Adventskalender Minikrimi am 19. Dezember


Foto: Polarnacht

Heute noch ein Krimi von meiner Autorenkollegin Mona Moldovan. Sie reist regelmäßig in den hohen Norden. Das Foto ist von ihr. Danke, liebe Mona.

Nordlichter

1.
Ich wache leicht verkatert auf, habe gestern den letzten Rest „Linie“ Aquavit getrunken. Die Flasche habe ich aus Deutschland mitgebracht und sie für ganz besondere Notsituationen aufbewahrt. Wie absurd: Der Inhalt wurde hier in Norwegen hergestellt, zweimal über die „Linie“ (Äquator) verschifft (das soll den besonderen Geschmack verleihen), dann exportiert, dann nach Süddeutschland geliefert, und schließlich in meinem Gepäck über Oslo nach Tromsø und mit dem Schneemobil hierher transportiert, ins Nirgendwo. So eine Flasche bewahrt man für besondere Fälle auf. Gestern war es soweit. Zum Glück ist sie heute leer, weil Alkohol nicht beim Denken hilft; zumindest mir nicht, und ich muss verdammt nochmal denken. Nicht, dass es eilt; bis es taut, wird es Mai. 

Aber gerade das ist auch mein Problem: die Erde und alle Seen, die ganze Welt um mich herum: alles weiß und hart und tiefgefroren. Die Leiche auch. Daher muss ich nachdenken: wie werde ich sie los, sodass niemand sie jemals findet. Wie werde ich ihn los. Wären wir weiter südlich, hätte ich mehr Ideen. Norwegen hat sehr tiefe Fjorde und nicht alle frieren in Winter zu, die wenigsten eigentlich. Näher am Atlantik hätte ich auch keine großen Probleme damit. Aber hier in diese weiße Wüste wird es ungleich schwieriger. Bei minus zwanzig Grad ist es einfach unmöglich, ein Loch zu graben, um einen erwachsenen Mann darin zu beerdigen. Auch, wenn er in den letzten Jahren etwas geschrumpft und abgemagert ist. Ihn in einem See zu versenken kann ich auch vergessen. Ich weiß nicht, wie dick das Eis ist, aber egal ob dreißig Zentimeter oder drei Meter. Es ist auf jeden Fall zu dick. 

2.
Diese verdammte Einsamkeit. Ich habe immer mit der Illusion gelebt, dass es mir nichts ausmacht, alleine zu bleiben. Dass die Einsamkeit sich hier genauso anfühlt wie in den letzten Jahren, wie im Rest der Welt. Aber hier ist sie noch härter, rauer und jetzt absolut endgültig. Ichdenke darüber nach, wie es dazu kam, eigentlich ist es keine komplizierte Geschichte. Die Jahre sind gekommen und gegangen. Wir hatten uns immer weniger zu sagen, und die Liebe ist versickert, das Ende nah, aber nie zum Greifen. Wir teilten eine Wohnung, aber waren irgendwie nie am selben Ort zusammen; wir teilten Erinnerungen, aber nicht mehr die Gegenwart und schon gar keine Pläne für die Zukunft. Die Stille war so laut, dass ich auf die Idee kam, uns für den Winter eine Hütte in Lappland zu mieten, um, weit abseits von Zivilisation, Internet und anderen Ablenkungen, endlich ehrlich miteinander zu sein. Das ist dann leider gründlich misslungen. Oder vielleicht ist es auch gründlich gelungen: Jedenfalls waren wir irgendwann viel zu ehrlich miteinander. Ein Wort ergab das anderen, und irgendwann habe ich mich dann vergessen. Oder gehenlassen? „Provoziere nie eine Frau, wenn sie ein Messer in der Hand hält“, habe ich früher oft gescherzt, ohne zu ahnen, dass daraus irgendwann bitterer Ernst werden würde. Es ist so leicht und ging so schnell. Ein Stich – und dann Stille. Für immer. Ich bin nicht wirklich allein. Sein Körper ist ja noch hier. Aber irgendwie fühle ich mich plötzlich verlassen. Einsam.

3.
Der Wintersturm hat viele Stunden heftig gewütet, aber nun ist es ruhig geworden. Am Vormittag versucht die Sonne, hinter dem Horizont aufzusteigen. Sie schafft es nicht, es ist Polarnacht. Die wenigen Stunden, bis sie aufgibt, sieht der Himmel in allen Nuancen von Pink und Orange wie gemalt aus. Auf einmal weiß ich, was ich tun werde. Es ist ziemlich schwer, aber irgendwie schaffe ich, die Leiche auf dem Schneemobil festzubinden. Ich habe vor, ganz weit zu fahren und ihn irgendwo abzulegen, wo es schön ist und weiß und wo niemand je hinkommen wird. Vielleicht. Hoffentlich. 

Als ich losfahre, ist es schon wieder dunkel. Ich bin bereits lange unterwegs und beginne zu frieren, als ich merke, dass mein GPS nicht mehr funktioniert. Der Akku ist leer oder einfach eingefroren. Der Sturm hat die Wege verschüttet. Die Spuren meines Schneemobils verschwinden in der glänzenden Wüste und ich weiß nun, dass ich die Orientierung endgültig verloren habe. Aber das macht mir keine Angst. Ich fahre lange, ohne Ziel und ohne die Zeit zu beachten, bis mein Sprit fast alle ist, dann halte auf einer Lichtung, oder vielleicht auf einem gefrorenen See, wer weiß das schon. Die Nacht glänzt und funkelt magisch im Sternenlicht. 

Und dann sehe ich die ersten grünen Strahlen am Himmel. Zunächst schwach, wie die Finger einer Zauberfee. Dann eine hellere Flamme, die schnell verschwindet, bevor die nächste erscheint. Bald brennt der gesamte Himmel: tanzende, kalte, atemberaubende Nordlichter überall. Die Luft fühlt sich klar an und hart. Ich bin so müde. 

Es ist so wunderschön.

4.
Als eine raue Hundezunge über mein Gesicht leckt, wehre ich mich fast gegen die Stimmen, die mich ins Leben zurückrufen. In die Verantwortung. 

MiniKrimi vom 13. Dezember


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Roter Schnee

So ein schöner Schlitten! Naja, was heißt Schlitten. Mit dem traditionellen Kufengefährt, das im Bergwinter oft die einzige Verbindung zur Außenwelt war und zum Leben jenseits eines einsamen Dorfes, hat dieses Highspeed-Geschöpf rein gar nichts gemein. Weder die Form noch den Zweck. Aber seit er in der Stadt lebt, hat Josef, der sich jetzt Joe nennt, ja auch keine einzige Verbindung mehr zu dem Ort, an dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Zumindest denkt er das.

Aber warum ist er dann so versessen auf’s Rodeln? Auch, wenn er den Sprung ins Profilager nie gemacht hat – bei den Amateur-Rennen ist er immer ganz vorne mit dabei, und an Wagemut kann es kaum einer mit ihm aufnehmen. Ob Speedracer oder Airboard, Joe probiert alles aus.

Als er eine Einladung zum in Rodler-Kreisen legendären und allerhöchstens halb legalen Klausberg-Rennen erhält, ist Joe sofort Feuer und Flamme. Dass er damals beim Verlassen von Steinhaus nicht nur den Eltern das Herz gebrochen und sich seitdem bei keinem im Dorf mehr gemeldet hat, ist für ihn kein Argument. Und er verliert nicht einmal einen Gedanken daran, dass sein Auftauchen nach 10 Jahren für Aufregung sorgen könnte.

Er packt seinen neuen High Tech Highspeed-Rodel ein und fährt ins Tauferer Ahrntal. Joe ist kein Romantiker, aber auf der breit ausgebauten Strecke unterhalb der Sonnenburg spielen ihm die Erinnerung Bilder in den Blick, die er längst vergessen glaubte. „Josef und Kathi“ hat er damals  in die Rinde einer Eiche geritzt, am Fuß der Burgruine. Und „4ever“ dazu. Joe hat keine Ahnung, was Katharina nach seiner Flucht aus Steinhaus gemacht hat. Er hatte keine Adresse hinterlassen, nur einen Zettel, auf dem stand: „Ich muss raus. Mir wird hier alles zu eng.“

Und jetzt kommt er zurück. Für eine Nacht und ein Rodelrennen. Plötzlich ist er froh um die Dunkelheit und besorgt, dass ihn jemand erkennen könnte. Er parkt ein ganzes Stück hinter der Talstation und schultert den Rodel. Damit, dass auch ein inoffizielles nächtliches Rennen Zuschauer anzieht, hat er gerechnet. Damit, dass  jemand vielleicht genau mit ihm rechnen und auf ihn warten könnte, nicht.

Das Rennen beginnt. Joe geht an den Start. Die Nacht ist sternenkalt, der Schnee hart wie Kristall und die Luft bitterklar, so wie damals, im Winter vor zehn Jahren. In der Steilkurve hinter der Mittelstation, dort, wo die Piste als Nadelöhr zwischen mächtigen Tannen hindurchrast, hört er sie rufen: „Josef! Bischt wieder da? Jetzt gehscht nimmer fort!“

Ausgerechnet der zehnjährige rodelvernarrte Seppi findet den Schlitten. Er steht auf dem blitzenden Schneefeld, und seine Alukufen funkeln in der Morgensonne. Den Berg herunter von den Tannen her führt seine Spur, rot auf weiß.

Die Leiche von Josef Unterkammer liegt weiter unten im Bach, ein Messer im Rücken.