All Hallowes Eve. Let’s reform it!


Ich liebe Halloween. Nein, nicht die kostümierten Kinder, die nicht wissen, warum sie bei Dunkelheit, mit knappem Sicherheitsabstand verfolgten von ihren helikopternden Eltern, mit Tüten durch die Straßen laufen uns „Süßes oder Sauers“ rufen sollen. Natürlich machen sie es trotzdem, weil Verkleiden Spaß macht und weil sie vielleicht nicht jeden Abend Süßigkeiten satt bekommen dürfen – oder können.

Diesmal habe ich mir vorgenommen, auf jedwede Belehrung zu verzichten und den Kleinen auch nichts von den Toten zu erzählen, die – darum geht’s ja schließlich – im Dunkeln in die Oberwelt gleiten und, ja, und was? Rache üben? Das hingestellte Essen genießen? Oder einfach nur die Orte ihrer Sehnsüchte besuchen?

Stattdessen habe ich nach Schloss Dackula eingeladen, wo Gräfin und Graf schon bellend auf sie warten. Allerdings ist bislang niemand gekommen. Ich fürchte, das Bellen hat die Kinder – oder doch eher die Eltern? – schon von weitem verschreckt.

Ich liebe Halloween, schrieb ich. Nicht wegen der Kinder, nicht wegen der sauren Süßigkeiten. Sondern weil ich spüren möchte, dass mir in diesen Stunden, in denen sich die Welten berühren, meine Mutter nahe ist. Weil ich an sie denke, sie sehe. Heute habe ich mir zugehört, beim Telefonieren, und gedacht: „Du sprichst wie sie!“ Und statt zu erschrecken, musst ich lächeln. Ich bin gespannt, ob ich ihr heute Nacht begegne. Im Traum, nicht im Garten. Obwohl auch das passieren kann, also dass ich nachts im Garten bin. Falls einer der Dackel oder auch Bruna ein dringendes Bedürfnis verspüren, bin ich mit ihnen wach und draußen. Aber wer weiß – vielleicht erahnen sie ja ihre Nähe?

Bevor ich metaphysich, transzendent und schlicht okkult werde, lasse ich euch lieber an meinen Gedanken zu dem Feiertag teilhaben, den wir Protestanten heute begehen, den Reformationstag.

Hier eine kleine Zusammenfassung aus Wikipedia: Laut der Überlieferung soll der Mönch und Theologieprofessor Martin Luther am Abend vor Allerheiligen 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg 95 Thesen in lateinischer Sprache zu Ablass und Buße angeschlagen haben, um eine akademische Disputation herbeizuführen. Damit leitete er die Reformation der Kirche ein. Im Kern bestritt er die herrschende Ansicht, dass eine Erlösung von der Sünde durch einen Ablass in Form einer Geldzahlung möglich sei. Dies sei schon durch das Opfer Jesu Christi am Kreuz geschehen.

Ob der Thesenanschlag tatsächlich stattgefunden hat, ist umstritten. Und egal. Wir alle wissen, wie es weiterging. Die Folgen reichen bis in die Gegenwart, und letztendlich ist auch der Wahlsieg Donald Trumps irgendwie auf Martin Luther zurückzuführen. Mittelbar, zumindest. Denn ohne Schisma kein Protestantismus, und ohne diesen keine Evangelikalen. Und nein, bei den Katholiken gibt es nicht diese große Spannbreite an gelebten Glaubensinterpretationen. Dem steht der Papst entgegen.

Ich bin Theologin. Ich praktiziere meinen Glauben ganz individuell und, als Prädikantin, auch innerhalb des kirchlichen Regelwerks. In den Sozialen Medien folge ich den digitalen Pfarrer*innen. Ich lese und erlebe ihr Engagement für Queerness, für Gendergerechtigkeit, für Inklusion und Integration. Und ich erlebe wie die Kirchen immer leerer und die Mitgliederzahlen immer ausgedünnter werden.

Und ich denke: da passt etwas ganz und gar nicht zusammen.. Kirche, so vermute ich, geht konsequent an dem vorbei, was die Menschen auf der Straße gerne hätten, sich wünschen und erträumen. Ja, sie geht auf die Bedürfnisse von Minderheiten ein, und vielleicht erreicht sie damit ein paar Tausend Leute. Die sind wichtig. Keine Frage. Aber sie sind nicht die Masse. Nach wie vor gehen sie davcn aus, was sie gerne machen würden, was sie zeitlich leisten können, und nicht davon, was nötig wäre, aber vielleicht unbequem.

Wenn ich zu Beginn der Sommerferien Kinder unterm (Plastik-)Regenborgen segnen möchte, „einfach so“, begegnen mir so viele Wenn und Aber, dass ich das am Ende nicht machen soll kann darf. Ich möchte rausgehen und die Leute ansprechen, in der Kneipe, an der U-Bahn. Nein, nicht ohne Genehmigung. Von der Kirche und von der Stadt, auf deren Gelände ich mich bewegen würde.

Leute, so wird das nichts. Ich möchte keinen Reformationstag feiern in einer erstarrten Kirche. Wofür bin ich Luther dankbar? Das ist schnell gesagt: dafür, dass er begonnen hat, Mädchen die Schule zu ermöglichen. Davon zehren wir bis heute. Und dafür, dass er die Möglichkeit einer Revolution gelebt hat, entgegen allen Prognosen, Prophezeiungen und allen Widrigkeiten, allen Ummöglichkeiten zum Trotz.

Vielleicht ist es das, was wir brauchen: eine neue Revolution. Weg mit den Honoratioren, weg mit den Kirchenleitungen. Weg mit dem Regelwerk. Weg mit dem Geländer, weg mit den Strukturen. Sehen, was bleibt. Und einfach losgehen. Auch, wenn wir gestoppt werden, auch, wenn das, was wir tun, geahndet wird. Das hat es alles schon gegeben. Bei den Propheten, den Jüngern, den Mönchen.

Das wäre mein Traum zum Reformationstag. Leute zu finden, die so denken und so handeln wollen wie ich. Damit aus dem Traum ein erster Schritt wird. Und dann noch einer. Und noch einer.. Übrigens; diese Leute müssten nicht zwingend evangelisch sein, auch nicht christlich. Einer schwindenden Zahl von bekennenden Gläubigen (der Trend wird auch den islam erreichen, zeitverzögert, und den Hinduismus, den Buddhismus, alle Religionen) steht eine wachsende Zahl von Sinnsuchenden gegenüber.

Vielleicht sollten auch wir, die wir glauben, nach einem gemeinsamen Sinn suchen, ihn formulieren und dann zu den Leuten bringen. Ohne großen Plan. Mit viel Mut.

Das wäre mal eine Utopie, die sich umzusetzen lohnen würde.. Frieden und Verständigung und Gerechtigkeit könnten die Folge sein. Langfristig. ok. Von uns sicher nicht erlebbar. Aber Gott hat Zeit. Unabhängig davon, wie sie gelesen wird. Denn er/sie ist ewig. Im Gegensatz zu uns. Das ist ein Vorteil, weil dadurch immer neue, frische Ideen und Impulse geboren werden. Neue Lösungen. Während die Probleme die alten sind.

Ja, das wäre schön.

Bella Ciao! Mitsing-Konzert und Krimilesung


Wie sagen Frauen CIAO zum Sommer und HALLO zum Herbst? 

Mit Schwung, Spannung und jeder Menge guter Laune.

Vera v. Schumann (Gitarre und Vocals) und Marie Bastide (Krimis und Vocals) laden ein zu einem Mitsingabend mit bekannten, eingängigen Songs und herbstfrischen MiniKrimis.

Von Bella Ciao über Mantras bis zu Gstanzln ist alles dabei. Und auch in den MiniKrimis geht es um Frauen und darum, wie sie das Leben mit seinen unüberwindlich scheinen Hindernissen meistern.

Seid dabei, singt mit und drückt den Krimiheldinnen die Daumen

am Sonntag, 21. September 2025 um 19 Uhr in der Moosacher Magdalenenkirche, Ohlauer Straße 16. 

Der Eintritt ist frei – Spenden sind herzlich willkommen. Männer natürlich auch!

Vera v . Schumann leitet in und um München Singgruppen und tritt mit den Ladybugs regelmäßig in der Magdalenenkirche auf.

Marie Bastide schreibt Krimis und ist mit ihren szenischen Lesungen in ganz Deutschland unterwegs.

Für Rückfragen stehe ich euch gerne zur Verfügung. Schreibt einfach einen Kommentar, ich antworte sehr schnell.

MiniKrimi Adventskalender am 6. Dezember


Lasst uns froh und munter sein

„Ah, der Herr Bischof. So früh schon unterwegs?“ Es ist sieben Uhr morgens, und auf dem Domberg kauern noch die Schatten der Nacht, durchbrochen nur von den glitzernden Lichtern am riesigen Weihnachtsbaum und ein paar späten Sternen. Ganz hinten, dort, wo der Fluss den Himmel berührt, färbt erstes Morgenrot die Wiesen. Es ist ein idyllisches Bild, und der Bischof bleibt stehen, saugt die klare Winterluft tief ein und mit ihr den Frieden, der über seiner Stadt zu liegen scheint. Aber wie so oft, trügt der Schein auch hier.

Der Skandal um Missbrauch und sexualisierte Gewalt hat auch die Domstadt erreicht. Weniger heftig und weniger laut, als einige es befürchtet und etliche es sich erhofft hatten. Und gottlob liegen die „Fälle“, um die es geht, schon Jahrzehnte zurück. Fälle – das Wort nimmt der Bischof nie in den Mund, zum Kummer seiner Kollegen, Dekane und Priester. Für ihn sind es Schicksale. Jedes besonders, jedes tragisch, jedes so ganz aus der vorgezeichneten Lebensbahn geworfen durch die Hand eines Kirchendieners. Der Bischof mag auch nicht unterscheiden zwischen Priestern und Leitern von Chor und Jungschar. Welche Bedeutung hat es für die Betroffenen, ob es ein geistlicher, ein haupt- oder ehrenamtlicher Missbrauch war, dessen Opfer sie wurden? Für die Kirche wäre es vielleicht schon wichtig, darzulegen, dass viele der Täter keine Geistlichen waren, sondern Mitarbeiter der Kirche. Aber ganz ehrlich? Für den Bischof macht das keinen Unterschied. So oder so hat Kirche versagt. Gegenüber ihren Schutzbefohlenen und gegenüber ihren ureigenen Inhalten.

Auch dass über Jahre, Jahrzehnte hinweg die Gemeindemitglieder selbst Augen und Münder verschlossen haben, mindert die Verantwortung der Kirche nicht. Der einzige Weg durch dieses Tal der Schuld ist steinig und steil und heißt lückenlose Aufarbeitung. Der Bischof ist jung, gerade mal Mitte Vierzig. Deshalb wurde er für den Vorsitz der Kommission ausgewählt. Und deshalb verweigern ihm seine durchweg älteren Kollegen den Respekt, kritisieren seine Entscheidung zu völliger Transparenz, nicht nur gegenüber den Betroffenen, sondern auch in den Medien. Ein nie wiedergutzumachender Schaden, ein unauslöschlicher Makel unserer Institution, mit diesem mahnenden Ruf sind sie bis nach Rom gegangen. Und mit leeren Händen zurückgekehrt. Der Bischof weiß genau, dass sie seitdem nach anderen Möglichkeiten trachten, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Er ist sich keineswegs sicher, ob und wann dieses Trachten von Erfolg gekrönt sein wird. Auch darin hat die Kirche eine große Tradition.

Aber auch, wenn er kein Cesare Borgia ist – Vorsicht kann nicht schaden. Deshalb ist der Bischof heute schon in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen, um die Vorbereitungen für seinen Auftritt als Nikolaus, Bischof von Myra, heute Abend zu überwachen. Den Aufbau des Podests, von wo aus er ein paar Worte an die Menschen richten wird – er hat nicht vor, durch eine angesägte Latte zwei Meter auf Kopfsteinpflaster zu stürzen. Die Bereitstellung des Schlittens – mit Rollen, denn bislang hat es noch nicht geschneit, und die für den Abend vorhergesagten Flöckchen würden höchstens für einen malerischen Flaum auf seiner Tiara sorgen und nicht als Unterlage für die Kufen ausreichen. Und dann die mittelalterlich gestalteten Buden, an denen Met und Wuchteln, Früchtepunsch, Maroni und Grillfackeln verkauft werden – alles für einen guten Zweck, nämlich die Jugendarbeit in der Diözese. Es wäre nicht nur tragisch, sondern eine Katstrophe, wenn ein Dach einstürzen, ein Grill explodieren oder die Halterung eines Metkessels umkippen würde.

Damit wären dann gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen, für seine Gegner, weiß der Bischof. Er wäre eliminiert – vom Dom, von seinem Posten als Vorsitzender der Aufarbeitungskommission und, im schlimmsten oder besten Fall, je nach Ansicht des Betrachters, von dieser Welt. Die von ihm dank seines Charismas aufgebaute Familien- und Jugendarbeit, geprägt von Offenheit, Gemeinschaft von Männern und Frauen, egal ob cis oder non-binär, und Kindern, von Musik und Social Media Präsenz, bei der G*ott tatsächlich benannt und bedankt wird, diese Arbeit würde ohne ihn zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Und zeigen, dass es eben so nicht geht. Dass Kirche Hierarchien braucht, und die Kollegen wären schnell dabei, diese wieder hochzuziehen, eherne Mauern aus Respekt, Ohnmacht und Schweigen.

„Du bist paranoid“, sagt ihm Claus, sein Freund und Vertrauter, immer wieder. „Besser als ein Opfer“, antwortet der Bischof dann. Und fügt lautlos hinzu: schon wieder.

Jetzt geht die Sonne über dem Domberg auf. Ein strahlender Wintermorgen. Die Arbeiten auf dem Platz gehen gut voran, der Bischof wechselt hier und da ein Wort, trinkt einen Becher Kaffee. Dann kommt Dominika, eine seiner Jugendleiterinnen. Sie drehen ein TikTok Video über die Vorbereitungen und laden nochmal alle ein: „Heute Abend, 17 Uhr. Nikolaus, der Bischof von Myra, hat Geschenke für alle Kinder dabei. Es gibt genug zu essen, zu trinken, zu feiern und zu singen. Kommt alle. Wir freuen uns auf euch.“

Der Regionale Radiosender hat schon über das Nikolausfest am Domberg berichtet. Es ist das erste nach Corona, das erste, seit der neue Bischof da ist, und das allererste überhaupt in dieser freien Form. Es sind sogar evangelische und muslimische Jugendgruppen mit dabei!

Von einem Fenster im dritten Stock der fürstbischöflichen Residenz, die sich nahtlos an den Dom anschmiegt, betrachtet Bischof Richard missgünstig das bunte Treiben. Und fragt sich, wie schon so oft, wo und wann er den Weg dieses jungen Bischofs hätte umlenken könnten. Wie viel Ärger wäre der Kirche erspart geblieben. Wieviel Schmach! Aber wer hat schon ahnen können, dass dieser hübsche, sensible, stille Junge mit der silberhellen Stimme einmal so ein wort- und gedankenstarker Geistlicher werden würde. So ein gefährlicher Gegner! Er selbst hat ihm sogar noch den Weg gewiesen. Nicht nur zu Jesus, sondern auch ins Priesterseminar. Was für ein kardinaler Fehler! Nun, vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, denkt Bischof Richard. Und schaut sich unwillkürlich nach Meta um, seiner mit ihm alt gewordenen Hauswirtschafterin. Und mehr. Die beiden verstehen sich nach über 40 Jahren ohne Worte. Sie schaut ihm stumm in die Augen. Und nickt unmerklich.

Und dann ist es Abend. Wie vorhergesagt, fallen weiche Flocken vom dunkelblauen Winterhimmel. Sie legen sich zart auf die Dächer der Hütten, das Kopfsteinpflaster und die Mützen und Locken der Menschen. So viele sind gekommen. Der Rauch von den Feuern, über denen Grillfackeln schmoren, steigt senkrecht auf und mischt sich mit dem Nelkenduft von Met und Punsch, mit dem süßen Geruch gebrannter Mandel. In der Mitte des Platzes lodert ein helles Feuer, oben auf dem Podest spielt die Band „Last Christmas“ und dann, auf ein Zeichen des Bischofs, „Lasst uns froh und munter sein“. Ein bunter Chor, alte Stimmen, junge, helle, tiefe stimmt ein, der ganze Platz bebt und lacht. Ja, Lacht. Vergessen ist für diesen Moment alles, was trennt. Den Domberg mit seiner geistigen, geistlichen Last, und die Menschen. Der Bischof lächelt. Dankbar.

„Und jetzt schaut mal, was ich euch mitgebracht habe“, ruft er, springt vom Podest und zum Schlitten voller Pakete und Päckchen. Im Handumdrehen ist er umringt von Händen, nackten, behandschuhten, schüchternen, greifenden. Er lacht und legt in jede Hand ein kleines Geschenk. So schnell ist der große Schlitten leer. Nur noch ein kleines Päckchen liegt auf dem rotsamtenen Kutschbock. Der Bischof nimmt es und geht hinüber zur Residenz am Rande des Platzes. Dort, vor dem Portal, stehen Bischof Richard und eine Handvoll seiner Kollegen und machen gute Miene zum bösen Spiel. „Hier, Exzellenz“, sagt er und reicht Richard das Päckchen. „Auch für Sie hat der Nikolaus etwas dabei. Sie waren so lange der Domherr hier. Nehmen Sie die Pralinen, Ich weiß, es ist ihre Lieblingssorte, Meta hat es mir verraten. Und seien Sie mir, Ihrem Nachfolger, nicht allzu böse dafür, wie ich die Geschäfte hier weiterführe. Geistlich und weltlich. Es ist Advent. Kommen Sie, machen auch wir uns auf den Weg.“

Um sie herum wogt und tobt das friedliche Fest. Es ist kalt in der Bischofstracht aus Rauchmantel, Albe und Mitra. „Hier, Maximilian. Nimm einen Schluck Glühwein. Du bist ja komplett ausgekühlt. Das kann ich gar nicht mit ansehen! Aber um dich kümmert sich ja keiner.“ „Außer dir, gute Meta. Danke.“ Und der Bischof nimmt den Becher, den Meta ihm reicht.

Später wird er in den Armen seines besten Freundes liegen, der vergeblich auf den Rettungswagen wartet. Zuviel los, heute, in der Stadt. „Damit hätte ich nicht gerechnet. Meta! Ihr ganzes Leben lang hat er sie ausgenutzt. Und jetzt macht er sie auch noch zur Mörderin“, flüstert der Bischof. „Aber ich gehe nicht allein. Und vielleicht ist es wirklich am besten so, denn G*ott verzeiht es nicht, wenn man selbst zum Richter wird. Doch ich konnte nicht mehr länger warten. Richard hat ja nicht nur mein Leben zerstört, als er mich missbraucht hat, immer und immer wieder, damals, sondern er hat auch noch so viele andere kaputt gemacht. Vor mir und nach mir, da bin ich mir sicher. Aber er ist unantastbar. Ich habe niemanden gefunden, der gegen ihn aussagen will. Und mir würde keiner glauben! Ich bin ja sein Konkurrent.

Ich hatte geglaubt, dass ich meinen Frieden gefunden habe. Meine Aufgabe. Dass ich heilen kann, wo andere verletzt haben. Aber dann habe ich Richard gesehen. Im Bogengang. Mit Christian, unserem Solisten. Er ist noch ein Kind! Da habe ich gewusst, es muss aufhören. Und auch, dass ich selbst das Heft in die Hand nehmen muss.“

Als der Rettungswagen endlich kommt, ist es für Bischof Maximilian schon zu spät.

Am nächsten Morgen kommt der Notarzt noch einmal auf den Domberg. Bischof Richard ist ebenfalls in der Nacht gestorben. An einem Herzinfarkt, wie es in der Verlautbarung des Ordinariats heißen wird.

Claus wird sich bemühen, den Mord an Maximilian aufzuklären. Er weiß, dass er sich damit auf eine lebensgefährliche Mission begibt.

Gut möglich, dass diese Geschichte polarisiert. Aber auch ein MiniKrimi Adventskalender ist halt ein Ponyhof. Und ich freue mich auf eure Kommentare! In diesem Sinne: habt einen schönen Nikolausabend. Und obacht beim Glühwein!

Reform? Norm? Oder einfach nur Kürbis?


Heute ist Reformationstag. Ja, es gibt auch in Europa immer mehr Menschen, die heute Abend verkleidet auf die Straßen gehen, um andere zu erschrecken. Nein, um selbst Spaß zu haben, natürlich. Und die Kinder nicht vergessen! Für sie ist das ein Riesenspaß. Als Hexe, Vampir oder einfach als man selbst an Haustüren klingeln und Süßes oder Saures verlangen. Und erhalten. So oder so.

Ich halte für diese Zwecke immer ein paar Zitronen parat. Und erkläre den erstaunten Kids dann, worum es an diesem Abend eigentlich geht. Denn das wissen die Allermeisten nicht. Und ihre Eltern, Lehrer*innen, Erzieher*innen offensichtlich auch nicht. Sonst hätten sie ihr Wissen ja weitergegeben, oder?

Über die Ursprünge von Halloween gibt Wikipedia hinlänglich Auskunft. Ähnlich wie bei vielen Festen mit religiösem Hintergrund versandet das Wissen darüber. Was bleibt, ist die pure Lust am Feiern, Toben, Konsumieren.

Aber während Weihnachten, Ostern & Co. irgendwo doch immer noch Familienfeste sind, findet Halloween für Kinder draußen statt. In dunklen, bestenfalls nebeldurchwaberten Straßen. Das ist gruselig. Und im Grunde bräuchte es dafür eine ganz gehörige Portion Gottvertrauen, denn so manches Schwarze lauert doch in dieser Vornovembernacht.

Ich erkläre den Kids also, was wir in Italien in der Nacht vor Allerheiligen feiern. Im Norden läuteten die Glocken, um die Seelen der Verstorbenen auf die Erde und in die Häuser zurückzuholen, wo man den Tisch gedeckt ließ, damit sie sich dort stärken konnten.

„Habt ihr vielleicht drüben im Park eine alte Dame gesehen? Mit weißem Haar? Vielleicht ist das meine Mum, die gerade auf dem Weg hierher ist.“ Große Kinderaugen. Hastiges Umdrehen.

„Auf Sizilien“, erzähle ich dann weiter. „werden die Festgelage direkt auf dem Friedhof abgehalten. Cool, oder? Macht das doch morgen auf dem Grab von eurem Opa.“

Spätestens jetzt fragen die Kids nicht mehr nach Süßem. Und wenn doch? Dann bitte ich sie, eine Handvoll Raffaello für meine Mum mitzunehmen und ihr zu geben, wenn sie ihr auf dem Rückweg durch den kleinen Park gleich begegnen werden.

Wow. Kinder können so schnell rennen.

Und jetzt Ihr: bin ich gemein? Nein! Ich kann es nur absolut nicht leiden, wenn Erwachsene Kinder nicht darüber aufklären, warum sie etwas machen sollen. Ja, sollen. Denn von alleine kommt kein Kind darauf, im Dunkeln an fremden Haustüren zu klingeln. Ja, ich weiß, die Peergroup. Aber der gehören dann meistens auch die Eltern an.

Im Übrigen feiere ich heute natürlich weder All Hallows‘ Eve noch die Nacht vor Ognissanti.

Allerdings feiere ich auch nicht wirklich das Protestanten höchstes Fest, den Reformationstag. Warum? Weil ich mir nicht sicher bin, ob das wirklich so eine tolle Sache war, im Nachhinein betrachtet. Wie viel Leid ist daraus hervorgegangen, völlig unbeabsichtigt von Martin Luther. Aber dennoch.

Wäre die Kirche heute stärker, moderner, geeinter, akzeptierter, ohne Schisma? Wären Missbrauch von Macht und Menschen, Gewalttaten, psychische Folter dann seltener gewesen? Gäbe es dann mehr Frauen als Männer im Priester*innen-Amt? Würde Gott dann nicht mehr als rein männlich angesehen, mehrheitlich?

Meine Erfahrung als Theologin: Die Menschen, die ich kenne, unterscheiden nicht zwischen evangelisch und katholisch. Sie unterscheiden zwischen Angeboten, die ihnen guttun, und solchen, die ihnen schaden oder nicht helfen.

Tatsächlich ist in meinen Augen der einzige Vorteil der Reformation, dass Frauen in der evangelischen Kirche – theoretisch – gleichberechtigt sind.

Gut, das könnte ich feiern. Tue ich auch. In jedem Gottesdienst, der von Frauen gehalten wird. Auch von mir. Hallelujah.

Adventskalender MiniKrimi am 24. Dezember (Heiligabend)


Wie gestern bereits angekündigt, heute als Abschluss meines diesjährigen MiniKrimi Adventskalenders ein Netzfund (Autor unbekannt, ich hab*s gegoogelt), auf den ich durch Birgit Schiche und Lupine auf BlueSky aufmerksam wurde. Vielleicht kennen einige von Euch das Gedicht und mögen es genauso gern wie ich…..

Ich wünsche Euch ein gesegnetes, lichterfülltes Weihnachtsfest – und dass es hell bleiben möge in Euch weit über Weihnachten hinaus!

Danke, dass Ihr mir folgt und meine Krimis lest. Ich verspreche: über’s Jahr werden immer wieder welche erscheinen. Mit meiner Ko-Autorin Lydia H. habe ich da schon eine ganz konrete Idee.

Das gestohlene Jesuskind
Die schönste Krippe dieser Welt
ist in der Kirche aufgestellt:
Maria, Josef, Ochs und Rind
inmitten drin das Jesuskind.

Kurz nach dem zweiten Weihnachtstag
trifft den Herrn Pfarrer fast der Schlag
wird käsebleich vor großem Schreck
das süße Jesulein ist weg
fort, gestohlen und geraubt
von Kirchenräubern unerlaubt.

Der Messner ist auch sehr entsetzt
weil stark die Heiligkeit verletzt.
Die beiden sorgen sich mit Bange
jetzt dauert es bestimmt nicht lange
bis auch der Josef wird gestohlen
und Gauner die Maria holen.

Und sie beschließen aufzupassen
den Übeltäter frisch zu fassen
der Pfarrer will im Beichtstuhl sitzen
das Brillenglas an schmalen Schlitzen
der Messner beim Altar verkroch
spickt durch ein kleines Astguckloch.

Sie warten ganz mucksmäuschenstill
und wie es Gottes Weisheit will
öffnet sich sacht die Kirchenpfort‘
ein kleiner Bub erscheinet dort
schiebt seinen Roller vor sich her
das Jesuskind liegt hinten quer
über dem Schutzblech hängend nur
halb festgemacht mit einer Schnur.

Der Pfarrer eilet flugs geschwind
zum Buben mit dem Jesuskind
was fällt dir ein, hört man ihn fragen
willst du mir gleich die Wahrheit sagen
der Knirps mit seinen blonden Locken
erwidert freiweg unerschrocken,
was man verspricht man halten soll
und er erklärt fast andachtsvoll
ich habe schon vor ein paar Wochen
dem Jesukindlein fest versprochen:

Wenn es am Christtag an mich denkt
mir einen schönen Roller schenkt
darf es zusammen mit mir flitzen
und hinten auf dem Schutzblech sitzen
ich werde nicht vom Roller steigen
dem Jesukindlein alles zeigen
dann kann es Abwechslung bekommen
vom Heugeruch und Überfrommen
Und frische Luft und Spaß juchu
und rote Bäckchen noch dazu.

Adventskalender MiniKrimi am 12. Dezember


Aus Gründen

„Morgen.“ „Hi.“ „Uaahh – griaß Eich.“ Montagmorgen, sieben Uhr. Die Mitarbeitenden des kleinen Transportunternehmens Münchner Süden stehen zusammen in der engen Teeküche. Halten Tassen mit Tee oder Kaffee in der Hand. Gähnen. „Servus, Leute.“ Der Chef steht in der Küchentür. „Weiß einer von Euch, was mit dem Reza los ist?“ Allgemeines Kopfschütteln. „Muss krank sein, normal ist der doch immer als erster da…“ „Ihr habt’s aber nix von ihm gehört?“ „Na.“ Nee.“ „Nein.“

Als Reza im Laufe des Tages weder auftaucht noch anruft und auch niemand in seinem Auftrag eine Krankmeldung vorbeibringt, fängt der Chef an, sich Sorgen zu machen. Dieses Verhalten passt einfach nicht zu dem jungen Iraner. Reza arbeitet inzwischen seit 2 Jahren bei ihm, und noch nie hat er einen Tag gefehlt. Immer hat er alle Aufträge perfekt erledigt. Nie gab es eine Beanstandung, weder von Kunden noch von Kollegen. 

Die einzigen Probleme, die Reza hatte, haben mit seinem Aufenthalt zu tun. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, die Berufung ebenfalls. Nun besitzt er als einziges Ausweisdokument eine so genannte Duldung bzw. „Aussetzung der Abschiebung.“ Damit lebt Reza auf Messers Schneide, das Damoklesschwert der Abschiebung ständig über sich. „Wenn die mich zurückschicken, bin ich so gut wie tot,“ hat er manchmal, selten, im Gespräch mit seinen Kollegen gesagt. Und dabei gelacht. Um nicht zu weinen. Er ist Christ, und Christen werden im Iran ins Gefängnis gesteckt und nicht selten gefoltert. „Sie müssen ihren Glauben ja nicht offen ausüben. Wenn keiner weiß, dass sie Christ sind, passiert Ihnen auch nichts“, hat die Richterin als Erklärung der letzten Antragsablehnung gesagt. 

Aber selbst wenn Reza seinen Glauben verheimlichen würde, wären seine Überlebenschancen in der Heimat gering. Denn er leidet unter MS. Und auch, wenn ein iranischer Biologe vor kurzem ein Antigen zur Heilung der Krankheit entdeckt hat, fehlen in Rezas Heimatprovinz Mazandaran sogar die nötigsten Medikamente. 

Reza will nicht zurück. Es geht ihm gut, zum ersten Mal in seinem Leben muss er sich nicht verstecken. Er kann zur Kirche gehen, wann und so oft er will. Am helllichten Tag. Er übernimmt in der Gemeinde sogar kleine Aufgaben. Aus Dankbarkeit. Und aus Freude. Sein Neurologe hat ihn gut eingestellt, er kann trotz MS arbeiten. So viel, dass er sich ein kleines Appartement leisten kann. Er hat Freunde. Nicht viele, aber mehr als im Iran. Als das Militär den Gottesdienst sprengte und über die Hälfte der versammelten Menschen festnahm, stand Rezas Entschluss fest. In diesem Land konnte er nicht weiterleben. Nach Monaten im Gefängnis war sein Gesundheitszustand so bedenklich, dass er „zum Sterben“ nach Hause geschickt wurde. Seine Familie legte zusammen und finanzierte ihm die Flucht nach Europa. Eigentlich wollte er nach Schweden, zu seinem Onkel. Doch in Deutschland war Endstation. 

Inzwischen hat er sich nicht nur mit seinem neuen Wohnort arrangiert. Er fühlt sich zu Hause. Angekommen. Angenommen. Mittendrin. Und jetzt?

„Wo kann er nur sein?“, fragt sein Chef den Pfarrer der Gemeinde, die Reza regelmäßig besucht. Er hat ihn unterstützt, ihm dabei geholfen, einen guten Deutschkurs zu besuchen und noch einen, so lange, bis er sich gut verständigen konnte. Ist mit ihm die ersten Schritte gegangen und hat ihm Mut gemacht für sein neues, selbständiges Leben. Auch er hat keine Ahnung, aber eine Befürchtung. Gemeinsam fahren sie zu Rezas Wohnung. Klingeln. Nichts. Warten. Schließlich schaut eine Flurnachbarin aus ihrer Tür. „Der ist nicht da. Den haben sie heute Nacht abgeholt. Pack, ausländisches. Jeder von denen ist einer zuviel. Wir sind ja hier nicht….“ Die beiden Männer lassen die Frau stehen und laufen die Treppen hinunter. Es dauert mehrere Stunden, bis es ihnen gelingt, zu erfahren, was genau passiert ist. Und wo Reza sich jetzt befindet. Vermutlich.

Die Landespolizei hat Reza gegen Mitternacht in der Wohnung überrascht und mitgenommen. Am Flughafen wurde er der Landespolizei übergeben und nur zwei Stunden später in ein Flugzeug nach Teheran gesetzt.

Aktivisten von Amnesty International, die in der Iranischen Hauptstadt die Ankunft des Flugzeugs beobachtet haben, berichten später, dass mehrere junge Männer von bewaffneten Militärs abgeführt worden seien.

Monate vergehen. Dann liegt im Postkasten des Pfarramts ein Päckchen. Ein kleines Tagebuch. Auf Deutsch. Auf der letzten Seite steht:“ Lieber Pfarrer W., ich danke Ihnen und allen, die ich in München kennenlernen durfte. Sie haben mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt. Ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen. In einem anderen, besseren Leben. Gott schütze Sie.“ 

Das Büchlein wurde dem Pfarrer über die Deutsche Botschaft geschickt. Es habe einem jungen Mann gehört, der in einem Teheraner Gefängnis gestorben sei. Unter natürlichen Umständen, hieß es.

Diese Geschichte ist nicht frei erfunden. Sie setzt sich zusammen aus vielen einzelnen Schicksalen. Einige habe ich in meiner Zeit als Asylberaterin selbst begleitet. Wenige erhielten eine Anerkennung und durften bleiben. Viele wurden abgeschoben. Einige sind nach ihrer Rückkehr verschwunden, andere wurden getötet. In diesen Tagen sind wieder einige iranische Christen in Gefahr, abgeschoben zu werden. Für manche von ihnen ist das ein Todesurteil. 

Adventskalender MiniKrimi am 6. Dezember


(danke, liebe Petra 🙂 )

Der eilige Nikolaus

In der Pandemie haben es Nikoläuse besonders schwer. Ich rede nicht von denen aus Schokolade, sondern ich meine die, die durch Kindergärten, Wohnungen oder Schulen ziehen, mit Mitra und goldenem Buch, um die Kinder mit einer Geschichte und ein paar Kleinigkeiten zu beschenken. So, wie es ihr Vorgänger vor rund 1700 Jahren in Myra gemacht hat. Dabei hat der historische Nikolaus durchaus eine Affinität zu pandemischen Zeiten, denn er erbte das Vermögen, das er an die Armen und Kleinen verteilte, von seinen Eltern. Und die waren an der Pest gestorben. Düstere Zeiten also, damals wie heute. Und wie immer, wenn es den Menschen schlecht geht, freuen sie sich ganz besonders auf schöne, herzwärmende Momente. Wie eine halbe Stunde mit Sankt Nikolaus, seinen Geschichten und kleinen Geschenken. 

Nun ist der Nikolausbesuch nicht nur für die lieben Kleinen – die bösen sehen ihm meist eher mit gemischten Gefühlen entgegen – und ihre Eltern eine Freude. Auch für die vielen Menschen, die am 6. Dezember in Kostüm und Rolle schlüpfen, ist dieser Tag wichtig, nämlich als fest einkalkulierter Verdienst. 

„Nikolausbesuch trotz Corona“ titeln daher Tageszeitungen und Webseiten schon seit Tagen und Wochen. Und tatsächlich ist die Vermummung bei diesem „Heiligen“ ja ohnehin praktisch Teil des Kostüms, so dass die ihn selbst und die Anderen schützende FFP2-Maske gut unter einem entsprechenden Rauschebart verborgen werden kann.

 Und trotzdem ist das Geschäft auch heuer, im zweiten Jahr in Folge, für die berufsmäßigen Nikoläuse mau. Studenten, Gelegenheitsarbeiter und Minijobber hocken frustriert auf der Couch und starren nostalgisch auf Handyvideos vergangener Performances, während draußen zarte Flocken aus dem Himmel rieseln. Kinder sitzen vor dem Fernseher und müssen mit einem Zeichentrick-Surrogat vorliebnehmen, oder mit Fantasy-Gebilden aus der Disneyschen Traumfabrik.

Aber halt! Wer stapft denn da durch den frisch gefallenen Schnee auf dem Kirchplatz? Das gelbe Laternenlicht malt bizarre Schatten auf die lichtglitzernden Tannen, und dazwischen bewegt sich eine große Gestalt in langem Mantel. In einer Hand hält sie einen Stab, in der anderen einen großen Sack. Sankt Nikolaus – denn wer sollte das sonst sein? – bleibt immer wieder stehen und schaut sich nach allen Seiten um. „Er sucht die Kinder, er sucht uns“, flüstert Lisa und versucht, den zwei Jahre älteren Bruder beiseite zu schieben, um einen besseren Blick durch das beschlagene Fensterglas auf den Menschen zu werfen. 

Finn ist sieben und stolz darauf, nicht mehr an Nikolaus, Christkind & Co. zu glauben. Aber die Gestalt, die dort unten ganz offensichtlich über den verlassenen Park Richtung Kirche huscht, hat schon verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Mann, den es eigentlich nicht gibt. 

„Schau mal, jetzt ist er an der Tür zur Sakristei. Er denkt bestimmt, die Kinder warten wegen der Kälte heute drinnen auf ihn. Komm, Finn, wir müssen runter! Stell dir mal vor, wie enttäuscht Sankt Nikolaus ist, wenn er drinnen gar niemanden findet.“ Und als sie sieht, dass ihr Bruder noch zögert, fügt sie verschmitzt hinzu: „Der Sack sieht so aus, als wären da viele Überraschungen drin. Und wenn wir die einzigen Kinder sind…..“

„Ok. Komm.“ Finn geht vorsichtig zur Zimmertür, schaut nach, ob die Luft rein ist, winkt seiner Schwester, und dann schleichen beide auf Zehenspitzen, Winterjacken in der Hand, aus der Wohnung. Eltern sind solche Spielverderber. Wahrscheinlich hätten sie ihnen „wegen Corona“ verboten, dem Nikolaus hinterherzulaufen.

Draußen ist es eiskalt und stockdunkel. Im Park springen sie von Lichtpfütze zu Lichtpfütze, gehen zwischen den Tannen in Deckung und suchen den Heiligen Mann. Schwer ist das nicht, denn seine Stiefel haben im Schnee deutliche Spuren hinterlassen, bis hin zur Sakristei. Die Tür steht einen Spalt offen. „Alles dunkel. Wahrscheinlich ist er schon wieder weg“, flüstert Finn. „Der Arme, er war sicher total enttäuscht“, antwortet Lisa. Aber da sehen sie einen Lichtstrahl im Kirchenraum umherirren. „Komm“, sagt Finn wieder. Und die Geschwister schieben sich vorsichtig in die Sakristei. Auch im Dunkeln erkennen sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Tisch ist umgeworfen, die Türen der Schränke mit den Messgewändern, Kerzenhaltern, Kelchen und allem, was in einer Sakristei an Kostbarkeiten aufbewahrt wird, hängen schief in den Angeln. Aus dem Kirchenraum dringen Geräusche, ein Klirren, ein dumpfer Knall, ein Fluch. Lisa starrt ihren Bruder an. „Der Nikolaus flucht doch nicht… oder?“ „Nein. Er kommt zurück. Schnell in den Schrank!“ 

Hinter Messgewändern versteckt beobachten die Kinder, wie Sankt Nikolaus hastig die Sakristei durchquert, mit dem prallen Sack in der Tür hängenbleibt, ihn losreißt und in der Dunkelheit verschwindet.

„Halt, halt, unsere Geschenke,“ flüstert Lisa erschrocken. „Pssst“, faucht ihr Bruder. „Schnell.“ Er zieht die Schwester hinter sich her zum Pfarrhaus. Dort läutet er Sturm. 

„Der Nikolaus ist aus der Kirche gelaufen und hat vergessen, uns unsere Geschenke zu geben“, erklärt Lisa dem verblüfften Pfarrer und den Gästen, mit denen er gerade gemütlich zu Tisch saß. „Nein, er hat alles gestohlen“, ruft Finn. „Da läuft er!“

Tatsächlich kommt der unheilige Mensch mit dem schweren Sack im Schnee nur langsam voran. Der Pfarrer und seine Gäste rennen ihm nach – immer den Spuren im frischen Schnee hinterher.

Lisa und Finn haben es nicht eilig, nach Hause zu kommen – sie gehen ganz sicher einer saftigen Standpauke entgegen. „Ob sie ihn fangen, den Nikolaus?“, fragt Lisa. „Bestimmt. Wenn er nicht um die Ecke einen schnellen Schlitten geparkt hat“, antwortet Finn.

Adventskalender Minikrimi am 10. Dezember


Foto: Tama66

Die Kreuzfahrer

Während der Zugfahrt versucht Matthieu, sich einzustimmen auf das, was ihn erwartet. Er ist katholisch erzogen worden. Gebetsbildchen mit einer fromm blickenden Muttergottes und dem Heiligsten Herzen Jesu, Weihrauch satt und warmes Holz atmende Beichtstühle. Unter einem Predigerseminar kann er sich auch nach einer ausgedehnten Internetrecherche kaum etwas vorstellen. Hartnäckig halten sich Visionen von gotischen Hallen, von flackernden Kerzen und düsteren Heiligenbildern, von strengen Rektoren und blassen Dozenten. Wie Jana, die bunte, quirlige Exzentrikerin, dort hinein passt, übersteigt seine Vorstellungskraft.

Und dann ist er da, Jana steht am Bahnsteig, nur Hände, Wuschelkopf und Beine schauen aus dem warmen Plüschmantel hervor. Als sie spricht, formen sich die Worte zu Atemwolken, so kalt ist es. „Schön, dass du da bist.“ Sie begrüßt Matthieu mit zwei Küsschen und einer Umarmung, so fest, dass er spürt, wie wichtig es ist, dass er ihrer Einladung gefolgt ist. Eigentlich war es mehr ein Hilfeschrei, untypisch für seine pragmatische Freundin aus der Kinderzeit. „Matthieu, hier im Predigerseminar passieren ganz  merkwürdige, schreckliche Dinge. Ich habe Angst. Kannst Du kommen?“

Matthieu ist Privatdetektiv, schreckliche Dinge sind sein Beruf. Seltsam, denkt er, wie sich die Rollen im Verlauf eines Lebens verändern. Früher war er es gewesen, der Jana um Hilfe gebeten hatte. Wenn sich eine Spinne in seinen Haaren verfangen hatte. Wenn er die Hausaufgaben nicht gemacht oder die Unterschrift der Eltern unter einer 5 vergessen hatte. Und jetzt wird ausgerechnet Jana Pfarrerin, und er löst die handfesten Probleme anderer Menschen.

„Eigentlich geht das schon länger so. Aber anfangs haben wir uns nichts dabei gedacht. Seit  zwei Wochen ist es richtig schlimm geworden. Ich bin nicht die einzige, die Angst hat, dass bald was Furchtbares passiert.“ Sie gehen durch die kalte Nacht zu dem Zimmer, das sie während der Wochen im Predigerseminar bewohnt.

Am ersten Tag nach ihrer Ankunft, erzählt sie, hatte jemand die gestaltete Mitte im Seminarraum des Hermeneutik-Dozenten auf verstörende Weise verändert: die liebevoll ausgebreiteten Herbstblätter waren mit roter Farbe übergossen und in Fetzen gerissen, so dass das blaue Seidentuch darunter aussah wie ein Schlachtfeld. Am nächsten Tag zur Andacht hing das Kreuz in der Kapelle verkehrt herum hinter dem Altar. Pfarrerin P. hatte fast der Schlag getroffen, und zwar wortwörtlich, denn gerade als sie die Untat näher besehen wollte, war das Kruzifix zu Boden gekracht. Es hatte sie nur um Millimeter verfehlt.

„Das ist mehr als ein dummer-Jungen-Streich“, muss Matthieu zugeben. Kein noch so frustrierter Vikar würde seinem Ärger auf diese beinahe mörderische Weise Luft verschaffen. Oder? „Es wird noch schlimmer, warnt Jana. Sie sitzen nebeneinander auf ihrem Bett, jeder mit einer Bierflasche in der Hand. Es ist warm, und bei Kerzenlicht sieht der kleine Raum beinahe gemütlich aus. „Beim Praxisbeispiel Gemeindearbeit sollte das Video von einem Gemeindefest laufen. Stattdessen sahen wir unseren Studienleiter sehr privat in einem Swingerclub.“ „Das ist natürlich peinlich, aber..“ „Er wurde dabei gefilmt, wie er eine Frau..also… wie er sie erwürgte. Er versicherte uns immer wieder, dass das ein Fake sei und er nichts damit zu tun habe, rein gar nichts.“ „Und, habt Ihr ihm geglaubt?“ „Du weißt ja, wie das ist. Selbst wenn nix dran ist, irgendwas bleibt immer haften.“ 

„Aber wer könnte denn ein Interesse daran haben, Eure Dozenten zu „dezimieren“? Matthieu kann sich ein Predigerseminar beim besten Willen nicht als Tatort vorstellen, ebenso wenig wie als Hort eines mordlüsternen Geistes. „Ich würde jetzt gerne diese Nacht darüber schlafen. Und morgen schaue ich mir dann alles an, vielleicht finde ich tatsächlich etwas heraus.“ 

Sie schlafen wie in ihren Kindertagen, eng aneinander geschmiegt, tief und entspannt. Sie haben sich schon immer gegenseitig Kraft gegeben.

Am nächsten Morgen begleitet Matthieu Jana zur Andacht. Sie sind die ersten und haben bereits einen Spaziergang durch den raureifweißen Seminargarten gemacht. Ein blasser Himmel wölbt sich über Dächer und Bäume, er verspricht Schnee und noch mehr Frost. Vor der Kirchentür trifft Jana die Frau des Rektors.

Inzwischen stößt Matthieu das schwere Holzportal nur mit Mühe auf. Etwas blockiert den Flügel von innen. Der Dozent für Gemeindearbeit. Er ist noch warm und liegt mit zertrümmertem Schädel in seinem Blut, neben dem Kopf auf dem Kirchenboden ein silberner Leuchter.

Während die Polizei ermittelt, sitzt Matthieu im Kreis der erschütterten Theologen. „Wer könnte ein Motiv gehabt haben, den Mann zu ermorden?“, fragt er in die Runde. „Er selbst – nachdem das Video schon auf Youtube zu sehen ist. Aber sonst?“ Sie sind alle ratlos. Eines ist klar, jetzt werden im Priesterseminar Köpfe rollen. Bildlich gesprochen! „Und das, nachdem der Rektor sich grade entschlossen hatte, seinen Ruhestand noch um zwei Jahre nach hintern zu schieben“, bemerkt Jana. „Naja, seine Frau wird sich freuen. Sie hat mir eben erzählt, dass sie ihm zu Weihnachten Tickets für eine Kreuzfahrt geschenkt hat. Die hätte sie in die Tonne werfen können, wenn er geblieben wäre. Des einen Freud….“

… ist des anderen Leid. Trotzdem. Matthieu kann es zunächst nicht glauben. Er betritt das Gebäude – und irgendwie ist alles so, wie er es sich ausgemalt hatte. Und doch auch ganz anders. Lange Flure, dunkle Türen, poliertes Parkett. Nischen mit Bildern, schweren Sesseln und Topfpflanzen. Er trifft den Rektor in der Bibliothek. „Ich fasse es nicht. Erst diese unsinnigen „Anschläge“, und jetzt auch noch ein Mord! Wer tut so etwas? Ausgerechnet hier?“

Matthieu erfährt, dass der Rektor tatsächlich geplant hatte, im Sommer in den Ruhestand zu gehen. Aber dann hatte sich die Suche nach einem Nachfolger schwierig gestaltet, er hat das Seminar „gut im Griff“, wie er sich ausdrückt. Und so war er von der Kirchenleitung gefragt worden, ob er sich eine Verlängerung seines Amtes vorstellen könne.  Er hatte zugestimmt. Erleichtert, denn die Aussicht, sein Büro, die Bibliothek und die langen Flure gegen noch längere Urlaubsreisen mit wildfremden Menschen, ausgedehnte Spaziergänge und vielfältige Arbeiten in Haus und Garten einzutauschen, war ihm wie eine düstere Drohung erschienen. Seine Frau hatte er nur im Nebensatz über die Planänderung in Kenntnis gesetzt. „jetzt muss ich natürlich umgehend meinen Sessel räumen. Nach allem, was passiert ist. Schade.“

Matthieu findet die Frau auf einer Bank vor der Kapelle. Schweigend sitzen sie nebeneinander. Das ist die Art, wie Matthieu seine Fälle löst. Dem Täter ganz zugewandt. „Ich bin am Ende doch etwas zu weit gegangen, mit dem Mord“; sagt die Rektorengattin schließlich. „Aber vielleicht geht er ja ohne mich auf Kreuzfahrt.“

„Du hättest auch Pfarrer werden können“, sagt Jana später. „Und du Detektivin. Du hast mich auf die Spur gebracht.“ Bevor er in den Zug einsteigt, küssen sie sich. Pfarrerin und Detektiv – vielleicht gar keine schlecht Kombination? 

Adventskalender MiniKrimi vom 20. Dezember 2018


Der Schutzpatron

Nur noch vier Tage bis Weihnachten. In dieser Zeit drängen die Erinnerungen immer mit besonderer Macht in Gregors Gedanken hinein. Silberne Glöckchen und ein heller Kindersopran, knisternde Erwartung, die Kerzen am Baum, die kalte Kirche, die Krippe mit Stroh. Das Weinen, die Wut, seine Ohnmacht. Genug! Gregor beschleunigt seinen Schritt, um schnell am Portal von Sankt Michael vorbei zu kommen. Da sieht er eine ältere Dame, die sich bemüht, die Stufen zur Kirche zu erklimmen. Widerwillig hilfsbereit eilt Gregor hinzu, nimmt den pelzummäntelten Arm und geleitet die Dame hinauf. Damit ist es aber nicht  genug, das sieht er. Also zieht er mit Kraft am kupfernen Griff (wollen die den Gläubigen den Eintritt erschweren oder verwehren?) und hält ihr die Tür auf. Ihr Lächeln nimmt er kaum wahr, sie sagt etwas, aber er hört nicht mehr hin. Wie in einem Orkan brausen die Bilder nun auf ihn ein.

Gregor war im 5. Studienjahr. Er wohnte im Priesterseminar und absolvierte mit einem Mitstudenten ein Gemeindeseelsorgepraktikum in Sankt Michael. Vor Weihnachten hatten sie besonders viel zu tun. Es gab unzählige Gründe für Depressionen angesichts des bevorstehenden Festes in dieser reichen, vereinsamenden Stadt. Zu wenig Geld, zu viel Geld. Niemanden zum Beschenken, zu viele herangetragene Wünsche. Keinen Glauben, enttäuschten Glauben. Und die Kirche schien alle anzuziehen wie ein Magnet. „Die Christmette muss etwas ganz besonderes sein, sie brauchen das, alle. Wir dürfen sie nicht enttäuschen“, hatte der Priester den Druck aufgebaut. Und so wurde der Baum golden geschmückt, und die Chorknaben probten unter der Leitung von Gregors Studienkollegen Stunde um Stunde. Gerade hatte  er mit Max, dem Glockensopran, eine Einzelprobe. So hatte er gesagt, und so dachte Gregor. Aber als er in den kleinen Chorraum hinter der Sakristei kam, sah er den Studenten von hinten über den Knaben gebeugt, und ganz deutlich hörte Gregor diesen weinen.

Erst stand er, zur Salzsäule erstarrt, dann rannte er weg. Nicht zum Priester. In sein Zimmer. Er wusste genau, was er tun musste. Und war zu feige dazu. Später versuchte er, seinen Kommilitonen zur Rede zu stellen. Doch dieser tat  so, als habe Gregor sich das alles erträumt: „Du hast ja eine ganz perverse Phantasie, hast Du. Wenn Du mit Deinen Verleumdungen hausieren gehst, sehe ich mich gezwungen, mit meinem Onkel dem Prälaten über Dich zu sprechen“.

Und während Gregor noch zauderte, nahm die Sache eine ganz andere Wendung. Max’s Mutter kam auf ihn zu, woher sie was wusste – keine Ahnung. Jedenfalls drohte sie ihm mit dem Schlimmsten, wenn er nicht….. Nun, sie hatte ganz offensichtlich Gefallen an Gregor gefunden. Ein Jahr lang hielt er das erzwungene Verhältnis aus. Dann konnte er, der sich wirklich hatte keusch halten wollten vor und für Gott, nicht mehr. Er wurde schwer krank, und nach seiner Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik gab er das Theologiestudium auf. Einer Kirche war er in den vergangenen 30 Jahren nie wieder  nahe gekommen.

Jetzt steht Gregor im Mittelgang und zittert. Die Vergangenheit schüttelt ihn so stark, dass er die Hand auf seinem Arm zunächst nicht einmal spürt. „Greegor“, sagt eine Stimme an seinem Ohr. „Greegor!“ Sie alt geworden, vor der Zeit. Trotzdem hätte er sie erkennen können, in ihrem Pelzmäntelchen, wenn er sie nicht in der hintersten Ecke seiner Seele versteckt hätte. Und jetzt? Entschuldigt sie sich? Ist es dafür zu spät? Aber was sagt sie da? „Greegor,  Du hier. Mit mir. Das ist Schicksal, das ist Gottes Fügung. Komm, wir trinken einen Granatapfeltee, so wie immer. Du weißt ja, ich wohne ganz in der Nähe.“

Gregor spürt die Wut in sich aufsteigen. Die Scham. Unbändigen Zorn. Auf sie, die ihm sein Leben zerstört hat. Auf sich, weil er zu feige war, Max zu verteidigen. Auf die Kirche. Auf – er dreht sich zu ihr um, will ihr die Hände um den Hals legen und sie erwürgen. Vor seinen Augen dreht sich alles in Schwarz.

Sie muss einen Schritt zurückgewichen sein, nicht einmal aus Angst. Um ihn besser zu sehen. Dabei tritt sie gegen die Absperrung um den Seitenaltar, der gerade restauriert wird. Ein Balken löst sich vom Gerüst. Sie ist auf der Stelle tot. Der Heilige Antonius schaut aus der Altarnische auf Gregor herab. Er kennt sich mit sowas aus.

 

c0109 oder warum ich nicht nach Chemnitz fahre. Heute.


Bei uns daheim herrscht dicke Luft. In der Familie wurde gestern Abend heiß darüber diskutiert, wie und mit wem wir heute nach Chemnitz fahren sollten. Ob – das stand zunächst nicht zur Debatte. Bis ich das Gespräch darauf brachte. Seitdem bin ich Persona non grata im Hause.

Damit kann ich leben. Schlecht. Daher, und auch für mich selbst, damit ich meine Gedanken mal klar auf Linie bringe, hier der Versuch einer Argumentation. Ich hoffe, dass die Kette nicht reißt, zwischen den Zeilen. Und ich bin gespannt, ob es anderen da draußen ähnlich geht, ob ich einen Shitstorm auslöse, bedauerndes Kopfschütteln oder, und das wäre mir am liebsten, klare Kante Gegenargumente. Oder Pro. Oder so.

Ehrlich gesagt, hatte ich vorher nur ein leises Unbehagen, wenn es darum ging, sich zu Demos an entfernten Orten aufzumachen. Noch ehrlicher gesagt, habe ich dieses Unbehagen erst, seitdem ich die Teens+ hinter mir gelassen habe. Vorher, diese Erinnerungen will ich nicht der selektiven Amnesie anheim fallen lassen, vorher also waren Fahrten nach Wackersdorf, La Hague, Dannenberg Ehrensache. Nein, Fukushima nicht. Mehr.

Gestern dann las ich einen Thread auf Instagram, Kommentare zum Post von FeineSahneFischFilet über das Konzert am Montag in Chemnitz. Da äußerten junge AntiFaschisten aus Sachsen ihren Unmut über das Konzert. Da kämen Tausende aus ganz Deutschland wegen der Musik und/oder weil sie Flagge zeigen wollten, gegen die Rechten. „Und am Dienstag sind sie wieder weg, und wir haben hier bei uns niemanden dazu gewonnen, aber die Stimmung ist noch aufgeheizter“, so klagten sie.

Und da begann der Unmut in mir Worte zu finden. Klar, es ist wichtig, zu zeigen: #wirsindmehr! Ebenso klar ist es, dass wir tatsächlich mehr sind. Mehr Demokraten, mehr Leute, die nie wieder Faschismus haben wollen, in Deutschland. Mehr, die nichts gegen Flüchtlinge haben (statistisch gesehen sogar rund 70%, das besagen alle Umfragen).

ABER die Frage, die sich mir stellt, lautet: wie bekommen wir die Lage in Ostdeutschland in den Griff? Als Krimitautorin habe ich schon einen Plot im Kopf, der im Deutschland nach dem Wiederaufbau der Mauer spielt. Aber das ist Autorenfiktion. Wie kriegen wir die Ostdeutschen (also diejenigen von ihnen, die bei Mahnwachen blank ziehen, den Hitlergruß zeigen und „absaufen“ skandieren, wenn es um Flüchtlinge im Mittelmeer gehr) dazu, daran zu glauben, dass Demokratie etwas gutes ist, dass sie weiter ihre Klöße und Rostbratwürste essen können, auch, wenn nebenan eine Dönerbude steht. Ehm – aber das tut sie doch schon, und da gehen sie sogar hin, und gerne….. letztendlich reduziert sich die Frage dann so: wie kriegen wir die rechten Demonstranten dauerhaft von der Straße, in Chemnitz, Dresden und anderswo? Und dann, in der Erweiterung: wie verhindern wir rechte Parolen, Angriffe auf Ausländer und, ja, auch die AfD? Aber diese Frage ist dann schon nicht mehr auf den Osten Deutschlands begrenzt! Tja, so ist das!

Warum also fahre ich nicht nach Chemnitz? Weil ich glaube, dass ich den Chemnitzern, die keine rechten Parolen schreien oder denken, die nichts gegen Geflüchtete haben, die sich noch gut an den zweiten Teil des Rufes „Wir sind das Volk“ erinnern („keine Gewalt“), die sich für die Bilder der nazigrüßenden deutschen Randalierer schämen, die derzeit durch die internationalen Medien kreisen – dass ich diesen Chemnitzern mit meiner Anwesenheit nicht helfe. Nicht wirklich und auch nicht ideell.

Weil ich davon überzeugt sind, dass sie wissen: wirsindmehr! Weil ich nicht davon überzeugt bin, dass, weil ich auf ihre Straßen gehe, sie das auch tun werden. Weil meine von Bundespolizisten geschützte Anwesenheit sie nicht davor bewahren wird, morgen, wenn ich weg bin, von sächsischen Polizisten, die „im Umgang mit demokratischen Mitteln wie Demonstrationen“ geschult sind, angegriffen zu werden. Oder vom Nachbarn angepöbelt, ausgebuht, im Job gemobbt oder schlimmeres zu werden.

Weil ich denke, dass zu beweisen, dass wir mehr sind, bedeutet, Eulen nach Athen zu tragen, wenn „wir“ aus allen Ecken Deutschlands anreisen. Weil das „wir“ aus den Menschen im Osten heraus kommen muss, um einen Zusammenhalt zu schmieden, um einen Sinneswandel anzustoßen.

Auf meine Frage, warum so viele Menschen im Osten so fremdenfeindlich seien, so demokratieverdrossen nach so kurzer Zeit, so unheimlich hasserfüllt, antwortete mir eine junge Studentin, die als Kind in Dresden gelebt und später nach München zurück gekommen ist. Ihre Antwort gibt mir zu denken:

Die Menschen im Osten haben Angst. Es leben kaum Ausländer dort, aber sie haben Angst, dass in der Zukunft viele Geflüchtete dorthin kommen könnten. Weil so viele Häuser leer stehen, weil im Osten mehr Platz ist als im Westen. Sie haben Angst, dass die ihnen dann was wegnehmen von dem wenigen, was sie haben. Weil sie das Gefühl haben, von der Wende übervorteilt worden zu sein. Weil sie unzufrieden sind und jemanden suchen, dem sie dafür die Schuld geben können. Weil sie mit der großen Freiheit, der Meinungen, der Wahl, der Freiheit zu gewinnen – aber auch zu verileren, nichts anfangen können. Weil es ihnen Angst macht, dass keiner mehr für sie entscheidet. Weil sie selbst nicht entscheiden können, sondern nur fordern und dann erwarten, dass sie alles kriegen.

Boah, starker Tobak. Ist das so? Ich habe selbst Verwandte „drüben“. Und ich kann eines beisteuern, hier. Ich habe erlebt, dass die Abgrenzung zum Westen in den Köpfen der Menschen dort erfolgt. Dass sie, nachdem sie „eins“ geworden sind mit den Geschwistern im Westen, einen Identitätsverlust erlebt haben, den sie mit DDR- Reminiszenzen kompensieren. Von der Spreewaldgurken über die Datsche bis hin zu Redewendungen. Wir haben das DDR-Sandmännchen schon immer schöner gefunden und freuen uns, es jetzt deutschlandweit zu haben. Sie sagen, wir haben es geklaut. Wie die Ampelmännchen.

Und singen das Deutschlandlied und brüllen den Hitlerruf – und vergessen, dass er es war, der „unsere Heimat“ in Schutt und Asche gelegt hat und letztendlich daran Schuld ist, dass sie 40 Jahre in der DDR gefangen waren. In die sie jetzt zurück möchten, oder? Mensch, was wollen die eigentlich???

Vielleicht ist das die Kernfrage, die wir uns alle stellen müssen. Vielleicht wäre die Antwort darauf die Lösung des Problems. Denn dass es ein Problem ist, ist unbestritten. Die auf der Straße haben ein Problem, und die hinter den Vorhängen auch, und wir ebenfalls.

„Unsere Frauen haben Angst, auf die Straße zu gehen. Wegen der Ausländer.“ Das mag sein, aber das Problem existiert nur in den Köpfen. Statistisch gesehen verüben viel weniger Ausländer Straftaten als Deutsche. In Westdeutschland, und allemal in Ostdeutschland, denn dort gibt es praktisch keine Ausländer. Aber wie geht man mit einer Fake Reality um, die sich ausbreitet wie Masern in den Köpfen der Leute?

Ich fahre nicht nach Chemnitz. Aber ich möchte dazu beitragen, dass rechte Gedankengut aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben. In Dresden, in Karl-Marx-Stadt und überall. Ich glaube, das geht nur durch Erziehung. Durch kulturelle Begegnungen. Von Kindern. Und Eltern. Nur so geht das!

Wenn ich doch nach Chemnitz gehen würde, dann im Rahmen eines Projektes, dass gezielt Familien verbindet. Deutsche und ausländische. Wenn ich denn solche fände, dort. Und ich glaube, auch in Dresden sollten alle, die rechtes Denken bekämpfen wollen, sich solche Projekte suchen, sie aufbauen, sich vernetzen mit Kirchen, ja, mit Kirchen. Mit sozialen Organisationen. Mit linken Strukturen. Mit Studenten. Ich glaube, Veränderung braucht Zeit und muss in die Herzen der Kinder gepflanzt werden.

Wenn oben auf dem Podium bei einer Demo Kinder stünden, blonde Kinder mit großen blauen Augen, schwarze Kinder mit großen braunen Augen, wenn Kinder durch die Reihen der Demonstranten gehen würden, mit offenen Armen. Würde ein Rechter ein solches Kind schlagen?

Eine Freundin von mir, die ich seitdem nicht mehr treffe, erklärte auf einem Fest, es sei jetzt endlich genug mit den Asylanten. Bei uns gäbe es genug Arme. Darauf gehe ich jetzt nicht ein, dazu schreibe ich ein andermal. Auf diesem Fest waren auch Menschen aus Indien, aus afrikanischen Ländern. Zwei kleine Mädchen tanzten zusammen. Ein blondes und ein schwarzgelocktes. „Guck mal, wie süß!“, sagte meine Freundin. „Das Mädchen ist aber eine Asylantin“, sagte ich. „Trotzdem. Die muss natürlich bleiben“, erklärte meine Freundin hingerissen. Vielleicht sollten wir viel mehr auf dieser Logikebene spielen……