauffolgenden Herbst startete Chrtiane, gestärkt durch die Einnahme eines Nerventonikums, einen erneuten Anlauf, um sich gegen die blättrigen Übergriffe der Firma zu wehren. Inzwischen begegnete ihr der Fahrer mit blankem Hass, denn sie hatte sich „ganz oben“ über ihn beschwert und angeregt, dass die Spielstraße einer anderen Firma übergeben würde. Doch damit hatte sie in ein Wespennest gestochen. „Der Sachbearbeiter kassiert gutes Geld für den Auftrag, vom Firmenchef“, erklärte ihr eine andere Nachbarin, die offenbar über alles informiert war – woher, das gab sie nicht preis. Jedenfalls erhielt Familie Müller daraufhin mehrere Bußgeldbescheide im vierstelligen Bereich, weil angeblich ihre Bäume über das zulässige Maß in die Straße hineinragten. Nur, weil ihr Mann zufällig früher als üblich nach Hause kam, entging Christiane einer Verhaftung wegen tätlichen Angriffs auf einen städtischen Beamten, der ihr den letzten Bescheid zustellen wollte.

In den folgenden Wintern tobte der Krieg der Schneesterne immer heftiger, beide Seiten fuhren immer schärfere Geschütze auf. Der Reinigungsdienst schob die Schneemassen aus der gesamten Spielstraße zunächst an den Müllerschen Zaun, der unter der Last zusammenbrach. Frau Huber verlangte Schadenersatz von den Mietern. „Schnee ist höhere Gewalt, die damit verbundenen Risiken müssen von Ihnen getragen werden.“

Daraufhin vereiste Christiane die Fahrbahn, so dass der Schneeräumer auf der Spiegelfäche ins Schleudern kam, gegen eine Garagenwand prallte (nicht die Müllersche!) und der Fahrer eine leichte Gehirnerschütterung erlitt – angeblich.

Beim nächsten Schneefall stand Herr Müller morgens beim Öffnen der Gartentür vor einer zwei Meter hohen Schneemauer. Er konnte gottseidank über die Garage ausweichen.

Christiane machte Fotos und mobiliserte die Presse. Der Artikel mit der Überschrift „Familie unter Schneeterror, Reinigunsmafia am Werk?“ kostete den Fahrer, den stellvertretenden Firmenchef und den Sachbearbeiter ihren Posten.

Und dann ging im kommenden Winter alles gut. Eine andere Firma reinigte die kleine Spielstraße, und Christiane brachte dem Fahrer frühmorgens einen heißen Espresso ans Fenster.

Woraufhin ihr Mann anonyme Schreiben erhielt, die seiner Frau eine Affäre mit einem Straßenreininger andichtete. Das gleiche Schreiben fand seinen Weg auch in die Stadtverwaltung und wurde dort, im Gegensatz zum Hause Müller., ernst genommen. Der Mann musst gehen. Und die alte Firma wurde wieder beauftragt.

Wir schreiben das Schneesternenjahr 2022. Vor Weihnachten hüllt ein Tiefdruckgebiet ganz Deutschland fest in eine dicke weiße Umarmung. Auch die kleine Spielstraße ist schneebedeckt.

Christiane kennt den Tagesablauf der Straßenreinigung auswendig. SIe schreckt um 4 Uhr früh aus einem unruhigen Schlaf, zieht sich an, bewaffnet sich mit Schneeschaufel und Besen und wartet am Gartentor auf den Schneeräumer. Da kommt er auch schon. Mit seiner mächtigen Schaufel nimmt er eine Riesenladung gefrorenen Schnee auf und schiebt ihn gegen Christianes Gartenzaun. Rollt zurück. nimmt die nächste Ladung auf, gibt Gas und rammt das ganze an den Holzzaun. Die dahinter liegende Eibe knirscht, knackt und bricht unter der Last zusammen. „Halt“ schreit Christiane. „Halt, SIe, Sie, Sie…. MÖRDER“! SIe reißt das Gartentürchen auf und rennt dem Schneeräumer entgegen, der mit einer neuen Schneemasse auf sie zurast. Die Schaufel schleift am eisigen Boden entlang, nimmt Schnee und etwas Schwrzes, Gestikulierendes auf, fährt in die Höhe – und schleudert alles über den Zaun direkt in Müllers Garten.

Später wird der Fahrer beteuern, er hätte Christiane nicht gesehen. „Die Frau war ja rabenschwarz angezogen. Keine Warnweste und nichts. Und draußen war’s stockdunkel.“

Als Christiane das Krankenhaus nach drei Monaten verlässt, ist ihre Hüfte noch nicht ganz geheilt. Der Schädelbruch verursacht ihr immer wieder höllische Kpfschmerzen. Im Sommer zieht Familie Müller um. In eine Dachterrassenwohnung am anderen Ende der Stadt.

„“Bitte achten Sie vor allem darauf, dass Ihr Straßenanteil immer sauber und gepflegt ist. Das ist hier ein elegantes Viertel“, legt die Vermieterin Christianes Nachmietern noch vor der Unterzeichnung des Mietvertrags nahe. Mal sehen, wie lange die hier bleiben, denkt sie, und fügt hinzu: „Ein gutes Verhältnis zur Straßenreinigung kann Vorteile haben.“

MiniKrimi Adventskalender am 15. Dezember


Stein um Stein

Ich habe Pläne, große Pläne, ich baue dir ein Haus. Jeder Stein ist eine Träne, und du ziehst nie wieder aus

Der Bass dröhnt, die monotone Stimme von Till Lindemann prallt von den Kellerwänden ab wie ein Squashball. „Jeder Stein ist eine Träne“, murmelt er, schreit er, dann. „Träne, jawohl. Was bist du bloß für eine Träne!“ Er kauert sich auf den Boden, wirft die Hacke neben sich und schluchzt.

„Warum? Wir hatten doch so ne tolle Zeit zusammen. Und jetzt? Auf einmal?“

Er starrt auf die Kellerwand, sein Blick gleitet hinaus, in den Garten. Er auf einer Decke im Gras, sie neben ihm. Seine Hand in ihrem seidenweichen, langen Haar. „Ach Mensch, Cora!“ 

Er stemmt sich hoch, mit Mühe. Greift nach der Bierflasche. Leer. Aber der Wodka ist noch halb voll. Das wird reichen, bis er hier fertig ist. 

„Ja, ich bau ein Häuschen dir. Hat keine Fenster keine Tür. Innen wird es dunkel sein, dringt überhaupt kein Licht hinein“

Was hatten sie sich gefreut, über ihr kleines Häuschen. Endlich raus aus der engen Wohnung mit den ganzen Spießern. „Herr Wollke, gestern war es aber wieder viel zu laut, bei Ihnen. Man kann auch LEISE spielen, wenn Sie wissen, was ich meine. Und ein bisschen Erziehung hat noch niemandem geschadet.“ Ha, es hat sich augewollket. Wir haben jetzt ein ganzes Haus für uns. Da können wir Lärm machen, solange wir wollen. Und das hatten sie. Und wie! Cora war ganz außer Rand und Band und konnte es gar nicht fassen. Soviel Platz! Morgens vor dem Aufstehen hüpften sie manchmal wie wild auf dem Bett herum, vor lauter Freude.

„Ach Cora, ich hab dich doch geliebt. Das weißt du! Ich liebe dich immer noch. Aber du?“

Entschlossen holt er aus, hebt die Hacke und lässt sie auf die Kellerwand niedersausen. Ziegel splittern. Ein Ruck, noch einer, dann reißt er die ersten beiden Ziegel raus. Aber das Loch ist noch viel zu klein.

„Du weißt, ich hätte alles gegeben, um das zu verhindern, Cora. Aber du lässt mir ja keine Wahl. Weißt du noch, damals, als wir zusammen nach Jesolo gefahren sind, nur du und ich? Wie die rumgezickt haben, auf dem ersten Campingplatz. Nein, nein, so können Sie unmöglich zum Strand. Gut, dann eben nicht. Und dann haben wir einen gefunden, der fand uns beide ok. War das schön! Sich im Sand wälzen, bis die Haare komplett verklebt waren, und runter in die Wellen. Wer fängt den Ball zuerst? Und das Eis! Schkolade mochtest du am liebsten. Ach, Cora. Meine Cora.“

Wann hat sich alles verändert? Warum hat er nichts gemerkt? Er legt seine ganze Wut über sich selbst, seine Blindheit, in die Arbeit. Holt mit kraftvollen Stößen einen Ziegelstein nach dem anderen aus der Mauer. Wir. Hätten. Zusammen. Alt. Werden. Sollen!

Das ist der Vorteil von alten Häusern. Sie sind zwar eiskalt, aber die Mauern sind zwei Ziegelsteine dick. Haust du einen raus, hast du ne prima Lücke. Eine Höhle. Eine Kammer. Luftdicht. 

„Ja, ich schaffe dir ein Heim, und du sollst Teil des Ganzen sein

„Und dann dieser blöse Typ. Ich soll dich gehen lassen, hat er gesagt. Und dass du schon gar nicht mehr bei mir bist. Ich soll dich in meinem Herzen behalten, so, wie du warst, als wir zsuammen glücklich waren. Der spinnt doch. Nein, ich lass dich nicht gehen. Ich geb dich NIE mehr her!“

„Ohne Kleider, ohne Schuh, siehst du mir bei der Arbeit zu. Mit den Füßen im Zement verschönerst du das Fundament. Stein um Stein, ich werde immer bei dir sein“

Jetzt ist die Kammer groß genug. Er nimmt einen kräftigen Schluck aus der Wodkaflasche. Er muss sich Mut antrinken, bevor er sie anschaut. Anfasst! 

Cora, mein Liebling. Bitte, schau mich noch einmal an. Sei mir nicht böse. Ich kann nicht anders. Ich kann mich nicht von dir trennen. Ich MUSS immer bei dir sein. 

Welch ein Klopfen, welch ein Hämmern, draußen fängt es an zu dämmern“

Schließlich kniet er sich auf den steinigen Kellerboden. Streicht ihr noch einmal voll Zärtlichkeit über das lange schwarze Haar. Dann hebt er sie vom Boden auf, legt sie vorsichtig auf die Plastikplane und wickelt sie liebevoll darin ein, während die Tränen ihm übers Gesicht laufen. Da geht plötzlich ein Zittern durch ihren Körper. Ungläubig starrt er in die braunen Augen, die ihn, deutlich verwirrt, aber zunehmend klarer, anschauen.

Sein Handy klingelt. „Her Wollke, gut, dass ich sie erreiche. Ich habe die ganze Nacht recherchiert. Cora hat eine Art allergischen Schock erlitten – vermutlich haben Sie ihr zuviel Schokolade gegeben. Das dürfen Sie nie mehr tun. Aber gut, dass Sie nicht auf mich gehört und sie wieder mitgenommen haben. Also, was ich sagen will: es besteht die Chance, dass Ihr Hund wieder gesund wird.“

Er lässt das Handy auf den Boden fallen und schmiegt sein Gesicht an Coras Bauch. Sie liegt ganz still, aber ihre raue Zunge schleckt ihm sanft übers Gesicht. Sie wird wohl noch eine Weile bei ihm sein. Und wenn es dann soweit ist, wer weiß, vielleicht mauert er sie beide gemeinsam ein. 

Sorry, ich weiß, das Ende hat einen Bruch. Aber, ganz ehrlich: ich habe kein Problem damit, menschliche Protas auf die verschiedensten Weisen sterben zu lassen. Aber bei einem Hund kriege ich das nicht übers Herz. Verzeiht!

Ach ja, noch was – ich höre zuweilen gerne Rammstein.

MiniKrimi Adventskalender am 6. Dezember


Liebe Leser*innen, bitte nehmt mir die Fehler in diesem Minikrimi nicht übel. Ich habe mein Daumengrundgelenk überstrapaziert – und mit Schiene und Schmerzen schreibt es sich schlecht.

Herzlichen Dank dem Ideengeber für den heutigen Nikolauskriimi. Ich kenne ihn, aber er hat mich gebeten, anonym zu bleiben. Völlig unnötigerweise, denn die Idee ist doch charmant, oder?

Showdown

„Ok. Du kriegst eine allerletzte Fristverlängerung. Spätestens heute Abend um zehn hast du die Kohle zusammen. Wenn nicht, mach ich dich fertig. Als erstes ist dein Köter dran. Und dann deine Tochter…“

„Cleo! Um Himmels willen. Sie ist doch noch ein Kind. Und was kann Julius dafür, dass ich in letzter Zeit so eine Pechssträhne hatte?“

„Vielleicht hättest du den Dackel an den Pokertisch setzen sollen. Schlechter als du hätte er bestimmt nicht gespielt. Also. Heute Abend zehn Uhr im Club. Oder Julius frisst Rattengift.“

Ehe Olaf reagieren kann, bückt sich der Spielschuldeneintreiber, klemmt sich Dackel Julius unter den Arm und springt in die schwarze Limousine, die mit laufendem Motor am Straßenrand auf ihn gewartet hat.

Olaf ist verzweifelt. Wie konnte es nur so weit kommen? Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Die Pandemie hat Olafs feines, aber kleines Herrenbekleidungsgeschäft an den Rand des Ruins gebracht. Monatelange Schließung, und als er wieder öffnen durfte, hatten die meisten Kunden sich das Nötige und dazu noch eine Menge unnötige Kleidungsstücke im Internet besorgt.

Aber die Ausgaben waren geblieben. Und ein zehnjähriges Mädchen im Homeschooling bei Laune zu halten war auch nicht billig. Olaf gab Unsummen für Hard- und Software aus. Und weil sie immer zu Hause waren, besuchte seine Frau einen Online-Gourmet-Kochkurs bei einem ebensp guten wie gewieften und teuren Sternekoch. Der ihr bis heute die extravagantesten Zutaten ins Haus liefert.

Irgendwann wusste Olaf nicht mehr, woher er das Geld für die Miete von Haus und Geschäft nehmen sollte. Entgegen seiner Gewohnheit ging er in einen Club, den ihm ein Kunde empfohlen hatte. Dort trank er einen Whiskey, dann noch einen, und sann auf einen Ausweg aus seinem finanziellen Dilemma.

Da geschah es. Wie ein Deus ex machina war ein Mann auf ihn zugekommen und hatte ihn gefragt, ob er einspringen könne, am Pokertisch. Ein Spieler sei ausgefallen.

Olaf hatte in früheren Jahren gerne und, so meinte er sich whiskeymutig zu erinnern, gut gespielt. Er nach diesem Strohlhalm wie ein Ertrinkender. Dabei unterließ er es , ein paar nicht ganz unwichtige Fragen zu stellen. Etwa, ob dieses Pokerspiel mit dem Gesetz im Einklang war. Oder warum gerade er gerade jetzt gefragt wurde. Und wer die Leute waren, die ihn so nonchalant einluden.

Heut ist Olaf schlauer. „Ich hätte mich nie darauf einlassen sollen“, denkt er. Aber am Anfang lief alles so gut. Er hatte eine Glückssträhne und gewann so viel, dass er einen Monat lang endlich wieder ohne Geldsorgen einschlafen konnte. Er hatte sogar Frau und Tochter mit einem Spontanurlaub nach Mallorca überraschen können.

Doch nach dem Glück kam, natürlich, das Pech. Und jetzt sitzt ihm der Spielschuldeneintreiber im Nacken. Und wenn ihm bis heute Abend nichts einfällt, wird Julius sterben. Julius, der kleine, flinke, pfiffige Kaninchendackel!

Selbstmord ist keine Lösung, denn die Lebensversicherung hat er schon letzten Monat aufgelöst. Verzweifelt starrt Olaf auf den weihnachtlich beleuchteten Marktplatz. Draußen vor dem Weihnachtsbaum steht ein Nikolaus und verteilt kleine Geschenke an die Passanten. Da kommt ein zweiter hinzu. Und ein dritter.

„Heute ist Nikolaustag“, erinnert sich Olaf. Und seine verzweifelten Gedanken formen sich zu einer Idee.

In der AgipTankstelle am Reuterring steht Jo fassungslos vor einem Riesenkarton mit gerade angekommenen Süßigkeiten. Genauer gesagt Tausende von Euro in kleinen Scheinen und glänzenden Münzen. Eigentlich hätten sie schon am Vormittag in die Regale einsortiert werden müssen. Aber der Lieferant hatte eine Panne, und jetzt soll Jo nicht nur die Kasse bedienen, Würstchen heiß machen und Cappucino servieren, sondern auch noch die gesamte Lieferung unterbringen. Und das alles für 520 Minijob-Euronen. „Echte Sch…“, flucht er und macht sich an die Arbeit.

Er hat gerade die Theke mit Euro-Koffern und Münzen-Dosen vollgehäuft, als er aus dem Augenwinkel etwas Rotes an die Kasse kommen sieht. „Augenblick, bin gleich bei Ihnen“, sagt Jo und denkt: Auch ein Nikolaus braucht scheinbar mal ne Kaffeepause. Dann doch lieber Schokomünzen sortieren, als im Schneeregen Hohoho rufen.

„Hände hoch, das ist ein Überfall. Her mit dem Geld. Alles hier in den Sack, aber schnel!, oder ich schieße!“ Der Nikolaus hält Jo mit der einen Hand eine Waffe entgegen und mit der anderen einen Sack. „Na, wird’s bald?“

Der macht das bestimmt zum ersten Mal, denkt Jo miiten in seinem Schrecken. Die Stimme zittert, und warum kneift er die Augen so zusammen? Jo will in die Kasse greifen – er wird bestimmt nicht sein Leben aufs Spiel setzen wegen ein paar Hundert Kröten, die ihm nicht gehören – aber der Nikolaus zischt: „Machen Sie schon. Packen Sie das ganze Geld da auf der Theke in den Sack, alle Dosen, und auch die Geldkoffer.“

Soll das ein Witz sein? Oder ist er in einer Sendung von Verstehen Sie Spaß? Egal. Jo packt das ganze Schokogeld in den Sack. Da fährt draußen eine Streife der PI 42 vor, die trinken hier um diese Zeit immer eine Cola und essen ne Bockwurst. Der Nikolaus erstarrt, entreißt Jo den Sack und stürmt aus dem Kassenraum. Dabei wirft er beinahe den Ständer mit den Nikolausruten um. Offensichtlich ist der arme Mann nicht nur verwirrt, sondern auch noch extrem kurzsichtig.

Es dauert einige Minuten, bis Jo sich von seinem Lachanfall erholt hat. Schock, Erleichterung und die Komik der Situation sind zuviel für den jungen Mann.

Inzwischen hat Olaf das Nikolauskostum aus und seine starke Brille wieder angezogen und fährt, so schnell er sich traut, zum Club. Drinnen wirft er dem Eintreiber den Sack vor die Füße. „Hier hast du das Geld. Und jetzt gib mir meinen Hund zurück!“

Julius hat die Stimme seines Herrn gehört und kommt aus dem Hinterzimmer gesaust. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen, hin und hergerissen zwischen der Wiedersehensfreude und dem spannenden Duft, der ihm aus dem Sack entgegenweht. Das riecht ja wie….

„SCHOKOLADE! Du Idiot hast einen Sack Schokogeld geklaut!“ Außer sich vor Wut stürzt sich der Eintreiber auf den zitternden Olaf. Dabei stampft er mit beiden Füßen auf dem Sack herum, dass die Schokolade nur so aus der Verpackung spritzt.

Das ist zuviel für Julius. Ob er seinen Besitzer verteidigen oder die Zerstörung seiner Beute verhindern will? Wir werden es nie erfahren, denn in diesem Momeht betrifft die Streife der PI 42 den Raum…..

Lokalnachrichten vom 6 .12.2022: Heute Abend kurz nach 21 Uhr konnte eine Polizeistreife einen Schuldeneintreiber-Ring sprengen. Die Beamten verfolgten einen Räuber, der, mit einer Spielzeugpistole bewaffnet, in der Tankstelle am Reuterring Schokogeld im Wert von 200 Euro erbeutet hatte. Dieser führte sie zu einem Club, der schon länger polizeilich beobachtet wurde. Angeblich seien der Schokodieb und sein Hund, ein Kaninchendackel, maßgeblich an der Festnahme der Kriminellen beteiigt gewesen, was sich strafmindernd auswirken soll. Der Tankstellenbesitzer verzichtet auf eine Anzeige.