MiniKrimi Adventskalender am 10. Dezember


Schuldwald (Auszug)

Marie Bastide

Carla 1989

Der Anruf kam um 2.28 Uhr. Das Klingeln weckte Carla aus einem unruhigen, von Albtraumsequenzen durchzogenen Schlaf, und sie tastete panisch nach dem roten Zugseil, um die schwere Eichentür zu öffnen – wohl wissend, dass dahinter ein neunköpfiges Ungeheuer kauerte, zum Angriffssprung bereit.

Die Wirklichkeit übertraf allerdings jeden ihrer Albträume. „Frau Dr. Lemke? Hofmann, Polizeipräsidium Frankfurt. Es geht um Ihre Tochter.“ „Victoria?“, fragte Carla und kämpfte sich vollends an die Oberfläche der Nacht. Als hättest du mehr als ein Kind, dachte sie. Jetzt stieg Panik in ihr auf. „Was ist passiert?“, fragte sie. Polizeipräsidium – also kein Unfall, schoss es ihr durch den Kopf. „Alles in Ordnung, soweit. Ihre Tochter ist hier bei uns. Sie wurde bei einem Einsatz im Flörsheimer Wald … (Pause, dann, zögernd) … mitgenommen. Am besten, Sie kommen gleich vorbei. Dann erledigen wir ein paar Formalitäten, und Sie können sie mitnehmen. Sie finden uns in Raum 232.“ Als wäre Victoria ein liegengebliebener Regenschirm, der aus Versehen von jemandem im Wald eingesteckt worden war und jetzt seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückgegeben werden sollte! Und das möglichst schnell, damit das Präsidium durch die unbotmäßige Anwesenheit nicht unnötig belastet würde. Alle weiteren Fragen zurückdrängend, sagte Carla nur: „Ich komme. Bin in einer halben Stunde da.“

Das Polizeipräsidium wirkte um diese Zeit wie eine aufgelassene Filmkulisse. Gelbes Licht übergoss die wuchtigen Treppen. Die Flure, die sich links und rechts davon öffneten, sanken in sich zusammen. Ohne die arbeitstäglichen Hintergrundgeräusche saugten die Wände alles auf, Bewegungen, Schritte, sogar die halblauten Gespräche der vier Beamten vor Raum 232. Als Carla vom Treppenhaus in den Flur einbog, hoben die Männer ihre Köpfe, gleichzeitig, wie auf Befehl. Sie sahen sie an mit durchbohrenden Blicken, die auf Einschüchterung programmiert waren. Als die Beamten sie erkannten, senkten sie ihre Augen. Denn sie wussten genau, wo solche Lanzenblicke erlaubt waren und wo nicht. „Frau Ministerialdirigentin“, murmelte einer von ihnen, trat einen Schritt zurück und gab den Eingang zu Raum 232 frei, während ein anderer die Tür für Carla öffnete.

Die gleiche Begrüßung, diesmal von einem Mann mittleren Alters in Zivil und graugepfeffertem Schnurrbart. Er saß hinter einem einfachen Büroschreibtisch, auf dem nichts weiter lag als ein Block und ein Kugelschreiber. Ihm gegenüber zwei graue Plastikstühle. Auf dem einen saß Victoria. Sie kippelte mit dem Stuhl nach hinten, bis sie an die Heizung stieß. Das Gluckern des Wassers in den Rohren und das Ticken der schmucklosen Uhr an der Wand waren die einzigen Geräusche im Raum.

Carla nickte dem Mann zu. Dann ging sie zu Victoria. Ihre Tochter baumelte mit den Füßen, die ein paar Zentimeter über dem Boden hingen. Sie starrte auf die Uhr und schien ihre

Mutter nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Victoria“, murmelte Clara und ihre Stimme klang genauso wie damals, als sie ihr Kind von Bauer Hinze entgegengenommen hatte, nachdem es beim Äpfel Klauen in den Misthaufen gefallen war. Oder als sie, mitten in einer klirrenden Winternacht, die 15-Jährige an der vereisten Brücke über den Urselbach abgeholt hatte, in dem das zu Schrott gefahrene Mofa lag.

Seit ihr Mann sie verlassen hatte, weil er nicht damit zurechtkam, dass sie als Frau die Karriereleiter immer weiter emporstieg, während er, der Ernährer der Familie, in seiner Kanzlei nur kleine Fische briet, war Carla eine sehr fürsorgliche Mutter. Mit Tendenz zur Glucke. Wenn sie imstande war, ihr Verhalten mit kühlem Kopf zu reflektieren, nahm sie sich vor, sich zurücknehmen. Leider war ihr Kopf in den Momenten, in denen Besonnenheit gefragt war, meist kurz vorm Explodieren. Entsprechend hitzig fielen ihre Reaktionen aus, wenn „das Kind“ mal wieder über die Stränge geschlagen hatte. Wie und wann und wo auch immer. Was dazu geführt hatte, dass Victoria sich immer weiter in sich selbst zurückzog. Der klassische Dialog zwischen Mutter und Tochter in den Jahren, seit Victoria in die Pubertät gekommen war, verlief immer gleich: „Warum lügst du schon wieder?“ „Warum vertraust du mir nicht?“ „Weil du mein Vertrauen missbrauchst.“ „Weil du mir keines schenkst.“

Und jetzt das. Wie sollte sie einen klaren Kopf behalten, mitten in der Nacht, im Frankfurter Polizeipräsidium, mit Beamten vor der Tür und einem Betonkopf auf der anderen Seite des Schreibtisches, der von ihr das Unmögliche erwartete. Denn Carla wusste genau, was er, was „man“ von ihr wollte. Sie sollte ihre Tochter „zur Vernunft“ bringen, damit die dünne Akte auf dem nackten Holztisch nicht geschlossen, sondern geschreddert werden konnte. Carla hatte keine anderen Menschen in den Fluren des Präsidiums gesehen, die wie Demonstranten aussahen. Und mitten in der heißen Phase der Auseinandersetzungen um die Startbahn West wusste jeder, wie „ein Demonstrant“ aussah. Ein Prachtexemplar dieser Spezies saß auf dem Stuhl an der Heizung, den Kopf demonstrativ von Carla abgewandt. Lange, schmierige Haare, Springerstiefel, lila Haremshosen, schmutziger Wollpulli und darüber ein verdreckter grüner Parka. Um den Hals ein Palituch. Selbst bei Nacht waren Demonstranten unschwer zu identifizieren, denn von ihnen ging unweigerlich ein Geruchsgemisch aus Patchouli, nasser Wolle, Schweiß und Lagerfeuer aus. Victorias ganz persönliche Note war die pudrige Spur von Anais Anais. Ihr Parfum gab Victoria offenbar niemals auf, auch nicht während ihres Guerillalebens im Flörsheimer Wald. Die Erkenntnis hatte für Carla in diesem Moment etwas ungemein Tröstliches. Als sei noch nicht alles verloren, solange noch eine Erinnerung an ihren Lieblingsduft an ihrer Tochter haftete.

Das Gefühl machte Carla stark. „Victoria“, versuchte sie es noch einmal. Zaghaft, mit langem sanftem O, sorgsam moduliert wie eine schüchterne Annäherung. Wie viele Sätze sich in einem Wort stapeln können, wie viele Bedeutungen, Wünsche gar, dachte Carla. Bitte, hör mir zu.

Bitte, schau mich an, nur ganz kurz. Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich stehe hinter dir. Alles wird gut. Nein, alles ist gut. Schau, ich mache den ersten Schritt. Ich reiche dir die Hand. Bitte, Victoria, greif nach ihr.

Stille.

Der Mann in Zivil räusperte sich. Das Telefon klingelte. „Ja? Nein. Gut. Gut. Ja. Bis dann.“ „Also, Frau Dr. Lemke. Fräulein Lemke. Meine Leute hier – er zeigte auf die Tür, hinter der offensichtlich noch immer die Polizisten standen – hätten gern noch ‘ne Mütze voll Schlaf, bevor es hell wird. Wenn Sie nur hier bitte kurz unterschreiben“, er hielt Victoria einen Bogen Amtspapier hin, „dann erhalten Sie von mir Ihren Ausweis zurück und können mit Ihrer Mutter nach Hause gehen. Sie sind doch sicher auch todmüde.“ Da endlich hob Victoria den Kopf und dreht sich zu ihrer Mutter. Sah sie aus großen grünen Augen an. Ihre Blicke kreuzten sich. Eine stumme Bitte der eine, der andere voll trotziger Abwehr.

„Nein“. Ihre Stimme klang müde und brüchig. „Wo sind meine Freunde? Ich will zuerst meine Freunde sprechen. Ich will wissen, wie es ihnen geht. Bringen Sie mich zu ihnen. Ich will keine Sonderbehandlung. Meine Mutter braucht nicht für mich die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Das mach ich schon selbst.“

„…und verbrennst dich dabei“, dachte Carla, doch sie schluckte die Worte unausgesprochen hinunter. Der Beamte wirkte unschlüssig. Er schaute von Mutter zu Tochter zu Mutter. „Das kommt davon, wenn man die Zügel zu locker

lässt“, war deutlich an seinem Gesichtsausdruck abzulesen. Aber er hatte seine Anweisungen. Eine bockige Victoria war darin nicht vorgesehen. „Fräulein Lemke“, er versuchte, überzeugend zu klingen. „Sie wollen ihrer Mutter doch bestimmt keinen Ärger machen.“ Nicht noch mehr, meinte er damit. „Ihre Freunde haben sich doch auch nicht um sie gekümmert. Wenn jetzt einer zu denen kommen und die Zellentür aufmachen würde, einfach so, ganz ohne Bedingungen – meinen Sie, die würden nach Ihnen fragen?“

„Das ist mir egal. Ich will jetzt sofort in eine Zelle gebracht werden, wie alle anderen. Oder vor den Untersuchungsrichter. Oder was auch immer!“ Victorias Stimme war wieder laut und klar. Sie sprang vom Stuhl auf, voller Kraft und geballter Wut. (…)

Victoria 2023

Widerwillig streckt sie die Hand nach dem dünnen, in grünes Leder gebundenen Büchlein aus, misstrauisch, als könnten ihr aus den Seiten jahrzehntealte Vorwürfe und ungeliebte Wahrheiten entgegenspringen. Sie braucht den Eintrag nicht zu lesen. Sie erinnert sich genau an alles, was in jener Nacht passiert ist. Und an die Folgen. Denn was im Flörsheimer Wald begonnen hat, hat sie nie mehr losgelassen. Die ganzen 40 Jahre.

Am Anfang war alles nur ein Spiel. Verstecken im Wald. Uni schwänzen. Und ein paar der Profs waren auch dabei

gewesen. Politische Aktivisten, sozusagen. Ja, einer war zeitweilig sogar mit Berufsverbot belegt worden, wegen Zugehörigkeit zu einer verbotenen linksextremen Partei. Absolut cool, so schien es den Jurastudenten damals. „Wir dachten, die seien auf unserer Seite. Wir glaubten, die wollten mit uns die Welt verändern. Phhh! Als ob“.

Victoria denkt an die Wochen im Wald, an das Hüttendorf. Sie kann den Rauch aus Hunderten von Lagerfeuern riechen, der über allem hing. Kann die Alltagsgeräusche des Dorflebens hören. „Wie alles, selbst etwas so Improvisiertes, aus trotzigem Widerstand Geborenes und zur Flüchtigkeit Bestimmtes ganz schnell seine eigene Normalität entwickelte. Eine Decke aus Gewohnheiten und Ritualen, in die wir uns einkuscheln konnten, als Schutz vor der Außenwelt, vor den Bösen: dem Staat, der Polizei, den Spießern“, wundert sich Victoria.

Sie war keine echte Bewohnerin des Hüttendorfes gewesen. Nur eine Tagesbesucherin. Wenn sie 8 oder 10 Stunden in das „Revoluzzerleben“, wie ihr Kommilitone Kai die permanente Demo vor den Toren der Startbahn nannte, eingetaucht war, sehnte sie sich nach einer Dusche, einem Salat statt der ewigen Suppen und nach ihrem eigenen, frisch duftenden Bett. Kai, der selbst kein einziges Seminar schwänzte und nie in den „Wald“ hinausgefahren wäre, nannte Victoria deshalb liebevoll neckend „Freizeit-Erna“, in Anspielung auf Ernesto Che Guevara. Sie wusste, dass er in sie verknallt war, wegen ihres Aussehens und ihrer mühelos guten Leistungen. „Wie kriegst du die ganzen Paragraphen nur in deinen Kopf“, fragte er, wenn sie zusammen in der Fakultätsbibliothek büffelten. „Das ist keine Kunst. Schwieriger ist es, sie da bei Bedarf auch wieder raus zu kramen“, antwortete Victoria dann unweigerlich und lachte. Ach ja. Rückblickend erkennt sie, wie sorglos diese Zeit gewesen ist. Wie nichtig die Bemühungen vor einer Klausur. Wie lächerlich die Stunde morgens vor dem Kleiderschrank, wenn sie sich auf ein Seminar bei Dolf Unütz vorbereitete.

Da. Jetzt hat sie den Namen wieder gedacht. In letzter Zeit gelingt es ihr immer öfter, ihn zu verdrängen. Natürlich nicht vollständig, das ist unmöglich, denn jedes Mal, wenn sie Carl ansieht, blickt sie in Dolfs Gesicht. Aber sie hat gelernt, weite Teile ihrer Vergangenheit mit einem Tabu zu belegen, abzusperren wie einen Tatort. „Spurensicherung. Halt. Hier dürfen Sie nicht rein.“

Spuren sichern. Genau das hat Victoria vermeiden wollen. Weil sie wusste, nein, fühlte, dass alle Spuren, die zu den Stunden im Flörsheimer Wald führen konnten, ihre Zukunft und ihr Leben in Gefahr bringen würden. Deshalb hat sie alles getan, um sie zu vergraben, ganz tief in ihrem Unterbewusstsein, unter Schichten von Manierismen, Ticks und Marotten, die ihr Umfeld als gegeben hinnimmt und nicht hinterfragt. Etwas so: „Die ist halt ein bisschen komisch. Aber sonst ganz ok.“ (…)

Die Geister, die ich rief. Hatte Victoria sie gerufen? Oder hatte sie sich einfach auf etwas eingelassen, dessen Größenordnung sie nicht erkannt und nicht einmal erahnt hatte? Ihre Mutter hat sie nie verwöhnt. Aber sie hat ihre rebellische Tochter auch nie ins Messer laufen lassen. Hat hinter ihr gestanden, auch, wenn sie etwas falsch gemacht hatte. Die Äpfel. Das Mofa. Statt einer Strafe hat Victoria sich mit ihrer Mutter auseinandersetzen müssen darüber, was richtig war und was falsch. Über die Moral der kleinen und später der immer größeren Dinge. So hatte sie ein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt und tief in sich verwurzelt. Daher das Jurastudium. Und daher letztendlich auch der Einsatz gegen die Startbahn West, gegen Aufrüstung und für den Frieden.

Und natürlich war da der Reiz des Verbotenen gewesen, der die „Freizeit-Erna“ gereizt hatte. Denn auch, wenn Demonstrationen legal waren, das Hüttendorf war es nicht. Revolution im Wasserglas, auch so ein Label von Kai. Das Sahnehäubchen auf der ganzen Aktion aber war er gewesen,

Dolf Unütz. Schwarm aller Studentinnen, vom ersten Semester bis zum ersten Staatsexamen. Anfang vierzig, also ein Grufti, mit schulterlangen dunkelblonden Haaren, schlank und mit ein paar Muskeln dort, wo sie deutlich sichtbar waren, ohne aggressiv zu wirken. Wenn er seinen stechend grauen Blick im Hörsaal über die Bänke schweifen ließ, errötete mehr als eine der Damen. Dolf, der mit dem ersten Buchstaben seines Namens die Last familiärer Vergangenheit gestrichen hatte.

Victoria gehörte nicht dazu. Im Zusammenleben mit Carla hatte sie sich ein perfektes Pokerface antrainiert. Das kam ihr nun zugute. Als er nach der Vorlesung hörte, dass Victoria ins Hüttendorf wollte, kam er auf sie zu und sagte: „Ich nehm‘ Sie mit.“ Einfach so. Keine Frage, kein Angebot, keine Erklärung. Von diesem Nachmittag an fuhren sie täglich zusammen in den Flörsheimer Wald. Irgendwo am Rand parkten sie seinen cremefarbenen Mercedes 380 SL und schlugen sich durch das Unterholz durch bis ins Dorf. Er vorneweg, sie hinterher.

Einmal trafen sie ein paar Hundert Meter vor den ersten Hütten auf einen Mann, den Victoria im ersten Moment für einen Polizisten hielt, ganz in schwarz mit Erde im Gesicht. Wie lächerlich, dachte sie. „Das ist Vicky, eine Freundin“, sagte Dolf. Vicky! Jetzt wurde sie rot, nickte dem Mann, der sich ihr nicht vorstellte, zu und sah auf den Boden. Braune Blätter, die Ränder gekräuselt vom Frost, vermischt mit Schlammkrusten, als sei hier vor kurzem ein Auto gefahren, oder ein Motorrad.

„Soso, Vicky. Dann pass mal gut auf und mach keinen Fehler.“ Und der Mann verschwand zwischen den dicht stehenden Sträuchern. Dolf und Victoria gingen schweigend die letzten Meter zum Hüttendorf. „Wer war das?“, fragte sie, doch Dolf begrüßte schon die ersten Demonstranten. Die Stimmung war aufgeheizt. Den ganzen Tag waren Gerüchte um die Lagerfeuer getragen worden. Die Polizei habe Hundertschaften zusammengezogen, Sondertrupps aus Bayern. Die Räumung stehe kurz bevor. „Wenn es heute tatsächlich zum Angriff kommt, dann versteck dich auf dem Weg zum Auto und warte da auf mich.“ „Aber – und Sie?“ „Ich habe noch was vor. Du wirst schon sehen.“

Als die Polizisten dann kamen, rannten alle schreiend durcheinander. Knüppel kamen zum Einsatz, wahllos wurde auf Alte, Frauen, sogar auf Kinder eingeschlagen. Es war eine Hetzjagd, wie Victoria sie bisher nur aus dem Fernsehen kannte. Und sie mittendrin. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz am Kopf. Sie stolperte, fiel vornüber auf den dichten Laubteppich – und dann nichts mehr.

Schuldwald ist der Roman, an dem ich aktuell arbeite: Ein Verbrechen, drei Generationen. Erst dem Enkel gelingt es, das Geheimnis aufzuklären, das über 40 Jahre das Leben von Mutter und Großmutter überschattet, und endlich einen alten Fluch zu brechen. Eine Mutter, deren Ideale von Pazifismus und Abrüstung im Schatten des Ukrainekriegs zerbrechen, die sich als Antwort zunehmend radikalisiert und in alten Terrornetzwerken verstrickt. Eine Großmutter, die den 2. Weltkrieg überlebt hat und deren großes Ziel es ist, Krieg für immer zu verhindern. Und ein Enkel, der für sich erkennt, dass er statt der Welt lieber ein Menschenleben retten will. Und am Ende genau daran scheitert.

Was sagt Ihr dazu?

MiniKrimi Adventskalender am 6. Dezember


Lasst uns froh und munter sein

„Ah, der Herr Bischof. So früh schon unterwegs?“ Es ist sieben Uhr morgens, und auf dem Domberg kauern noch die Schatten der Nacht, durchbrochen nur von den glitzernden Lichtern am riesigen Weihnachtsbaum und ein paar späten Sternen. Ganz hinten, dort, wo der Fluss den Himmel berührt, färbt erstes Morgenrot die Wiesen. Es ist ein idyllisches Bild, und der Bischof bleibt stehen, saugt die klare Winterluft tief ein und mit ihr den Frieden, der über seiner Stadt zu liegen scheint. Aber wie so oft, trügt der Schein auch hier.

Der Skandal um Missbrauch und sexualisierte Gewalt hat auch die Domstadt erreicht. Weniger heftig und weniger laut, als einige es befürchtet und etliche es sich erhofft hatten. Und gottlob liegen die „Fälle“, um die es geht, schon Jahrzehnte zurück. Fälle – das Wort nimmt der Bischof nie in den Mund, zum Kummer seiner Kollegen, Dekane und Priester. Für ihn sind es Schicksale. Jedes besonders, jedes tragisch, jedes so ganz aus der vorgezeichneten Lebensbahn geworfen durch die Hand eines Kirchendieners. Der Bischof mag auch nicht unterscheiden zwischen Priestern und Leitern von Chor und Jungschar. Welche Bedeutung hat es für die Betroffenen, ob es ein geistlicher, ein haupt- oder ehrenamtlicher Missbrauch war, dessen Opfer sie wurden? Für die Kirche wäre es vielleicht schon wichtig, darzulegen, dass viele der Täter keine Geistlichen waren, sondern Mitarbeiter der Kirche. Aber ganz ehrlich? Für den Bischof macht das keinen Unterschied. So oder so hat Kirche versagt. Gegenüber ihren Schutzbefohlenen und gegenüber ihren ureigenen Inhalten.

Auch dass über Jahre, Jahrzehnte hinweg die Gemeindemitglieder selbst Augen und Münder verschlossen haben, mindert die Verantwortung der Kirche nicht. Der einzige Weg durch dieses Tal der Schuld ist steinig und steil und heißt lückenlose Aufarbeitung. Der Bischof ist jung, gerade mal Mitte Vierzig. Deshalb wurde er für den Vorsitz der Kommission ausgewählt. Und deshalb verweigern ihm seine durchweg älteren Kollegen den Respekt, kritisieren seine Entscheidung zu völliger Transparenz, nicht nur gegenüber den Betroffenen, sondern auch in den Medien. Ein nie wiedergutzumachender Schaden, ein unauslöschlicher Makel unserer Institution, mit diesem mahnenden Ruf sind sie bis nach Rom gegangen. Und mit leeren Händen zurückgekehrt. Der Bischof weiß genau, dass sie seitdem nach anderen Möglichkeiten trachten, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Er ist sich keineswegs sicher, ob und wann dieses Trachten von Erfolg gekrönt sein wird. Auch darin hat die Kirche eine große Tradition.

Aber auch, wenn er kein Cesare Borgia ist – Vorsicht kann nicht schaden. Deshalb ist der Bischof heute schon in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen, um die Vorbereitungen für seinen Auftritt als Nikolaus, Bischof von Myra, heute Abend zu überwachen. Den Aufbau des Podests, von wo aus er ein paar Worte an die Menschen richten wird – er hat nicht vor, durch eine angesägte Latte zwei Meter auf Kopfsteinpflaster zu stürzen. Die Bereitstellung des Schlittens – mit Rollen, denn bislang hat es noch nicht geschneit, und die für den Abend vorhergesagten Flöckchen würden höchstens für einen malerischen Flaum auf seiner Tiara sorgen und nicht als Unterlage für die Kufen ausreichen. Und dann die mittelalterlich gestalteten Buden, an denen Met und Wuchteln, Früchtepunsch, Maroni und Grillfackeln verkauft werden – alles für einen guten Zweck, nämlich die Jugendarbeit in der Diözese. Es wäre nicht nur tragisch, sondern eine Katstrophe, wenn ein Dach einstürzen, ein Grill explodieren oder die Halterung eines Metkessels umkippen würde.

Damit wären dann gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen, für seine Gegner, weiß der Bischof. Er wäre eliminiert – vom Dom, von seinem Posten als Vorsitzender der Aufarbeitungskommission und, im schlimmsten oder besten Fall, je nach Ansicht des Betrachters, von dieser Welt. Die von ihm dank seines Charismas aufgebaute Familien- und Jugendarbeit, geprägt von Offenheit, Gemeinschaft von Männern und Frauen, egal ob cis oder non-binär, und Kindern, von Musik und Social Media Präsenz, bei der G*ott tatsächlich benannt und bedankt wird, diese Arbeit würde ohne ihn zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Und zeigen, dass es eben so nicht geht. Dass Kirche Hierarchien braucht, und die Kollegen wären schnell dabei, diese wieder hochzuziehen, eherne Mauern aus Respekt, Ohnmacht und Schweigen.

„Du bist paranoid“, sagt ihm Claus, sein Freund und Vertrauter, immer wieder. „Besser als ein Opfer“, antwortet der Bischof dann. Und fügt lautlos hinzu: schon wieder.

Jetzt geht die Sonne über dem Domberg auf. Ein strahlender Wintermorgen. Die Arbeiten auf dem Platz gehen gut voran, der Bischof wechselt hier und da ein Wort, trinkt einen Becher Kaffee. Dann kommt Dominika, eine seiner Jugendleiterinnen. Sie drehen ein TikTok Video über die Vorbereitungen und laden nochmal alle ein: „Heute Abend, 17 Uhr. Nikolaus, der Bischof von Myra, hat Geschenke für alle Kinder dabei. Es gibt genug zu essen, zu trinken, zu feiern und zu singen. Kommt alle. Wir freuen uns auf euch.“

Der Regionale Radiosender hat schon über das Nikolausfest am Domberg berichtet. Es ist das erste nach Corona, das erste, seit der neue Bischof da ist, und das allererste überhaupt in dieser freien Form. Es sind sogar evangelische und muslimische Jugendgruppen mit dabei!

Von einem Fenster im dritten Stock der fürstbischöflichen Residenz, die sich nahtlos an den Dom anschmiegt, betrachtet Bischof Richard missgünstig das bunte Treiben. Und fragt sich, wie schon so oft, wo und wann er den Weg dieses jungen Bischofs hätte umlenken könnten. Wie viel Ärger wäre der Kirche erspart geblieben. Wieviel Schmach! Aber wer hat schon ahnen können, dass dieser hübsche, sensible, stille Junge mit der silberhellen Stimme einmal so ein wort- und gedankenstarker Geistlicher werden würde. So ein gefährlicher Gegner! Er selbst hat ihm sogar noch den Weg gewiesen. Nicht nur zu Jesus, sondern auch ins Priesterseminar. Was für ein kardinaler Fehler! Nun, vielleicht ist es ja noch nicht zu spät, denkt Bischof Richard. Und schaut sich unwillkürlich nach Meta um, seiner mit ihm alt gewordenen Hauswirtschafterin. Und mehr. Die beiden verstehen sich nach über 40 Jahren ohne Worte. Sie schaut ihm stumm in die Augen. Und nickt unmerklich.

Und dann ist es Abend. Wie vorhergesagt, fallen weiche Flocken vom dunkelblauen Winterhimmel. Sie legen sich zart auf die Dächer der Hütten, das Kopfsteinpflaster und die Mützen und Locken der Menschen. So viele sind gekommen. Der Rauch von den Feuern, über denen Grillfackeln schmoren, steigt senkrecht auf und mischt sich mit dem Nelkenduft von Met und Punsch, mit dem süßen Geruch gebrannter Mandel. In der Mitte des Platzes lodert ein helles Feuer, oben auf dem Podest spielt die Band „Last Christmas“ und dann, auf ein Zeichen des Bischofs, „Lasst uns froh und munter sein“. Ein bunter Chor, alte Stimmen, junge, helle, tiefe stimmt ein, der ganze Platz bebt und lacht. Ja, Lacht. Vergessen ist für diesen Moment alles, was trennt. Den Domberg mit seiner geistigen, geistlichen Last, und die Menschen. Der Bischof lächelt. Dankbar.

„Und jetzt schaut mal, was ich euch mitgebracht habe“, ruft er, springt vom Podest und zum Schlitten voller Pakete und Päckchen. Im Handumdrehen ist er umringt von Händen, nackten, behandschuhten, schüchternen, greifenden. Er lacht und legt in jede Hand ein kleines Geschenk. So schnell ist der große Schlitten leer. Nur noch ein kleines Päckchen liegt auf dem rotsamtenen Kutschbock. Der Bischof nimmt es und geht hinüber zur Residenz am Rande des Platzes. Dort, vor dem Portal, stehen Bischof Richard und eine Handvoll seiner Kollegen und machen gute Miene zum bösen Spiel. „Hier, Exzellenz“, sagt er und reicht Richard das Päckchen. „Auch für Sie hat der Nikolaus etwas dabei. Sie waren so lange der Domherr hier. Nehmen Sie die Pralinen, Ich weiß, es ist ihre Lieblingssorte, Meta hat es mir verraten. Und seien Sie mir, Ihrem Nachfolger, nicht allzu böse dafür, wie ich die Geschäfte hier weiterführe. Geistlich und weltlich. Es ist Advent. Kommen Sie, machen auch wir uns auf den Weg.“

Um sie herum wogt und tobt das friedliche Fest. Es ist kalt in der Bischofstracht aus Rauchmantel, Albe und Mitra. „Hier, Maximilian. Nimm einen Schluck Glühwein. Du bist ja komplett ausgekühlt. Das kann ich gar nicht mit ansehen! Aber um dich kümmert sich ja keiner.“ „Außer dir, gute Meta. Danke.“ Und der Bischof nimmt den Becher, den Meta ihm reicht.

Später wird er in den Armen seines besten Freundes liegen, der vergeblich auf den Rettungswagen wartet. Zuviel los, heute, in der Stadt. „Damit hätte ich nicht gerechnet. Meta! Ihr ganzes Leben lang hat er sie ausgenutzt. Und jetzt macht er sie auch noch zur Mörderin“, flüstert der Bischof. „Aber ich gehe nicht allein. Und vielleicht ist es wirklich am besten so, denn G*ott verzeiht es nicht, wenn man selbst zum Richter wird. Doch ich konnte nicht mehr länger warten. Richard hat ja nicht nur mein Leben zerstört, als er mich missbraucht hat, immer und immer wieder, damals, sondern er hat auch noch so viele andere kaputt gemacht. Vor mir und nach mir, da bin ich mir sicher. Aber er ist unantastbar. Ich habe niemanden gefunden, der gegen ihn aussagen will. Und mir würde keiner glauben! Ich bin ja sein Konkurrent.

Ich hatte geglaubt, dass ich meinen Frieden gefunden habe. Meine Aufgabe. Dass ich heilen kann, wo andere verletzt haben. Aber dann habe ich Richard gesehen. Im Bogengang. Mit Christian, unserem Solisten. Er ist noch ein Kind! Da habe ich gewusst, es muss aufhören. Und auch, dass ich selbst das Heft in die Hand nehmen muss.“

Als der Rettungswagen endlich kommt, ist es für Bischof Maximilian schon zu spät.

Am nächsten Morgen kommt der Notarzt noch einmal auf den Domberg. Bischof Richard ist ebenfalls in der Nacht gestorben. An einem Herzinfarkt, wie es in der Verlautbarung des Ordinariats heißen wird.

Claus wird sich bemühen, den Mord an Maximilian aufzuklären. Er weiß, dass er sich damit auf eine lebensgefährliche Mission begibt.

Gut möglich, dass diese Geschichte polarisiert. Aber auch ein MiniKrimi Adventskalender ist halt ein Ponyhof. Und ich freue mich auf eure Kommentare! In diesem Sinne: habt einen schönen Nikolausabend. Und obacht beim Glühwein!

MIniKrimi Adventskalender am 3. Dezember


Zu schön, um wahr zu sein?

Ist es in Zeiten von Genderfluid und Genderneutralität noch ok, nach einem Mann zu suchen? Einem binären Cis-Wesen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen? Iris ist sich nicht sicher. Wie so oft in ihrem Leben. Ihre Unsicherheit bestimmt ihren Alltag, im Großen wie im Kleinen. Ist es ok, wenn ich Kiwis aus Neuseeland kaufe? Die schmecken so gut. Aber was werden die Leute hinter mir in der Supermarktschlange denken? Dass ich mir keine Gedanken über meinen ökologischen Fußabdruck mache? Und dann greift Iris lieber zu einem braungelbrauen Boskop. Obwohl sie Äpfel hasst. Das gleiche beim Fleisch. Das Huhn mit dem ethische Unbedenklichkeit suggerierenden Aufkleber „biologische Haltung“ kostet dreimal soviel wie das Wiesenhof Hähnchen nebendran. „Stell dir vor, es gibt immer noch Leute, die Billigfleisch essen, ohne einen Gedanken an das schreckliche Leben und den qualvollen Tod der armen Tiere zu verschwenden. Ganz zu schweigen davon, dass sie von den Antibiotika, die sie dabei mitbekommen, eine tödliche Immunität entwickeln. Geschieht ihnen recht. Also mir würde so ein Bissen im Hals stecken bleiben“, sagt der Hipster neben ihr am Kühlregal zu seiner Freundin, und sein Man Bun nickt im Takt bei jedem Wort. Iris zieht die Hand zurück, die schon nach dem Billighuhn gegriffen hat, dreht sich um und nimmt einen Backcamembert. Den hasst sie wenigstens nicht so sehr wie Äpfel.

Beim Zielvereinbarungsgespräch mit ihrem Chef geht sie regelmäßig ohne angemessene Gehaltserhöhung raus, dafür aber mit einer beachtlichen Liste an Mehraufgaben. Weil sie nicht weiß, wieviel mehr Geld sie verlangen möchte. 10 Prozent? 5? Oder 15? Dann lieber gar nichts.

Und genau wegen dieser Unschlüssigkeit ist Iris mit Mitte 40 immer noch Single. Wie viele Dates hat sie verpasst, weil sie viel zu lange vor ihrem Kleiderschrank stand, ohne sich für ein Outfit entscheiden zu können! Wie oft ist sie nach einem netten Abend alleine nach Hause gegangen, weil sie auf die Frage „Zu mir oder zu dir?“ keine Antwort wusste, was ihr unweigerlich als Desinteresse ausgelegt wurde.

Sicher wäre auch die Wahl der passenden Dating Seite ein unüberwindbares Hindernis für Iris gewesen. Aber Iris ist nicht nur von Natur aus unschlüssig, sie ist auch technisch ziemlich unbegabt. Als Assistentin der Geschäftsführung ist das zum Glück kein Handicap, sie braucht nur Outlook, Word und Excel, der Rest wird von anderen Abteilungen bearbeitet. Ihre Telefonstimme und ihre Kalenderführung sind so überzeugend, dass Iris für den Chef unersetzlich ist. Mit etwas mehr Selbstvertrauen hätte sie sogar die Verdopplung ihres Gehalts durchgesetzt, bei Kündigungsandrohung. Aber so ist Iris eben.

Und weil sie sich mit Smartphones und Apps nicht auskennt, hat sie sich bei der ersten Partnerbörse angemeldet, die auf ihre Suche im PC hin erschienen und noch dazu so „traditionsreich“ ist, dass sogar Iris den Namen schon mal gehört hat. “Du hast so viel zu bieten“, hieß es im Werbetext. „Sag der Welt, was du suchst. Bei uns brauchst du keine Kompromisse zu machen. Du findest genau den Partner, den du dir wünschst.“

Das klang vielversprechend. Und wenn Iris keine Wahl hat, sondern sich selbst etwas überlegen muss, dann klappt es auch mit der Formulierung ihrer Erwartungen. Also hat sie die Schublade mit dem Kräutertee gar nicht erst aufgemacht, sondern sich ein Glas Amarone eingeschenkt, sich damit an den PC gesetzt und direkt ins Online-Formular hinein getippt:

Ich suche einen Mann, der mich liebt. Der mich unerwartet umarmt und mich gerne küsst. Einen, der mich überrascht: mit einem Abendessen, einem Geschenk außer der Reihe oder einer zärtlichen Nachricht. Einen, der mich streichelt und mir auch den Nacken massiert. Einen, der mir zuhört, auch wenn das Thema ihn nicht interessiert, nur, weil ich es ihm wert bin. Einen, für den ich die Schönste bin, mit und ohne Makeup. Einen, der mit mir die Leidenschaft genießt, der meine Wünsche erfüllt, der freundlich ist, gut erzogen und ehrlich. Einen, der Stil hat, ohne arrogant zu sein. Einen, der meine Welt schöner macht. Einen, für den ich die andere Hälfte seines Herzens bin.

Ich bin Anfang 40, gepflegt, selbstständig und naturblond.

Das ist jetzt 3 Wochen her. Und bis jetzt hat Iris keine ernstzunehmenden Antworten erhalten. Tja, denkt sie, da bin ich einmal ehrlich und sage frank und frei, was ich will – und dann das. Typisch. Sie ist gerade dabei, den PC wieder runterzufahren, als es „plingt“ und im Eingangskorb ihres Dating Accounts das Briefsymbol auftaucht. „Du hast Post“, flötet eine Stimme mit dem Sexappeal eines Navigationssystems. Iris zögert. Natürlich. Soll sie die Nachricht öffnen? Oder ungelesen in den Papierkorb verschieben? Ja? Oder nein? Iris geht in die Küche, schenkt sich ein großes Glas Amarone ein, setzt sich an den Schreibtisch und öffnet die Nachricht.

Liebe Iris,

lass mich der Mann sein, der dich liebt. Der dich unerwartet umarmt und dich gerne küsst. Der dich überrascht: mit einem Abendessen, einem Geschenk außer der Reihe oder einer zärtlichen Nachricht. Der dich streichelt und dir auch den Nacken massiert. Der dir zuhört, auch wenn das Thema mich nicht interessiert, nur, weil du es mir wert bist. Du wirst für mich die Schönste sein, mit und ohne Makeup. Gemeinsam werden wir die Leidenschaft genießen, und ich werde deine Wünsche erfüllen. Ich bin freundlich, gut erzogen und ehrlich. Ich habe Stil, ohne arrogant zu sein. Ich möchte deine Welt schöner machen. Du sollst die andere Hälfte meines Herzens sein.

Ich bin Mitte 40, Single, dunkelblond und verdiene gut.

Iris traut ihren Augen nicht. Ok, die Antwort ist nicht besonders originell. Aber andererseits zeugt sie doch auch von einer gewissen Ernsthaftigkeit. Zumindest hat er ihre Auflistung gelesen. Und scheint damit zufrieden zu sein. Sie trinkt das Glas aus und schenkt sich ein zweites ein, bevor sie ihm antwortet.

Die nächste Woche vergeht für Iris in einem nie gekannten Gefühlstaumel. Alexander, so heißt „er“, und sie schreiben sich mehrmals am Tag. Längst haben sie ihre Telefonnummern getauscht, und schon nach 24 Stunden haben sie sich das erste Mal gesprochen. Er ist von ihrer Stimme berauscht, hat er ihr gesagt. Und das glaubt sie ihm. Sie hat eine unglaubliche Telefonstimme. Erotisch, samtig, klar und dabei vertrauenerweckend. Seine Stimme ist etwas metallisch, zuweilen. Aber das mag an der Verbindung liegen. Seine Worte allerdings sind alles andere als hart. Er versteht es, ihr Herz anzurühren, ohne schnulzig zu sein.

Auch, als sie sich das erste Mal treffen, platzt die Blase nicht. Im Gegenteil: Alexander sieht live womöglich sogar noch besser aus als auf den Fotos, die er ihr geschickt hat. Die neue Iris ist schon so selbstsicher, dass sie keinen Augenblick daran denkt, das Date abzusagen. Sie hat sich ein neues Kleid gekauft, smaragdgrün, passend zu ihren Augen und ihren Haaren. Alexander ist „hingerissen“, sagt er. Und lächelt warm und zärtlich.

Der Sex mit Alexander ist anders als alles, was Iris bis jetzt erlebt hat. Er scheint jeden Zentimeter ihres Körpers zu kennen und genau zu wissen, was sie will und was sie braucht. Besser als sie selbst, sogar. „Als ich die Anzeige schrieb, dachte ich, darauf wird mir nie einer antworten. So einen Mann gibt es doch gar nicht. Der müsste erst extra für mich erschaffen werden“, sagt Iris und schmiegt sich in seine Achselhöhle. „Das bin auch“, flüstert Alexander und massiert ihre Nackenwirbel genau dort, wo die Verspannung sitzt.

Die Wochen vergehen, und Alexander ist ganz und gar der Mann, den Iris sich erträumt und gewünscht hat. Manchmal, wenn er wieder einmal genau das tut, was sie gerade von ihm erwartet, bevor sie es noch ausgesprochen hat, ist sie allerdings ein wenig irritiert. Woher weiß er, dass sie am Liebsten blaue Tulpen mag? Sie haben nie darüber gesprochen. Wie hat er den lange verschwundenen Ohrring gefunden, ohne ihre Wohnung auf den Kopf zu stellen?

Als sie am Frühstückstisch über die Vor- und Nachteile künstlicher Intelligenz sprechen, wirft Iris ihm einen Köder hin: „Manchmal glaube ich, du bist gar kein richtiger Mensch, sondern eine künstliche Intelligenz in einem Roboterkörper. Du weißt alles, merkst dir alles, liest mir jeden Wunsch von den Augen ab, sogar noch bevor ich selbst weiß, was ich will.“

Alexander lächelt und greift nach ihrer Hand. „Ertappt“, sagt er. Dann läuft ein Zucken durch seinen Körper, sein Blick wird starr. Das Ganze dauert nur zwei Sekunden, aber Iris ist zu Tode erschrocken. „Alexander, entschuldige! Ich wollte dich nicht verletzen. Was ist denn? Geht’s dir gut? Komm, ich bringe dich zum Arzt.“

Alexander wehrt ab. „Nein, nein, nicht nötig. Alles gut.“ Stille. Dann: „Aber vielleicht hast du recht. Ich gehe nachher gleich mal zu meinem Hausarzt. Sicher ist sicher.“ Iris will ihn begleiten, aber er besteht darauf, alleine zu gehen. Um 12.30 Uhr verlässt er ihre Wohnung.

Sie wird ihn nie wiedersehen.

Sie versucht, ihn anzurufen. „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Sie sucht ihn auf dem Dating Portal. Sein Account existiert nicht mehr. Dann tut Iris etwas, was sie noch nie getan hat. Sie forscht nach ihm. Googelt. Nichts. Iris ist verzweifelt. Sie versucht mithilfe eines guten Freundes im Finanzamt, der ihren Kummer schließlich nicht mehr mit ansehen kann, ihn anhand einer Steuernummer zu identifizieren. Nichts. Alexander ist wie vom Erdboden verschluckt. Oder vielmehr sieht es so aus, als hätte er nie existiert. „Und du hast ihn dir sicher nicht eingebildet?“, fragt der Freund vorsichtig. Daraufhin ghostet sie ihn.

In ihrer Verzweiflung durchforstet Iris, die früher so gut wie nie online unterwegs war, das Internet. Sie stößt auf immer dunklere Foren. Und irgendwann findet sie ein Wort, das sie nicht mehr loslässt. Weil es irgendwie auf Alexander zutreffen könnte. Cyborg. Ist er das? War es das? Ein Cyborg?

Iris recherchiert weiter. Findet schließlich ein Forschungsteam in Skandinavien, das offenbar an der Entwicklung und Perfektionierung der Verbindung von Organismen und Maschinen arbeitet. Offiziell geht es um Schnittstellen zwischen Technik und Gehirn, wie den grünen Daumen oder Coprozessoren, die das Gehirn bei Denkleistungen unterstützen sollen. Aber in speziellen Foren wird gemunkelt, dass dort auch Cyborgs entwickelt werden, Hybride aus Mensch und Maschine.

Iris reist nach Norwegen. Noch nie in ihrem Leben war sie so weit weg von zu Hause. Aber so unschlüssig sie früher war, so zielgerichtet ist sie jetzt. Sie will Alexander finden. Koste es, was es wolle. Sie kann und sie will ihn nicht vergessen.

Auf den ersten Blick sieht das Forschungsgelände enttäuschend harmlos aus. Keine Zäune, keine Kontrollen. Nur ein heller weiter Platz mit runden Bänken vor einem Gebäude aus Glas und Metall. Mit riesigen Aufzügen. Die vielleicht auch in die Tiefe führen, denkt Iris. Geheimnisse lagert man am besten im Keller.

Es ist ein sonniger Spätsommertag, wahrscheinlich fast untypisch für den hohen Norden. Die Sonne scheint von einem wolkenlosen Himmel herab, Vögel singen, und am Horizont sieht man den majestätischen Fjord. Ein einzelner Mensch sitzt auf einer der Bänke, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen genießerisch geschlossen. Iris‘ Herz beginnt wie wild zu schlagen. Sie weiß genau, wer dort sitzt. „Alexander“, ruft sie und geht, läuft, rennt auf ihn zu. „Alexander! Endlich hab‘ ich dich gefunden!“ Sie setzt sich neben ihn, greift nach seiner Hand, schaut ihm in die Augen, die sie erstaunt und ohne jedes Anzeichen eines Erkennens ansehen. Dann spricht er – es ist seine weiche, melodische, leicht metallische Stimme. Aber Iris versteht nicht, was er sagt. Es ist eine fremde Sprache. „Alexander“, versucht sie es noch einmal. Aber er sieht sie nur an, lächelnd, freundlich, wie ein x-beliebiger Unbekannter. Sie redet auf ihn ein, er schüttelt den Kopf. Dann zieht er seine Hand unter der ihren weg, steht auf, sagt noch etwas Unverständliches und geht zurück ins Gebäude.

Wie lange Iris auf der Bank gesessen hat? Sie weiß es nicht. Aber die Sonne geht unter, es wird merklich kühler. Was soll sie jetzt machen? Nach Hause fahren? Ins Gebäude gehen? Schreien? Die Polizei holen? Sind die hier überhaupt zuständig? Und was will sie ihnen sagen? Iris legt den Kopf in beide Hände und weint.

Da legt sich eine Hand auf ihre Schulter. „Sie sollten hier nicht sitzen. Es ist viel zu kalt. Kommen Sie, ich begleite sie zum Bahnhof. Sie sind doch mit dem Zug gekommen?“ Der Mann ist um die 60, hager, mit grauem Haarschopf, kurzem Schnurrbart und runder Brille. Er spricht deutsch. „Wer…?“ „Nicht jetzt. Nicht hier. Kommen Sie.“ Er legt seinen Arm um Iris und geht mit ihr über den Platz in Richtung Siedlung. Erst, als der Bahnhof am Ende der Straße zu sehen ist, spricht der Mann wieder.

„Was ich hier mache, ist mehr als unprofessionell. Es könnte mich meinen Job kosten, theoretisch. Aber ich zähle darauf, dass ich zu wichtig bin, unersetzlich, wenigstens auf die Schnelle. Sie tun mir leid, und Ihre Verzweiflung lässt mich nicht los. Ich habe Sie und ihren Weg bis zu uns verfolgt. Sie waren sehr hartnäckig, alle Achtung. Ganz entgegen ihrer bisherigen Natur. Ich bin froh, dass diese Erfahrung für Sie auch etwas Gutes gebracht hat.“

„Aber, wer?“ setzt Iris erneut an.

„Sie haben es ja beinahe schon selbst herausgefunden. Alexander war, ist ein Cyborg. Einer unserer Prototypen. Als wir Ihre Anzeige in diesem Dating Portal gesehen haben, war das einfach die perfekte Gelegenheit, ihn im real life zu testen. Sie müssen zugeben, die Chancen, einen echten Mann zu finden, der so perfekt all ihren Vorstellungen entsprach, waren doch gleich Null. Dass Sie da nicht schon viel früher Verdacht geschöpft haben, wundert mich. Sie sind doch intelligent. Aber als Sie seinem Geheimnis dann doch zu nahe kamen, konnten wir kein Risiko eingehen. Alexander hatte offenbar noch ein paar Fehler. Er war zu perfekt, zu unterwürfig. Nicht menschlich genug. Wir mussten ihn zurückrufen.“

„Und der Mann, den ich auf der Bank getroffen habe? Das war er doch, das war Alexander?“

„Ja. Und nein. Das ist quasi Alexander 2.0. Wir haben ihn komplett neu programmiert. Er hat keine Erinnerung an Sie. Das versichere ich Ihnen. So, bald kommt ihr Zug. Leben Sie wohl. Und geben Sie sich lieber mit dem Zweitbesten zufrieden, vor allem in der Liebe. Perfektion hat immer einen viel zu hohen Preis.“

MIniKrimi Adventskalender am 1. Dezember


Die Mischung macht’s

Julius

„Ich weiß wirklich nicht, was er hat,“ denkt Julius. Mit „er“ meint er seinen Partner, Max. Eigentlich ist er mehr als sein Partner. Er ist sein bester Freund. Einer, mit dem Julius durch dick und dünn geht. Für den er sogar sein Leben riskieren würde. Wahrscheinlich. Deshalb schmerzt die Kluft, die sich seit zwei Wochen zwischen ihnen aufgetan hat, so sehr. Um so mehr, als Julius nicht wirklich versteht, welches Problem Max mit ihm hat.

„Du hast dich Bella gegenüber nicht nur falsch verhalten, du hast sie in eine furchtbare Lage gebracht, eine, aus der sie nie wieder rauskommt. Das ist unverzeihlich!“ Noch nie hat Max ihn so angeschrien. Julius ist verstört. Zunächst hat er versucht, seinen Partner zu beschwichtigen. Mit den üblichen Tricks, von denen er eine ganze Menge auf Lager hat. Schuldbewusster Blick. Stummes Nicken. Dann, nach einer angemessenen Pause, ein freundlich kumpelhafter Stups. Eine hoffnungsvolle Aufforderung: „Ok. Du bist sauer. Aber sind wir jetzt wieder gut? Beste Freunde?“

„Nein, Julius, so leicht kommst du mir diesmal nicht davon. Lass mich einfach mal in Ruhe. Ich muss nachdenken. Darüber, wie es mit uns weitergeht.“ Dieses Nachdenken dauert nun schon fast zwei Wochen. Julius schleicht durch’s Haus wie ein Schatten seiner selbst, auf Schritt und Tritt bemüht, Max nicht noch mehr zu verärgern. Das Schlimme ist: er weiß eigentlich gar nicht, warum Max sich so aufregt.

Ja. Er hat sich in Bella verliebt. Und sie sich in ihn. Die beiden kennen sich seit ihrer Kindheit. Aber jetzt sind sie erwachsen. Und da ist es halt passiert. Es gehört doch dazu, zum Leben. Gut, dass Bella gleich schwanger werden würde, damit hat Julius nicht gerechnet.  Um ehrlich zu sein, hat er keinen einzigen Gedanken daran verschwendet, in der Hitze des Augenblicks.

Und jetzt? Abtreiben kommt offenbar nicht in Frage. Und selbst wenn – Bellas Zukunft ist durch diese Schwangerschaft kompromittiert. Ihr ganzes weiteres Leben ist in Frage gestellt. Sagt Max. „Das ist mir zu hoch“, denkt Julius.

Und überhaupt: Im Grunde ist es ja nicht einmal sein Problem, sondern das von Bella und ihrer Familie.

„Julius? Komm, wir gehen raus. Ich halte das hier nicht mehr aus. Weißt du was? Wir gehen auf die Jagd. In zehn Minuten sind wir an der Lichtung. Genau die richtige Zeit, uns einen Hasenbraten zu schießen. Was meinst du?“ Was Julius meint? Er ist begeistert. Draußen hängt die Nacht noch zwischen den Bäumen, und die Gebäude des Hofs sind nicht mehr als dunkle Umrisse in der taugrauen Luft. Wie spät ist es? Drei, vier Uhr? Egal, Julius ist hellwach, er hat ohnehin einen leichten Schlaf. Auf die Jagd! Mit Max. Seinem Partner. Seinem Freund. Hat er sich endlich beruhigt? Wird jetzt wieder alles so wie früher?

Auf dem Weg über den Bach und den kleinen Hügel hinauf redet Max unablässig leise vor sich hin. Julius weiß nicht, ob das Gespräch überhaupt für seine Ohren bestimmt ist. „Der spinnt ja total! Fünfzig Tausend Euro! Um Bellas Zukunft abzusichern. Schmerzensgeld, sozusagen. Der Karl hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank! Und wie der geschaut hat, als ich im auf den Kopf zugesagt habe, wo er sich seine Forderung hinschmieren kann.“

Jetzt sind sie am Rand der Lichtung angelangt. Sie müssen sich beeilen, denn bald ist die Nachtzeit vorbei und das Schießen verboten. Da – ein Schatten löst sich von den Bäumen. Julius versucht, Max darauf aufmerksam zu machen. Aber der hat nur Augen für den Hasen, der mitten in der Lichtung sitzt. Er hebt die Flinte. Es fällt ein Schuss. Max sackt lautlos in sich zusammen. „Julius, lauf heim, schnell,“ flüstert er. Und genau das tut Julius, während rechts und links die Schrotkugeln an ihm vorbeizischen. Aber er ist zu schnell. Und entkommt.

Max

Max ist mit Weimeranern aufgewachsen. Schon sein Vater hat sie gezüchtet. Ausgezeichnete Jagdhunde. Treu und pflichtbewusst. Julius ist sein 10. Hund. Aber zu keinem hatte er ein solches Verhältnis wie zu Julius. Obwohl er erst ein Jahr alt ist, übertrifft er alle seine Vorgänger. Er ist klug, verständig, dabei zuverlässig und zärtlich. Julius würde für Max durchs Feuer gehen. Und umgekehrt. Die Menschen, die Hunden jegliche Intelligenz absprechen, haben einfach keine Ahnung. Oder keine Erfahrung.

Um so größer war die Enttäuschung, als Julius eines Abends einfach vom Hof lief und erst am nächsten Morgen wiederkam. Ausgerechnet im Jeep von Karl Wieser, dem einzigen Nachbarn in der kleinen Oberpfälzer Gemeinde, mit dem Max immer wieder aneinandergerät. „Ich hab deinen Hund bei meiner Bella im Stall gefunden“, hat Karl geschrien. „Wenn da was passiert ist – dann gnade dir Gott. Dir und deinem geilen Köter.“ Max hat noch versucht, darauf hinzuweisen, dass Hunde besser im Haus als im Stall aufgehoben sind, zumal Hündinnen während der Läufigkeit. Aber Karl hat eine völlig andere Auffassung von Tierhaltung. Für ihn sind seine Hunde nur eins: ein Mittel zum schnellen Geld. Deshalb hat er sich aufs Züchten von Labradoodles spezialisiert. Die hypen gerade ungemein, gepuscht durch unzählige „lustige“ Videos in den Sozialen Netzwerken. Seit Corona will jeder einen Hund, und am besten einen, der pflegeleicht ist. Das wird den Tieren nicht gerecht, weiß Max. Aber er weiß auch, dass er damit bei Karl gar nicht erst anzufangen braucht.

Und es kam, wie es kommen musste. Bella wurde trächtig. Ein Drama! Eine Hündin, die von einem „Dahergelaufenen“ gedeckt wurde, noch dazu von einer anderen Rasse, ist für die Zucht nämlich nicht mehr verwendbar. Karl fordert Zehntausende von Max. Die der nicht zu zahlen bereit ist. Immerhin sind Labradoodle genau genommen auch nur Mischlinge. Der Streit eskalierte. Max war wochenlang wütend auf Julius. Und auf sich. Denn im Grunde genommen ist das, was nun mal passiert ist, ausschließlich seine Schuld.

Irgendwann hat sich sein Ärger auf seinen Lieblingshund, seinen besten Freund, gelegt. Irgendwann ist heute. Er ist früh aufgewacht, lange vor Sonnenaufgang. Was gibt es Schöneres, als mit seinem Julius endlich wieder gemeinsam durch die Wiesen zu streifen und dabei vielleicht auch noch einen Sonntagsbraten zu erlegen?

Auf dem Weg durch das taunasse Gras lässt Max noch einmal das letzte Gespräch – ach was, den Streit – mit Karl Revue passieren. Mitten auf dem Marktplatz. „Ich hab mein ganzes Geld in diese Zuchthündin investiert. Ich hätte Zehntausende mit ihr verdienen können. Hätte! Alles futsch! Also, entweder, du erstattest mir das, was ich wegen dir und deinem dämlichen Köter verloren habe – oder….“ „Oder was?“ hat Max gefragt. „Oder ich leg euch beide um. Dich und deinen Drecksrüden.“ „Na dann viel Erfolg.“ Und mit diesen Worten hat Max seinen Nachbarn stehengelassen, ist zu seinem Landrover gegangen und nach Hause gefahren. Zu Julius.

Max macht sich Vorwürfe. Zwei Wochen lang hat er seinen Hund sträflich vernachlässigt. Ihn bestraft dafür, dass er seiner Natur gefolgt ist. Wenn er auf jemanden sauer sein müsste, dann auch sich selbst. Der Vorwurf, den er Karl gemacht hat, trifft auf ihn ja genauso zu. Und die ganze Zeit über hat Julius seine schlechte Laune still erduldet. Hat sogar immer wieder versucht, durch die düstere Stimmung hindurch zu Max vorzudringen. „Sorry, Alter. Ich hab‘ mich total blöd benommen. Ekelhaft. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Komm, wir gehen auf Hasenjagd. Nur du und ich.“

Gesagt, getan. Jetzt streifen die beiden leise und völlig synchron über die Wiese, den Hügel hinauf. Dorthin, wo die Hasen äsen.

Da sieht er auch schon ein Prachtexemplar in Schussweite seiner .22 Hornett. Er legt an – feuert – und spürt gleichzeitig, wie Schrotkugeln in ihn eindringen. Seine Ohren sausen, seine Sicht ist getrübt. Er stürzt. Im Fallen ruft er nach seinem Weimeraner: „Julius!“ Und flüsternd: „Lauf heim, schnell.“

Ein halbes Jahr später

Die Schrotkugeln von Karl haben keine lebensgefährlichen Verletzungen verursacht. Dennoch wäre Max verblutet, wenn Julius nicht schnell genug Hilfe geholt hätte. Inzwischen sind die Wunden verheilt. Zumindest körperlich. Max sitzt auf der Bank unterm Walnussbaum in der Mitte des Hofes. Die Märzluft ist mild und frühlingsleicht. Um ihn herum tollen vier ausgelassene Welpen, während die stolzen Eltern immer mal wieder mahnend knurren, wenn das Treiben gar zu bunt wird.

Die Kleinen sind nicht nur wunderschön. Sie vereinen auf geradezu perfekte Weise die Rassemerkmale von Weimeraner und Labradoodle. Die Kaufgebot überschlagen sich, und mehr als einmal fragt sich Max, was wohl gewesen wäre, wenn Karl die Chance einer neuen Züchtung erkannt hätte, statt in blinder Wut einen Mord zu begehen. Gut, zu versuchen. Aber auch dafür sitzt er nun hinter Gitter. Und zwar für mindestens 3 Jahre. „Vielleicht schenke ich ihm bei seiner Entlassung einen Welpen aus Julius‘ und Bellas 4. Wurf. Aber nur, wenn er seine Zuchtmethoden ändert. Was meinst du, Julius?“ Der Blick des Weimeraners ist eindeutig. „Ok, Alter. Du hast recht. War ne Schnapsidee.“

Nachtrag: Die Idee zu dieser Story kam L. schon Anfang dieses Jahres, kurz, nachdem der MiniKrimi Adventskalender seine Türen geschlossen hatte. Aber wir sind drangeblieben, und herausgekommen ist diese Koproduktion aus Inspiration und Schreibe. Dass ich seit 3 Wochen einen öußerst fotogenen Dackelwelpen habe, spielt natürlich überhaupt keine Rolle!

24 Tage Krimifieber im MiniKrimi Adventskalender


Liebe Leser*innen, liebe Freund*innen, liebe neue Neugierige!

Schön, dass Ihr wieder hier seid. Schön, dass es bei all dem Wandel um uns herum ein paar Konstanten gibt. Mit meinem MiniKrimi Adventskalender werde ich euch vom 1. bis zum 24. Dezember durch den Advent begleiten. Mit kriminellen Schmankerln, mal lustig, mal skurril, mal erotisch und auch immer mal wieder ziemlich mörderisch. Das kennt Ihr.

Aber weil nach vorne gehen bedeutet, Bewährtes zu bewahren und durch Neues zu ergänzen, wann und wo es passt, gibt es heuer zwei Premieren in meinen MiniKrimi Adventskalender:

  1. Ihr werdet nicht nur Krimis aus meiner Feder lesen, sondern auch kurze Thriller oder Auszüge aus Kriminalromanen einiger meiner Mörderischen Schwestern. Das ist mit rund 700 Mitgliedern die größte Vereinigung von Liebhaberinnen guter Kriminalliteratur in deutscher Sprache. Freut euch auf eine bunte Vielfalt voll krimineller Fantasie und Spannung. Sollte euch ein veröffentlicher Auszug gefallen, findet Ihr das entsprechende Buch natürlich auch im Handel.
  2. Und weil lesen nochmal interessanter wird, wenn es zum Spaß auch etwas zu gewinnen gibt, verlose ich diesmal unter allen, die an einem der 24 Tage einen Kommentar zu einem der Krimis hinterlassen, insgesamt 3 Bücher. Die stelle ich euch am 25.12. vor, und die Gewinner*innen können sich aussuchen, welches Buch sie haben möchten.

Also, meine Lieben. Noch ein Mal schlafen – dann öffnet sich das erste Türchen des MiniKrimi Adventskalenders 2024, und zwar immer nachmittags oder abends, auf alle Fälle aber vor Mitternacht!

Und Ihr wisst: der Kalender ist nur echt mit dem einen oder anderen Tippfehler. Denn, und das bleibt gleich: meine MiniKrimis schreibe ich auch heuer wieder tagfrisch direkt in den Blog!

Meine Fans


Ich bin – rein geburtstechnisch betrachtet – nicht mehr ganz taufrisch. Mental, psychisch und im Hinblick auf mein Selbstbild mag das anders sein. Da bin ich je nach Gemütszustand, körperlicher Verfassung, besonderen Glücksmomenten mal 5, mal 15 oder auch mal 100.

Nun habe ich den Verdacht, dass es einigen meiner „Fans“ genauso geht. Gestern hatte ich eine fantastische Lesung in Moosch. Im „Seniorenclub Lebensfreude“. Im Vorfeld hatte ich mich bei der Leiterin nach der mentalen Verfassung meiner Zuhörer*innen erkundigt, um die Lesung entsprechend zu gestalten. Die Antwort wies mich – freundlich – in die Schranken. Die Mehrzahl der Damen sei ungefähr so alt wie wir (!), lebe alleine und selbstversorgt und sei mit allem ausgestattet, was ein moderner Alltag mit sich bringe: Handy, Computer, Internet und Hörgeräte.

Letztere trage ich auch, seitdem die Hersteller versprechen, damit auch einem Tinnitus beizukommen. Klappt bei mir leider nur so lala, weshalb ich permanent ein Konzert in den Ohren habe und infolgedessen zuweilen einfach nicht verstehe, was mir Menschen über diesen kopfinternen Lärm hinweg zu sagen versuchen. Aber sei’s drum: ich bin meinen Zuhörer*innen tatsächlich auf vielen Ebenen verbunden.

Gestern stand ich nun in dem gut gefüllten Saal – und begegnete erwartungsvollen Augen. „Wird’s spannend?“, „Wird’s auch deutlich genug`“ „Laut genug?“ Der Saal hat eine grauenhafte Akustik, die durch ein Mikro nicht wirklich verbessert wird. Ich stellte mich also vor, fragte ab, ob meine Zuhörerinnen (kein Gendern nötig) thrillertauglich seien („Je brutaler, desto besser“, war die Antwort 🙂 ) und machte gleich einen Verständnistest. Ich war, so hatte mir die Leiterin berichtet, das Highlight im herbstlichen Veranstaltungskalender. Die Latte hing also hoch.

Und ich begann.

Meine Lesungen sind „szenisch“, bzw. „performe“ ich eher, als dass ich nur lese. Oft erzähle ich auch zwischendrin und weiche vom Text ab. Dabei schaue ich immer in die Gesichter und reagiere spontan auf das, was ich sehe. Mache einen Scherz mehr, singe ein Liedchen weniger. Ihr wisst, was ich meine. Nun, gestern stand ich vor einem sehr vielfältigen Ausdrucksmix. Die einen lachten, die anderen lächelten, einige schauten konzentriert – und eine döste mit geschlossenen Augen. Zuviel Kaffee, Kuchen, zu warme Luft?

Ich ezählte gerade, wie die Gräfin S. den Seitensprung ihres zweiten Mannes mit der Büste ihres ersten Mannes aus rotem Alicante Marmor erschlug, da erklärte vorne links eine Dame, in Alicante gäbe es keinen Marmor. Und breitete ihr Wissen über dieses edle Gestein aus, das das meine bei weitem übertraf. Ich hatte lediglich bei Goggle nachgefragt.

Da öffnete die „Dösende“ die Augen und schoss mir einen scharfen, freundlich-komplizenhaften Blick zu. Sie hatte alles genau verfolgt und die Augen nur der besseren Konzentration halber geschlossen. Soweit zu voreiligen Schlüssen.

Nach einer Stunde und drei Geschichten war ich heiser – und froh, dass ein paar der Damen meinten, es sei für heute genug. Den anderen musste ich versprechen, bald wiederzukommen. Und eine gab mir noch den Stoff für einen neuen Thriller mit auf den Weg., WOW. WOW. Ihr werdet ihn lesen. Im MiniKrimi Adventskalender.

Was mir noch nachzutragen bleibt: Es war ein toller Nachmittag. Die älteren Zuhörerinnen waren viel kritischer und aufmerksamer als so manche jungen. Ach ja, mit dem Alicante Marmor hatte ich recht. Uff.

Und auf dem Foto seht ihr mich mit den „Fans“, die bereit waren, allem Datenschutz zum Trotz mit mir abgelichtet zu werden.,

Danke, liebe Frau Röck, für die Einladung. Ich komme gerne wieder.

Die Zeit vergeht schneller. als ich ihr folgen kann….



Die Frankfurter Buchmesse war TOLL. Es war wunderschön, so viele liebe Kolleginnen und Mörderische Schwestern zu treffen.

Das Gastland Italien hat mich mit seinem Auftritt begeistert. Nein, nicht (oder nicht nur), weil das meine emotionale Heimat ist, also mein „Vaterland“ im Wortsinn. Es war ein eindrucksvoller, Herz und Sinne ansprechender Mix dessen, was Italien und seine Kultur ausmacht. Schade nur, dass Meloni linken Autor*innen den Aufritt dort verweigert hat. Nie wieder Faschismus, das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Italien! Ich werde mich, wenn ich dort wohne, ganz sicher für den antifaschistischen „Kampf“ engagieren. Friedlich, selbstverständlich.

Ja – und dann war da die Notte Criminale im Café Wacker. Sehr schön, sehr spannend, mit kriminell guter Musik – von Mimi bis zu Macki Messer und dem Kriminal Tango. Danke Michael Klimo (Trompete) und Pit Gerten (Keyboard).

Ich habe dort meine neueste Episode der Agentur zweites Glück vorgestellt; Bella und ihr Gespür für Leichen. Was soll ich sagen? Kam gut an 🙂

Toll waren auch die Lesungen meiner Mörderischen Schwestern Franziska Franke, Monja Luz, Andrea Maluga und Cornelia Mohrmann. Sie entführten das Publikum ins England Sherlock Holmes‘, in Casanovas Venedig – komplett mit Kleid und Perücke!, auf die düstere Seite von Mainz und in die mafiöse Umgebung eines Italienischkurses bei der Berliner VHS.

Es war MEGA.

Und dann hatte und habe ich noch andere Highlights. Der zweite Arche Noah Gottesdienst in der Magdalenenkirche war so schön. Mit Hunden und Menschen und swingender Musik von Raphaela Ulrich und Vera v. Schumann.

Manchmal bedauere ich schon, dass ich nächstes Jahr nicht mehr „einfach so“ Events in München und Deutschland planen kann. Aber ich komme immer mal wieder. Für einen Auftritt allema!.

Heute habe ich noch etwas ganz besonderes vor: ich lese im Seniorenclub der Diakonie Moosach vor krimibegeisterten Menschen, die beinahe mein Alter haben. Tja, let’s face it 🙂

Ich freue mich riesig darauf, habe Emma Peel und John Steed im Gepäck – und werde euch berichten.

Und dann… ja dann ist auch schon bald wieder Advent. Und damit wird sich hoffentlich jeden Tag ein MiniKrimi-Türchen öffnen. Nur hier und nur auf mariebastide.blog.

Ach ja: noch etwas gibt es zu berichten. Ich schreibe ja auch Haikus. Und einer davon, der „Tauferer Advent“ wird auf eine Glasstelle geätzt und wird den ganzen Advent über erleuchtet den Marktplatz von Mais im Vinschgau verschönern, zusammen mit 23 anderen Adventstexten übers Licht. Fotos folgen!

Stay tuned.

Täglich was aufs Auge gibt’s bei semisappho auf Instagram. Come in and join!

Adventskalender MiniKrimi am 17. Dezember


Die pure Lust

„Tschüss, Schatz. Ich bin spätestens um 19 Uhr wieder da.“

„Was, 19 Uhr? Jetzt ist es gerade mal drei. Was hast du den ganzen Nachmittag über vor?“

„Schatz,“ – leichte Ungeduld in ihrer Stimme – „ich bin bei Franck. Er ist nicht einfach ein Friseur, er ist ein Coiffeur, ein echter Haar-Künstler. Deshalb nimmt er sich für jede Kundin genau die Zeit, die er braucht, um ihre innere Schönheit nach außen leuchten zu lassen. So steht’s auf seiner Webseite, und genau so ist das auch. Jetzt schau mich nicht so an, ich kannte Franck schon, da hatte ich keine Ahnung, dass es dich irgendwo gibt. Deine Eifersucht ist hier wirklich fehl am Platz. Weißt du was, ruf deinen Freund Harald an und triff dich mit ihm im Fitnessclub. Der ist praktisch bei Franck um die Ecke. Dann kannst du mich abholen und mit deiner schicken Frau ins Schumanns gehen, auf einen Cocktail, und dich in den neidischen Blicken der Leute baden.“

Bevor sie Tom kennengelernt hatte, hatte sie ihr Single-Dasein in vollen Zügen genossen und nichts anbrennen lassen, wie man so schön sagt. Und Franck war immer hautnah dabei gewesen. Die Schmetterlinge im Bauch, die heißen Tränen und die kalte Wut – sie hatte alles mit ihm geteilt, denn sie hatte ihm alles mitgeteilt. Sie waren weit mehr als Friseur, pardon Coiffeur und Kundin. Über die Jahre hatte sich zwischen Waschtisch, Trockenhaube und Scheren eine Art Freundschaft entwickelt. Aseptisch und asexuell, trotz der weit über tausend Berührungen.

Sie genoss ihre Termine bei Franck, und egal, wie eifersüchtig Tom auch sein mochte, auf den Luxus, ihre Haare dem besten Friseur der Stadt anzuvertrauen, wollte und würde sie nicht verzichten. Sie hatte sich der zugegeben einzigen Macke ihres ansonsten praktisch perfekten Ehemanns schon oft genug gefügt. Der wunderbare Putzmann war einer unzuverlässigen Haushaltshife mit Staubblindheit und der Vorliebe für die Hausbar ihrer Arbeitgeber gewichen. Wenn sie den Wagen zur Inspektion brachte, achtete sie darauf, zu dem einzigen mit einer Frau besetzen Schalter zu gehen. Das gleiche galt für die Supermarktkasse. Wobei der stets zart gebräunte, glutäugige Filialleiter nicht nur schöner, sondern auch schneller war als die weiblichen Angestellten.

Aber bei Franck war Schluss. Sollte Tom doch endlich lernen, mit seiner völlig unbegründeten Eifersucht umzugehen!

In Francks Salon war kurz vor Weihnachten ungewöhnlich viel Betrieb. Normalerweise organisierte er seine Termine mit geradezu pedantischer Präzision. Aber Franck war eitel. Wenn Frau von Bodmer ihm am Telefon entgegenflötete: „Ach bitte, Franck, Sie müssen einfach ein Minütchen für mich finden. Die Horner-Backridges kommen am ersten Feiertag. Wenn Sie meine Haare nicht stylen, verkrieche ich mich in der Besenkammer!“ Also hatte er die von Bodmer noch reingezwängt, terminlich und räumlich, denn der Salon war mit nur drei Plätzen pures Understatement. Und dann war auch noch Susi Schwan von Sunny TV reingeschneit. Die vergaß nie, vor der Kamera zu erwähnen, dass „der liebe Franck“ ihr wieder so eine tolle Frisur gezaubert hatte.

Kurz, um fünf saß sie immer noch in dem einzigen eleganten und dem entsprechend unbequemen Besuchersessel. Um sechs endlich ging die Bodmer, unmittelbar gefolgt von einer glücklich glucksenden Susi.

„Uff! Sorry, Schätzchen, tut mir unendlich leid! Du weißt ja selbst, sowas ist mir bei dir noch nie passiert. Und auch bei keiner anderen. Aber jetzt habe ich nur noch Augen und Hände für dich. Komm, wir trinken erst mal ein Glas Champagner, zur Entspannung.“

Entspannung war genau das, was sie brauchte. Ihr Nacken fühlte sich an, als hätte ihn eine Horde Elefanten als Trampelpfad benutzt, Während sie sich mit dem kalt prickelnden Schampus zuprosteten, schaute sie auf die Uhr über der Tür und dachte flüchtig an Tom, der jetzt wahrscheinlich mit Harald beim Training war. Soll ich ihn anrufen und sagen, dass er mich nicht vor acht abzuholen braucht? Ach was, dann störe ich ihn nur beim Rudern oder was er sonst gerade macht. Wenn er da ist, ist er da. Muss er sich halt beim Warten langweilen. Dann sieht er wenigstens, dass seine Eifersucht total unbegründet ist.

Franck färbt ihr mit gekonnten Griffen die Haare. Nach einer dank der zweiten Flasche Champagner kurzweiligen Einwirkzeit geht’s an Auswaschen.

Mit geschlossenen Augen und zrurückgelehntem Kopf lässt sie sich von Franck massieren. Schläfen, Nacken, die empfindlichen Stellen hinter den Ohren. „Ooohhhh ja, Franck, das tut so gut. Ooohhh jaaa. Bitte, mach weiter, bitte, ja, jaaaaaa“, stöhnt sie genussvoll mit vom Alkohol angerauter Stimme und einen Tick lauter als nötig.

Beide sind so in den Augenblick vertieft – sie in den entspannenden Genuss und der Coiffeur in seine Arbeit, dass sie das Klingeln der Salontür überhört haben müssen. Plötzlich steht Tom vor ihnen, Schweißperlen auf der hochroten Stirn. „Ich hab’s ja gewusst“, schreit er. „Ich hab dich schon an der Tür stöhnen hören. Jetzt tut nicht so unschuldig. Ihr seid ja wie die Tiere. Treibt es auf dem Friseurstuhl.“

Und schon stürzt er, die Schere in der Hand, auf Franck zu. Instinktiv hebt sie ihren Fuß, um Tom einen Tritt zwischen die Beine zu versetzen. Tom taumelt, rutscht auf dem nassen Boden aus – Franck hat vor Schreck die Brause über den Rand des Waschbeckens fallen lassen, und rund um den Stuhl hat sich eine Lache gebildet – und stürzt so ungeschickt, dass er sich die Schere in den Bauch rammt.

Nachdem der Krankenwagen mit Tom und Blaulicht in die nächste Klinik gefahren und die unter Schock stehende Kundin und der Coiffeur vom Notarzt mit einem Beruhigungsmittel versorgt worden waren, kehrte Ruhe ein, im Salon.

Eine zeitlose Weile saßen die beiden auf der Couch in Frankcs privatem Bereich und nipptem an frischem, eisgekühltem Champagner. Die Luft war schwer von edlen Räucherkerzen, und der vergoldete Buddha auf der Marmorsäule senkte dezent den Blick, als die zwei ausgehungert und nach betäubender Nähe lechzend endlich übereinander herfielen, ganz so, als hätten sie sich bereits tausendmal berührt.

Mini Bibel Thriller: Die verkaufte Braut


Was bisher geschah
Als Jakob May klar wurde, dass er im Baugeschäft seines Vaters neben dem Bruder immer nur die zweite Geige spielen würde, entschloss er sich, ein Ende mit Schrecken dem berufslebenslangen Schrecken ohne Ende vorzuziehen. Er ließ das malerische Provinzstädtchen seiner behüteten Kindheit und Jugend hinter sich und studierte Jura in München und Oxbridge.

Dort knüpfte er viele Kontakte. Nach dem Studium klapperte er, sein Prädikatsexamen in der Tasche, einen nach dem anderen ab. Bei Michael Silberstein musste er trotz Termin über eine Stunde in einem kühlen, lederbestuhlten Foyer warten. Ihm war heiß, denn er war aufgeregt. Die Kanzlei Silberstein, Silberstein und March war sein wichtigster Anlaufpunkt. Wenn er hier als Junioranwalt einsteigen könnte, wäre sein Zukunft schon so gut wie gesichert. Um nicht abgehetzt anzukommen, hatte er sogar ein erster Klasse Ticket nach Monaco gekauft, in die Silberstein Dependance, in der der Kanzleichef ihn in Augenschein nehmen wollte. Gerade als er dachte, man hätte ihn vergessen, kam eine junge Frau durch die Tür, in der Hand ein Tablett mit einer Flasche und einem Krug mit Wasser – gesprudelt und still – und einem Glas. „Es dauert leider noch ein bisschen. Bedienen Sie sich inzwischen.“ Und mit einem Lächeln drehte sie sich um und ging.

Dieses Lächeln war es, das Jakob seitdem nicht mehr losgelassen hat. Er hatte sich vorgenommen, sie als seine Sekretärin zu bekommen, sollte er bei Silberstein anfangen. Als er endlich zum Vorstellungsgespräch gebeten wurde, saß sie ihm gegenüber hinter dem monumentalen Schreibtisch. Ihr Vater musste kurzfristig weg. Sie sei seine Stellvertreterin in der Kanzlei.

Jakob bekam den Job – obwohl oder vielleicht weil – er vor Aufregung stotterte und immer nur in diese unglaublichen blaugrauen Augen starrte. Sobald er Michael Silberstein das erste Mal begegnete, erklärte er ihm, dass er beabsichtige, seine Tochter Rachel zu heiraten.

Silberstein war weder erbost noch belustigt. Er musterte Jakob vielmehr eingehend. Und bot ihm einen Deal an. Zwei Jahre lang sollte er sich in alle Bereiche der Kanzlei einarbeiten. Erfolgreich. Dann würde Silberstein ihm seine Tochter Rachel zu Frau geben. Jakob war so verrückt nach dem Mädchen, dass er sich nie die Frage stellte, ob sie ihn denn auch haben wollte. Es bot sich ihm allerdings auch keine Gelegenheit mehr dazu. Denn unmittelbar nach dem Deal reiste Rachel nach Japan, um die dortigen Filialen der Kanzlei zu betreuen und auszubauen.

Was jetzt geschieht
Jakob May hat es geschafft. In zwei Jahren hat er sich in der Kanzlei alle Meriten erworben, die ihn zu einem unverzichtbaren Partner gemacht haben. Hat alle Büros in Europa und den USA bereist. Wichtige Verfahren gewonnen. Sich einen Namen als versierter und beschlagener Jurist gemacht. Er steht jetzt ganz vorne in der Rehe der Anwärter auf die Nachfolge als Chef des Rechtsimperiums. Er hat Einblick in alle Geschäftsbereiche erhalten, in alle Akten und Fälle. Die legalen. Und die illegalen. Er ist jetzt ein Geheimnisträger. Aber nur, wenn er dabeibleibt und schweigt, ist Rachel ihm sicher

Auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem Jakob den Einstiegsvertrag unterschrieben hat, bittet Silberstein ihn in die Dependance der Kanzlei Silberstein, Silberstein, March und May in Monaco. Das Allerheiligste, in dem Rachel ihm damals auf den Zahn gefühlt hat. Beruflich – aber auch privat, davon ist Jakob inzwischen fest überzeugt. Denn es ist völlig unmöglich, dass der Deal um ihre Hand ganz ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung zustande gekommen ist Aber warum ist sie ihm seitdem so konsequent aus dem Weg gegangen ist? Diese Frage hat Jakob sich jede Nacht gestellt, wenn er ihr Gesicht heraufbeschwor. Die zarte Elfenbeinhaut. Die glänzenden, zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare. Die großen, leicht schrägen blaugrauen Augen. Die gerade Nase. Den schmalen, ganz sanft geschwungenen Mund, die weißen Zähne. Rachel war groß, aber zierlich, ohne üppige Rundungen. Eher androgyn. Ihre Stimme war ein melodiöser Alt.

Auf dem Weg zu Silbersteins Büro, nur vier Türen entfernt von seinem eigenen, auf der Chefetage, meint Jakob einen Schatten zu sehen, einen Duft zu erhaschen, der ihn an Rachel erinnert, als er sie zum ersten und fast einzigen Mal gesehen hat. Ein Hauch von grünem Tee, ein graues Kostüm, ein Wehen schwarzer Haare.

„Ist Rachel zurück?“, fragt Jakob den Mann, der morgen um diese Zeit sein Schwiegervater sein wird. „Ich habe sie noch nicht gesehen“, antwortet Silberstein. Du wirst dich bis morgen gedulden müssen, mein Lieber. Nur noch wenige Stunden, dann hat das Warten ein Ende. Freust du dich?“ „Ja.“ Jakobs Antwort ist knapp, fast schroff. Langsam wird ihm diese Heimlichtuerei zu bunt. Warum darf er die Frau, mit der er sein Leben teilen wird, erst im Moment der Trauung sehen? Was soll das? Will Silberstein ihn übers Ohr hauen? Aber womit? Eine Hochzeit kann man schließlich nicht faken. Schon allein wegen der vielen geladenen Gäste, darunter reichlich internationale Geschäftsprominenz.

Die Trauung wird auf Silbersteins Yacht stattfinden, im engsten Kreis. Danach geht‘s zur Party im Hotel de Paris. Derweil rauscht das frisch vermählte Paar auf der Yacht nach Antibes, um sich auf die Flitterwochen m Luxus-Compound auf Bali vorzubereiten.

Jakob ist sehr nervös. Seine Eltern sind aus ihrem Rentnerdomizil in Spanien angereist, der Bruder hat für 24 Stunden die Firma verlassen und spielt den „Best man“ (Trauzeuge).  Es ist zehn Uhr. Um punkt zwölf soll er mit Rachel getraut werden, aber er hat die Braut noch immer nicht gesehen. Dafür fließt der Champagner schon seit dem Frühstück. Die erste Flasche kam als Präsent des Hauses mit Croissants und Café au lait. Die zweite brachte sein Bruder mit. Die dritte sein Assistent, der auf Geheiß von Slberstein Senior nach dem Rechten schauen und darauf achten soll, dass Jakob nicht im letzten Moment die Flucht ergriff. Von wegen! Jakob dachte gar nicht daran. Er denkt überhaupt nur eins: an den Moment, wenn er Rachel endlich für immer in seinen Armen halten wird.

Auf dem Weg zum Aufzug fragt Jakob sich kurz, ob sie etwa schon auf der Yacht sind. Der Boden schwankt leicht unter seinen Füßen. Oder war das etwa ein Erdbeben? Ein Seebeben? „Alles beschtens, das isch höschtensch der Schampus“, beruhigt ihn sein Bruder. Und „Das geht allen Bräutigamen so, das ist die Aufregung“, doziert der Assistent, der, soweit Jakob weiß, noch nie auf einer Hochzeit gewesen ist, und auch nicht auf seiner eigenen.

Vor der Yacht ist ein roter Teppich ausgebreitet, und unzählige gut gelaunte, elegant gekleidete und „absurd behütete“, ihm zumeist völlig unbekannte Menschen stehen Spalier und begrüßen den Bräutigam mit Willkommensrufen, Applaus – und noch mehr Champagner. Noch bevor er das Deck betritt, hält er schon wieder ein volles Glas in der Hand. Wenigstens ist er vom Feinsten. Da kann mir eigentlich nichts passieren, denkt Jakob. Und bald hält Rachel mich fest. Dann ist sowieso alles gut.

Auf Deck gilt es, Hände zu schütteln, Küsschen zu verteilen, Nichtigkeiten zu wechseln. Er erkennt einige Klienten. Kollegen mit Familien. Seine Verwandtschaft ist überschaubar und hält sich zurück, um nicht aufzufallen. Seine Eltern strahlen. Stolz auf den Jüngsten, der das große Los gezogen hat. Fast so, als hätte er nicht Jahre harter Arbeit investiert, um an dieses Ziel zu kommen. Das Studium. Das Ackern über Akten. Vor allem auch – zu lernen, dass Recht haben nicht gleich Recht bekommen ist. Dass es ihm immer gelingen muss, seinen Klienten zum Sieg zu verhelfen. Auch, wenn das ungerecht ist. Oder ungesetzlich. Jakob runzelt die Stirn. Solche Gedanken passen so gar nicht zu diesem herrlichen Tag. Und doch kann er sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass genau dieser Lernprozess ihn bis hierhin gebracht hat. Aus den Augenwinkeln betrachtet er Silberstein Senior, wie er sich zwischen den Gästen bewegt, hier ein Schulterklopfen, dort eine kurze Umarmung, und immer wieder ein Nicken, ein Zeigen mit der Hand in seine, in Jakobs Richtung. Die Zukunft ist gesichert. Die Jakobs, aber auch die der Kanzlei. Und der Klienten. Keine Sorge! Wir haben alles im Griff.

Wo Rachel nur bleibt. Wenn sein bester Freund ihm erzählt hätte, dass er im Begriff sei, eine Frau zu heiraten, die er nur zweimal ganz kurz gesehen und kaum gesprochen hat, von der er nicht einmal weiß, ob sie ihn mag, geschweige denn liebt – er hätte einen Lachanfall bekommen und seinen Freund für verrückt erklärt. Aber dann fällt Jakob ein, dass er gar keine Freunde mehr hat. Nur noch Kollegen.

Die Schiffsglocke ertönt, und ein Mensch in dunklem Blau mit dem dreifarbigen Band der Schalflagge betritt die Yacht. Nickt nach links und recht und geht schließlich mit ausgestreckter Hand auf Michael Silberstein zu. Die beiden Männer begrüßen sich, Köpfe eng zusammengesteckt. Dann winkt Silberstein: „Jakob, der Bürgermeister ist da. Die Zeremonie kann beginnen.“

Inzwischen ist es schon halb eins. Von Rachel noch immer keine Spur. Felicitations, mon ami, sagt der Bürgermeister und drückt ihm ein Glas Champagner in die Hand. Sie stoßen an, und Jakob stürzt es hinunter. Er schwitzt. Die vor zwei Stunden frisch frisierten Haare kleben an seiner Stirn. Sicher hat er Schweißränder unter den Achseln. Außerdem schwanken die Planken unter ihm bedenklich. Ihm ist nun schon beinahe alles egal.  Wenn Rachel nicht mehr auftaucht – dann hat sie eben Pech gehabt. Oder er.

So langsam wird auch Silberstein senior unruhig. Immer wieder schaut er auf die Armbanduhr. Er gibt der Combo unter Deck ein Zeichen, und sie spielen sanfte Lounge Musik.

Um 13 Uhr kommt Bewegung in die Menge. „Die Braut, die Braut.“ Immer mehr Stimmen, immer lautere Rufe. Michael Silberstein springt von Bord, seiner weiß verhüllten Tochter entgegen. An seinem Arm schreitet sie den roten Teppich entlang, die Gangway hinauf und zum Trautisch, vor dem der Bürgermeister und Jakob warten.

Die Trauung erlebt Jakob wie im Nebel. Sein Bruder muss ihn anstoßen, damit er die Ringe nimmt. Auf die Frage des Bürgermeisters krächzt er ein heiseres „Ja, ich will.“ Auch Rachel scheint aufgeregt zu sein, denn ihre Antwort ist kaum mehr als ein gehauchtes Flüstern. Schließlich hebt er den Schleier und sieht ihr, das erste Mail seit 2 Jahren, in die großen, graublauen Augen. Ist es die Aufregung, oder kommt es ihm nur so vor, als habe sie einen leichten Silberblick? Aber der Kuss! Während Jakob ihre Lippen nur zart berührt, presst sie die ihren fest auf seinen Mund, und zu seiner maßlosen Überraschung schiebt sie ihre Zunge dazwischen, kühl und fordernd. Jakob ist überrascht. Und beruhigt. Sie will ihn, das ist klar. Alles ist gut!

Nach den schier endlosen Ansprachen von Bürgermeister, Eltern, Kolleginnen und Kollegen schieben sich Jakob und seine Frau durch eine nicht enden wollende Schar von Gratulanten. Küsschen links und rechts und links. Und – natürlich – Champagner. In Strömen.

Irgendwann gehen auch die letzten Gäste von Bord. „Auf euer langes, glückliches Eheleben, meine Kinder. Wie schön, Rachel, dass du dich dafür entschieden hast, ab jetzt nur noch für die Familie da zu sein und das Arbeiten deinem Mann zu überlassen!“ Das hört Jakob zum ersten Mal. Aber es macht ihm nichts aus. Im Gegenteil. Rachel will ihr gemeinsames Nest bauen. Wie romantisch. Michael Silberstein nimmt die frisch Vermählten in die Arme. Er sieht zufrieden aus. Mehr noch. Erleichtert. „Genießt eure Flitterwochen. Macht das allerbeste daraus“, flüstert er ihnen ins Ohr, bevor auch er die Yacht verlässt.

Am nächsten Morgen wacht Jakob völlig verkatert auf. Er hat Mühe, sich zurechtzufinden. Wo ist er? Und wer ist die Frau neben ihm im zerwühlten Bett? Langsam und in einzelnen Puzzleteilen kommt die Erinnerung. Aber es sind zu viele Eindrücke, zu schnell hintereinander. Er schließt die Augen. Öffnet sie, weil sich alles um ihn herum dreht. „Hier, Liebling, trink. Das wird dir ganz schnell helfen.“ Eine sanfte, helle Stimme. Freundlich herb. Sopran, eindeutig. Jakob zwingt sich, wach zu bleiben. Um sich zu schauen. Vor ihm steht eine junge Frau mit schwarzen Locken. Eine zartes Neglige umspielt ihre Rundungen. Ihr voller Mund nähert sich seiner Stirn. Mechanisch nimmt er die Farbe ihrer Augen wahr. Strahlend blau. Nur eines blickt in seine Richtung. Das andere geistert umher, als hätte es seinen Kompass verloren. „Oh“, erschrickt sie, stellt die Espressotasse ab und setzt sich an den Schminktisch.  Sucht und findet etwas, und als sie sich umdreht, sind ihre Augen wieder graublau, und der Silberblick nur angedeutet.

Kontaktlinsen. Jetzt fällt ihm auch auf, dass sie kleiner ist, als er seine Rachel in Erinnerung hatte. Weicher. Nicht so knabenhaft, sondern weiblich. Können zwei Jahre sie so verändert haben? Oder war sein Bild von ihr so verzerrt? Dann fällt ihm ein, wo er diesen Körper schon mal gesehen hat, diese Stimme gehört. Bei einem seiner seltenen Besuche im Hause Silberstein. Flüchtig begrüßt und schnell verschwunden, ein Termin, leider. Wie hieß sie gleich?

„Wer bist du? Du bist nicht Rachel!“

„Was? Jakob, bist du noch betrunken? Natürlich bin ich es. Rachel. Deine Frau! Die ganze Nacht hast du mich so genannt. Und jetzt fragst du mich, wer ich bin?“

„Die Nacht war dunkel. Und außerdem sind da alle Katzen grau. Versuch nicht, mich anzulügen. Wer bist du? Was machst du hier? Und wo ist Rachel? Was hast du mit ihr gemacht?“

Jakob spürt, wie die Wut in ihm aufsteigt. Heiß. Unbezähmbar. Zwei lange Jahre hat er auf diesen Moment hingewartet. Hat seine Energie kanalisiert. Prozesse gewonnen für Menschen, die er vor Beginn seiner Karriere hinter Gitter hätte bringen wollen. Hat seine Grundsätze über Bord geworfen. Der Liebe wegen. Heute ist er nicht mehr der Jakob, den er vor zwei Jahren morgens im Spiegel angrinste. Der sich darauf freute, den Tag zu erleben, zu prägen und in seinem kleinen, sehr überschaubaren Rahmen besser zu machen. Heute ist er ein korrupter Jurist von seines Schwiegervaters Gnaden. Ja, die Verwandlung ist  nicht über Nacht geschehen. Er ist kein Gregor Samsa. Er hat sich ganz bewusst in diese neue Form gepresst. Der Liebe wegen.

Und jetzt? Alles Lug und Trug. Betrug! Aber was hat er erwartet? Wer sich mit Pack einlässt… Jakob fragt sich nur, wie weit dieses Netz aus Lügen und Intrigen gewoben ist. Und wer die Fäden zieht. Tatsächlich Michael Silberstein? Er hat gestern so gelöst gewirkt, entspannt. Glücklich. In seinen Augen stand deutlich die Zuneigung zu der Frau, die er Jakob übergeben hat, vor dem Altar. Ist sie vielleicht seine Geliebte? Ist diese Ehe die Legitimation für Michaels Affäre?

„Wer bist du? Wie kommst du hierher? Pass auf“, sagt Jakob und zwingt seine Stimme zu kalter Ruhe. „Ich gebe dir genau 5 Minuten. Nutze sie gut. Denn danach will ich keine Erklärung, sondern die ganze Wahrheit. Wo ist Rachel? Wen habe ich gestern geheiratet? Wer steckt hinter diesem Plan? Wenn du mir das nicht sagst, werfe ich dich auf der Stelle über Bord. Dann rufe ich die Polizei und beschreibe in allen Einzelheiten, wie du dich auf die Yacht geschlichen und für Rachel ausgegeben hast. Wie du versucht hast, mich umzubringen – mit diesem Messer hier“  – er greift nach ihrer Hand und legt ihre Finger fest um das spitze Obstmesser, das sie ihm, mit einem goldenen Pfirsich und einer rosaroten Papaya, vor wenigen Minuten ans Bett gebracht hat. Als liebevolle Frühstücksgabe.   „Und wie du, nachdem ich dir das Messer entwunden habe“, – der Glaubwürdigkeit halber rammt Jakob sich die Spitze in die eigene Hand – „über Bord gesprungen bist, bevor ich dich zurückhalten konnte. Willst du das?“

Die junge Frau, die behauptet, Rachel zu sein, die ihr auch irgendwie ähnelt, aber so, als habe sich die knabenhafte Zartheit in reife Weiblichkeit gewandet, diese Frau setzt sich auf das Bett, schlägt die Hände vors Gesicht und beginnt, hemmungslos zu weinen. Sie schluchzt, und ihr ganzer Körper bebt. Schultern, Bauch und Beine. Sogar die Füße zittern. „Ich wusste es. Das konnte nicht funktionieren. Ich hätte nie mitmachen sollen. Aber… aber… ich liebe dich so. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe!“

„Schwachsinn. Sowas gibt’s doch gar nicht. Ich kenne dich ja nicht einmal!“

„Doch, Denk nach. Obwohl – so ist das immer und mit allen. Sie schauen mich an, aber sie sehen mich nicht. Als wäre ich ein Geist. Oder ein missglücktes Hologramm meiner Schwester.“

„Deine Schwester? Ach, hör auf. Du verlierst nur kostbare Zeit. Dir bleiben jetzt noch genau… (Blick auf die Uhr) drei Minuten.“

„Gib mir mein Handy“, bittet die junge Frau ihren Mann. „Bitte, ich rufe Rachel an. Sie, er wird dir alles erklären. Aber hör mir zu, Jakob. Mein Name war Lea. Jetzt heiße ich Rachel. Und ich bin deine Frau – ich werde alles für dich tun. Immer! Ich liebe dich. Nur das zählt.“

„Du machst was? Rachel? Bist du verrückt? Du bist verrückt!“

„Denk doch, was du willst. Ich rufe Rachel an. Ich hoffe, dass du dann alles verstehst. Und trotzdem bei mir bleibst.“

Lea, die neue Rachel, drückt auf die Schnellwahltaste. Wartet. Versucht es noch einmal. Nichts“ „Das versteh ich nicht…“, murmelt sie verzweifelt.

Da hören sie Schritte an Deck. „Lea?“ Eine melodiöse Stimme, mehr Tenor als Alt. „Lea, Jakob, seid Ihr unten?“

„Rachel!“ Jakob springt auf. Zieht sich die Boxershort über und ein T-Shirt und sprintet die schmale Treppe hinauf. Oben an Deck steht ein junger Mann. Schmalhüftig, das schwarze Haar zu einem Manbun gebunden. Stechende graublaue Augen schauen Jakob an. „Wo ist Lea? Was hast du mit ihr gemacht?“

„Rachel?“, fragt Jakob. Er ist verunsichert. Der Mensch vor ihm ähnelt seiner großen Liebe. Zweifellos. Die gleichen androgynen Gesichtszüge, die gleiche Größe. Der Körper ist immer noch zierlich, aber muskulös. Vor allem – das ist keine Frau. Das ist ein junger Mann. Oder?

„Wo ist Lea?“, Rachel – oder wer auch immer das jetzt ist – schiebt Jakob unsanft beiseite und geht schnell Richtung Treppe. Da kommt Lea von unten herauf. Die Tränen haben ihre Kontaktlinsen herausgespült, ihr linkes Auge irrt angstvoll umher. „Oh, Rex. Ich wusste, das geht nicht gut. Er liebt mich nicht. Er kann mich nicht lieben. Nie! Was machen wir bloß?“

„Wir setzen uns hin und besprechen die Lage. Jakob hat natürlich ein Recht darauf, dass wir ihm alles erklären. Und dann – musst du dich entscheiden, Jakob May.“

Rachel – Rex? – deutet auf die gepolsterten Bänke an Deck. Es könnte wundervoll sein. Ein Moment für die Ewigkeit. Das Meer so still und blau wie der Himmel. Der Yachthafen und dahinter die bunten Häuser. Möwen kreisen über ihnen. Jakob hockt sich auf die Bank, stützt den Kopf in die Hände. Die Aufregung der letzten Tage, der viele Alkohol, die stürmische Nacht, und dann der Schock nach dem Aufwachen. Das Leben schlägt über ihm zusammen. Er will nichts mehr hören. Nichts mehr fühlen. Nur Stille.

Aber dazu lässt Rex ihm keine Zeit.

„Jakob. Entschuldige! Wir haben dich verletzt. Missbraucht. Belogen, zum Teil. Du hast allen Grund, wütend zu sein. Das verstehen wir. Bitte, gib uns die Chance, dir alles zu erklären. Aber wenn du sagst, dass du das partout nicht willst – dann geh. Weit weg. Von uns. Von der Kanzlei. Fang ein neues Leben an. Wir geben dir 24 Stunden Vorsprung.“

„Vorsprung? Vor was?“

„Bevor wir dich anzeigen. Wegen Korruption und Steuerhinterziehung.“

„Was? Spinnst du? Was soll das?

„Du hast die Wahl. Hörst du uns an?

„Ok“, sagt Jakob, der vor kurzem noch damit gedroht hatte, Lea über Bord zu werfen und der Polizei als Mörderin zu präsentieren.

„Das wird eine längere Geschichte. Pablo, machst du uns ein paar Drinks? Limonade, am besten“, lächelt Rex, und der junge blonde Mann neben ihm geht unter Deck in die Kombüse.

„Lea und ich sind Zwillinge. Zweieige. Aber dafür sehen wir uns sehr ähnlich. Lea war schon immer die Weichere. Das Mädchen. Ich wurde auch als Mädchen erzogen. Meine Eltern nannten mich Rachel. Aber das bin ich nicht. Ich bin intersexuell. Zwitter, das Wort kennst du vielleicht eher. Und ich fühle mich nicht als Frau. Hab ich noch nie. Naklar, als Kind und auch noch als Jugendliche habe ich mich so verhalten, wie meine Eltern das wollten. Aber als ich nicht in die Pubertät kam, fing ich an, Fragen zu stellen. Mein Vater wollte nicht mit mir darüber reden. Du bist meine Tochter Rachel. Wenn du keine Periode bekommst, sei froh. Bleibt dir viel erspart. Er verlangte von mir, weiter Röcke anzuziehen. Ich rebellierte. Lief weg. Mein Vater ließ mich suchen und fand mich immer.

Irgendwann hielt meine Mutter, unsere Mutter, das nicht mehr aus. Sie hat sich besser versteckt als ich. Keine Ahnung, wo sie heute lebt. Ich stieg in die Kanzlei ein. Und ich war gut. Wurde immer besser. Mein Vater schickte mich ins Ausland. USA, Asien. Aber mit meinem Erfolg wuchs auch mein Wunsch nach Unabhängigkeit. Nach meiner Identität. Ich war in einer ausweglosen Situation. Mein Vater hätte mich als Sohn nie toleriert. Er hätte mich gezwungen, immer weiter als Rachel zu leben. Oder ausgestoßen zu werden.

Und dann kamst du, Jakob. Und hast dich unsterblich in mich verliebt. Zuerst war ich entsetzt. Aber dann erkannte ich die Riesenschance. Als mein Vater dir anbot, dich zwei Jahre lang einzuarbeiten und mich dann zu heiraten, meinte er das erst. Du warst auch für ihn ein Gottesgeschenk. Die widerspenstige Rachel endlich unter der Haube!

„Aber – und Lea?“, hört Jakob sich fragen. Er sieht sich suchend um und entdeckt sie neben sich. Sie legt ihre Hand auf seinen Arm und lächelt. Voller Liebe.

„Ja, Lea. Sie…“

„Nein, Rex. Jetzt bin ich dran. Ich habe viel zu lange im Schatten geschwiegen. Ich erzähle meine Geschichte selbst. Die ganze Kindheit war für mich genauso ein Horror we für Rachel – Rex. Ich war unsichtbar. Keiner kümmerte sich um mich, die kleine schielende Lea. In der Pubertät bekam ich weibliche Formen. Aber auch dann war die androgyne Rachel immer der Star. Ich studierte Malerei, mein Vater verschwendete keinen Gedanken daran, mich in die Kanzlei aufzunehmen. Wenn wir Gäste hatten, wurde ich nach einer kurzen Begrüßung immer weggeschickt. Die peinliche Lea.

Ja. Und dann kamst du. Jakob. Ich wusste von den Plänen unseres Vaters und war einfach neugierig auf dich. Ich schlich die Treppe hinunter – und es war für mich Liebe auf den ersten Blick.“ Sie drückt Jakobs Arm, und er – lässt sie gewähren. „Ich schiele eigentlich nur noch, wenn ich aufgeregt bin“, sagt Lea plötzlich. Und lächelt. Schon wieder.

„Der Rest ist schnell erzählt“, nimmt Rex den Faden auf. „Während deiner „Probezeit“ nahm ich in Japan männliche Hormone. Inzwischen ließ Lea sich die Haare wachsen und ihr Auge behandeln. Damit sie mir bei der Hochzeit so ähnlich wie möglich sehen würde.“

„Und euer Vater hat nichts gemerkt? Nichts gewusst?“

„Nein. Erst als die Hochzeit immer näher rückte und ich nicht nach Hause kam, wurde er unruhig. Er überraschte mich in Tokyo. Und dann kam natürlich alles raus.“

„Aber warum hat er dann mitgespielt?“

„Wir haben ihm keine Wahl gelassen,“ sagt Lea ganz sachlich. „Wenn er mitnachte, wäre seine Tochter Rachel unter der Haube und würde sich aus dem Geschäftsleben  zurückziehen. Das klingt auch heute noch für viele plausibel. Leider. Statt ihrer würde Cousin Rex aus Atlanta, Georgia, ihre Arbeit fortführen. Die ideale Lösung für ihn: Lea würde statt einer Jungfer die Frau seines Nachfolgers. Und Mutter seiner Enkel. Rachel würde ihn nie blamieren. Und mit Rex wäre der Geschäftsbereich Asien weiterhin in besten Händen.“

„Und Michael hat zugestlmmt“, stellt Jakob fest.

„Ja. Natürlich. Die Alternative wäre gewesen, dass wir all seine schmutzigen Geschäfte, die wir über die Jahre sorgfältig dokumentiert und sicher verwahrt haben, ans Licht bringen. SingSing statt Côte d’Azur. Das gleiche gilt übrigens auch für dich, mein Liebster, solltest du aussteigen wollen. Was ich nicht hoffe, denn ich liebe dich“, flüstert Lea, die Süße, Zärtliche.

Jakob schluckt. Ein knallhartes Geschwisterpaar.

„Denk drüber nach, Jakob. Aber nicht zu lange. Schau, das Ganze hat für dich nur Vorteile. Du wirst Chef einer mächtigen Kanzlei. Hast eine liebende Ehefrau und Mutter deiner Kinder. Die übrigens ganz offiziell ihren Namen von Lea auf Rachel geändert hat. Ganz ehrlich – würdest du dein Leben mit Rex verbringen wollen? Mit allen Konsequenzen? Frag Pablo, ich bin sehr anspruchsvoll. Auch, was das Liebesleben betrifft.“

Jakob schwirrt der Kopf. Aber irgendwie – findet er die Situation spannend. Und der Anwalt in ihm wittert eine Chance: „Abgemacht. Unter einer Bedingung. Ihr bringt euren Vater dazu. Im nächsten halben Jahr abzudanken. Die verbleibende Zeit muss ihm genügen, um all seine halbseidenen Geschäftspartner abzuschießen. Wenn ich die Kanzlei übernehme, wird Silberstein, March & May nur saubere Arbeit machen. Ich bin kein Verbrecher und will es niemals werden.“

Was die Zukunft bereit hält
Jakob führt die renommierteste Kanzlei für Fälle, in denen sich David gegen Goliath durchsetzt. In allen Bereichen. Seine Frau Lea Rachel stellt erfolgreich in Galerien aus, gibt aber hauptsächlich maltherapeutische Kurse für Kinder aus schwierigen Familien. Michael Silberstein teilt sich die Rolle als Vollzeit-Opa mit seiner wieder aufgetauchten Ehefrau. Und wird dabei immer wieder von Jakobs Eltern unterstützt.

Und Rex? Leitet den gesamten Asien Bereich der Kanzlei. Und lebt immer noch mit Pablo zusammen. Inzwischen haben sie bereits vier Dobermänner, allesamt unkupiert und unkastriert.

Mini Bibel Thriller: Das Abschiedsgeschenk


Merle und David waren eigentlich schon immer zusammen. Als Nachbarskinder zogen sie zu Halloween als Hexe und Vampir von Tür zu Tür und teilten sich die gesammelten Süßigkeiten. In der Grundschule saßen sie so lange nebeneinander, bis die anderen anfingen, sie deshalb zu hänseln. Irgendwann zwischen Tanzkurs und Abi hatten sie dann ihre erste gemeinsame Nacht. Und allen war klar: Merle und David gehören zusammen, sind einfach DAS Paar.

David machte nach der Schule eine Lehre als Bankkaufmann und stieg schnell im Devisenbereich auf. Merle wusste nicht so recht, was sie studieren sollte. Schließlich entschied sie sich für Sozialpädagogik. Da hatte David schon einen Karriereboost hingelegt und wurde von seiner Bank ins Ausland geschickt. England, dann Spanien. Merle machte verschiedene Praktika bei Wohlfahrtsverbänden und Projekten. Dazwischen jobbte sie als Kellnerin.

Wenn David nach Hause kam, erzählte er vom spannenden Leben in London und Barcelona. Von der Hektik an der Börse, von brenzligen Situationen und davon, wie er sie gerettet hatte. Als er immer weniger davon berichtete, wie er seine Freizeit verbrachte, begann Merle notgedrungen, sich ein Leben ohne ihn vorzustellen.

Und dann war da noch Jonas. Den kannte sie eigentlich schon genauso lange wie David. Jonas wohnte im Haus gegenüber und war ihr bester Freund. Er tröstete sie, als die Eltern sich scheiden ließen, er fälschte die Unterschrift unter dem schlechten Zeugnis. Half ihr beim Kellnern, holte sie ab, wenn es regnete. Kennt Ihr das Lied „Tausend mal berührt, tausendmal ist nix passiert…. Tausendundeine Nacht, und es hat boom gemacht“.

Jonas hatte Merle schon immer geliebt. Jetzt waren sie ein Paar. Zogen zuhause aus und in eine kleine gemeinsame Wohnung. Bescheiden, denn Jonas machte sich gerade selbständig mit einem Weinladen. Öko und Orange Weine waren seine Nische. Als Merle eine Festanstellung in einem Projekt für Kinder mit psychischen Entwicklungsstörungen bekam, brachte Jonas vorsichtig das Thema Verlobung zur Sprache. „Hm. Ja, warum nicht? Aber eigentlich geht’s uns doch auch so sehr gut, oder?“ Merles Reaktion hätte Jonas auf die zukünftigen Ereignisse vorbereiten können. Aber er zog es vor, darüber hinwegzuhören.

Und dann kam David zurück. Ohne Job, ohne allzu viel Geld – denn er hatte sich verspekuliert – und ohne Frau. Er saß eines Abends in der Kneipe, in der Merle nostalgiehalber noch samstags kellnerte. Nachdem alle gegangen waren, saß er immer noch da, und Merle daneben. David schüttete ihr sein Herz aus. Schonungslos ging er mit sich selbst ins Gericht. Und erwartete nichts von Merle. Vielleicht war es das. Vielleicht waren es die vielen Erinnerungen, die sie teilten und sich erzählten. „Hey, weißt du noch?“ „Wahnsinn, wie hieß dieser Typ, der uns damals fast…“ „Wenn ich mir vorstelle, dass wir beide in Las Vegas beinahe…“ Spätestens nach der zweiten Flasche Wein was das Ende vorprogrammiert.

Merle wachte in Davids möbliertem Einzimmerappartement auf. So gelöst, so rundum glücklich und vollkommen. Und als David mit einer Tasse Kaffee vor ihr stand, ein Löffel Zucker, zwei Schuss Hafermilch, war beiden klar: wir gehören zusammen. Wir sind ein Paar.

Merle ist ein zutiefst ehrlicher Mensch. Sie scheut keine Konflikte, bleibt bei der Wahrheit, auch, wenn das schwerer ist als eine Lüge. Doch als sie in ihre Wohnung kam, waren keine Erklärungen nötig. Jonas saß am Küchentisch. Vor sich ein kalter Espresso. Er blickte aus dem Fenster, ohne draußen etwas zu sehen. Aber so intensiv, dass Merle dachte, er habe sie nicht kommen hören. „Wann heiratet ihr?“, fragte er, ohne sie anzuschauen.

Das ist jetzt sechs Monate her. Gestern hat Merle Jonas zum ersten Mal seit diesem Sonntagmorgen wiedergesehen. Da kam er mit einer Flasche Wein zu ihren Eltern, wo Merle die letzte Nacht und die letzten Stunden vor der Hochzeit verbringt. „Merle, bitte. Ich kann nicht so ganz ohne dich leben. Lass uns Freunde sein. Wie früher. Hier, das ist aktuell mein allerbester Wein. Der ist nur für euch, für dich und für David. Ich lasse euch ein paar Kisten mit einer Auswahl aus meinem Laden ins Restaurant schicken. Als Hochzeitsgeschenk.“

„Ach, Jonas!“ Merle fällt ihm um den Hals. Küsst ihn links, rechts, und wieder links auf die Wange. „Dass du gekommen bist ist das allerschönste Geschenk. Du hast mir auch so gefehlt! Ja klar, wir sind Freunde. Für immer! Und David auch. Er mag dich. Wir müssen uns treffen, regelmäßig. So wie früher. Wir alle drei!“

Jonas erinnert sich nur schemenhaft und äußerst ungern an die paar Male, als er mit Merle und David unterwegs war. Früher. Sie waren das typische Pärchen, dass den ganzen Abend turtelt und die Begleitperson wie das völlig überflüssige fünfte Rad am Wagen behandelt. Nämlich gar nicht. Nein, Jonas will ganz bestimmt nie wieder etwas zu dritt unternehmen, mit den beiden. „Ja klar“, lächelt er und zwickt Merle kumpelhaft in die Schulter. Sie zuckt zusammen. „Au“. „Oh, sorry.“ Wie oft hat er diese Schulter massiert. Mit sanften Händen. Mit zärtlichen Lippen. Nein. Hör auf, Jonas. Das ist vorbei, weist er sich selbst zurecht.

„Wenn du mir sagst, wo ihr feiert, lass ich den Wein hinbringen.“ „Quatsch, Jonas. Du kommst natürlich zur Hochzeit! Nein, keine Widerrede. Jetzt, wo wir uns wiedergefunden haben, lass ich dich nicht wieder aus!“

  „Na gut. Dann sehen wir uns morgen. Soll ich eure Flasche dann auch wieder mitnehmen?“ „Nein. Die bekommt einen Ehrenplatz auf unserem Tisch. Bis morgen. Ich hab dich lieb!“ Merle drückt Jonas fest an sich, dann schließt sie die Haustür.

Jonas bleibt außen vor. Ausgeschlossen aus dem Leben, von dem er geträumt hatte und das schon zum Greifen nah war. Bevor David zurückgekommen ist.

„Das Leben geht weiter. Für die einen. Für die anderen…“, murmelt er vor sich hin. Dann steigt er ins Auto. Er hat noch einiges zu organisieren.

„Stell dir vor, Jonas spendiert uns den Wein für morgen. Was sagst du dazu?“ Zunächst ist David reserviert. Ganz hinten in seinem Kopf lauert immer noch die Eifersucht. Aber dann denkt er: Was soll’s. Jonas ist Merles ältester Freund. Der beste. Ist doch schön, wenn die zwei sich wieder vertragen. Und dass er uns den Wein schenkt ist ne tolle Geste!

Der Hochzeitstag bricht an. Und mit ihm die ganz normale Hektik. Wo sind die Ringe? Am Kleid fehlt ein Knopf! Wann kommt Papa mit dem Mercedes? Hilfe, die Blumen lassen die Köpfe hängen! Nur eines verspüren weder Merle noch David: Torschlusspanik und die Angst, einen Riesenfehler zu machen. Sie wissen: wir gehören zusammen. Ist das nicht schön?

Jonas hat sich sorgfältig angezogen. Seine Geschäfte gehen gut, er kann sich elegante Kleidung leisten. Wahrscheinlich hat er bedeutend mehr Geld zur Verfügung als David, im Moment. Aber Kohle hat Merle noch nie beeindruckt. Oder interessiert.

Es ist Zeit für die Kirche. Mit Schrecken stellt er fest, dass Merle ihn in der zweiten Reihe platziert hat, neben ihrer Schwester Jette. Sie ist auch ohne Begleitung da. Hoffentlich ist das kein Versuch, ihn zu verkuppeln! Denn Jonas hat sein Herz schon verloren. Damals. Und als die Liebe vorüber war, war sein Herz zerbrochen. Bis heute. Heute wird er es wieder ganz machen. Und füllen. Wenn schon nicht mit Liebe, dann mit Hass.

Die nächsten Stunden ziehen an Jonas vorbei, und er zieht mit, ferngesteuert. Lächelt fürs Gruppenfoto, hilft Merles Mutter aus dem Auto. Rückt Jette den Stuhl im Restaurant zurecht. Schon wieder neben ihm!

Gespannt schaut er zum Brauttisch hinüber. Sie sitzen ihm schräg gegenüber, nur einen Meter entfernt. Rote Rosen auf weißem Damast. Wie altbacken und kitschig. Typisch David. Weiße Teller, silberne Untersetzer, funkelnde Gläser. Und genau in der Mitte zwischen den Gedecken des Brautpaars prangt seine Flasche Wein. Das goldene Etikett fängt die Sonnenstrahlen ein, die durch die französischen Fenster fließen. Jonas greift automatisch unter seinen Stuhl. Dort steht in einem reich verzierten Präsentkorb eine zweite, identische Flasche. Schon geöffnet. Bereit, in der Panik vertauscht zu werden, die losbrechen wird. Gleich. Sobald das Brautpaar die Gläser gehoben hat.

Das Leben geht weiter. Für die einen. Aber für die anderen… endet es genau dann, wenn es am schönsten ist. Vermeintlich. Denn wer Wind säht, darf sich nicht wundern, wenn er Sturm erntet. So ist das, David. So ist das, Merle.

Genau in diesem Moment schiebt sich eine Wolke vor die Sonne. Eine einzige schwarze Wolke im ansonsten tiefblau ungetrübten Himmel. Ein Windstoß bläht die Vorhänge, und ein Donner zerschlägt die Sommerluft.

Merle zuckt zusammen. Sie greift nach Davids Hand. Es ist eine unbewusste Geste. Aber er umschließt sie, behutsam und sehr sanft. Und schaut sie an. Seine Frau. Mit einem Blick, so tief, so dunkel, so geborgen, dass Merle sich darin versenkt. Sie entspannt sich. Und dann – lächeln sich die beiden an. Ort- und weltvergessen. Yin und Yang. Ein Paar, das zusammengehört. Im Leben. Und danach.

Aber bis dahin haben die beiden noch einen langen gemeinsamen Weg vor sich. Das erkennt Jonas jetzt, nachdem die Brille aus Hass und Neid zersplittert ist, zertrümmert durch diesen einen mächtigen Donnerschlag.

Nachdem die Festgesellschaft sich von dem Schreck über den himmlischen Paukenknall erholt hat, greift Jonas zur goldenen Weinflasche. Schenkt seiner Frau und dann sich selbst etwas ein, steht auf und erhebt das Glas. Jonas starrt gebannt auf Davis Hände. Gelähmt. Dann, plötzlich, unvermittelt und beinahe ungewollt zieht er mit einem Ruck am Tischdamast. Krallt sich daran fest und kippt seitwärts mitsamt dem Stuhl zu Boden. Teller, Gläser, alles fällt. Die Gäste rufen, Merle reißt die Augen auf. In dem Tumult gelingt es Jonas, die Flaschen zu vertauschen. No harm done. „Mir geht’s gut. Der Donner hat mich umgehauen, buchstäblich. Sorry!“, entschuldigt sich Jonas und mimt den Zerknirschten.

Nun denn: Neue Gläser, neuer Inhalt. Und dann die Rede. Alle trinken auf das Brautpaar. Auch das Brautpaar.

Der Rest der Feier verläuft so, wie bei Hochzeiten üblich. Jonas tanzt mit Jette. Und wird von Merle abgeklatscht. Als er sie in seinen Armen hält, taucht er tief ein in ihren Duft und ist unendlich glücklich, dass er nicht zum letzten Mal mit seiner besten Freundin tanzt. Der Frau eines anderen. Ja. Aber ein Teil von ihr gehört zu ihm. Und das genügt ihm. Jetzt.

Und hier eine andere Schluss-Variante. Welche gefällt euch besser?

Es ist weit nach Mitternacht. Ganz hinten am Horizont lungert schon der neue Tag und wartet auf Einlass. Das Dunkel trägt einen rosenroten Saum. Merle geht an den verwaisten Tischen entlang, streicht mit leichten Fingern hier über eine welkende Rose, dort über ein gekraustes Blatt. „Ich kann es gar nicht glauben. Heute ist der Anfang unserer gemeinsamen Unendlichkeit“, sagt sie. Und dann: „Hey. Schau mal, hier unterm Tisch steht noch ne offene Flasche Wein. Komm, mein lieber Mann. Auf uns und unser Leben!“ Sie nimmt einen Schluck aus der Flasche und reicht sie David, der ebenfalls genüsslich daraus trinkt.