Um ein Haar vergeben


Ich sitze auf meinem Bett, viel goldfarbenes Metall, eines, vor dem meine Mutter mich mit wohldosierten Hinweisen auf unterschiedliche wissenschaftliche Studien gewarnt hätte und das ich genau deswegen ausgsucht habe. Übrigens kauere ich mehr, als ich site. Die Finger meiner rechten Hand umkrampfen ein Messer. X-beliebig, aus der erstbesten Küchenschublade gerissen. „Nur einen Schritt weiter, und ich steche zu.“ Meine Stimme so rau, mein Blick so heiß. Er bleibt auf der Schwelle zu meinem Zimmer stehen. Schwankt ein wenig. Aber kommt nicht näher.

Wie lange wir so da saßen und standen, ein makabres Tableau vivant – keine Ahnung. Dann kam sein Vater. „Du hast keine Polizei gerufen? Gut. ich hab dir gesagt, ich bringe das in Ordnung.“ Statt einer Antwort stehe ich auf, das Messer in meiner ausgestreckten linken Hand. Mit der rechten greife ich nach Tasche und Jacke, schlüpfe in der erste Paar Schuhe im Flur und öffne die Wohnungstür. „Warte, setz dich erst mal hin und lass uns alles in Ruhe besprechen. Mein Sohn hat das nicht ernst gemeint. “ Ich starre ihn an, den braungebrannten, weißhaarigen Freimaurer. Er hat keine Angst um mich, hat mich nicht gefragt, wie es mir geht. Er hat nur Angst um seinen Ruf. Seinen Job. Sein Amt in der Loge. „Also, er hat das nicht gewollt. Du siehst doch, dass er betrunken ist. Was hast du denn gesagt, um ihn so aus der Fassung zu bringen?“

Ich antworte nicht. Starre nur weiter. Als ich mit seinem Sohn zusammengezogen bin, haben die Eltern gesagt: „So, ab jetzt ist er deine Verantwortung.“

Die Verantwortung bestand dann darin, ihn, wenn er nicht in der Kaserne Dienst hatte, aus der griechischen Spelunke ums Ecke zu holen, sturzbetrunken. Und seine Zeche zu zahlen. Als ich darauf keine Lust mehr hatte und ihn verlassen wollte, hatte er mich geschlagen, zu Boden geworfen und dann mit seinem Bundeswehrstiefel auf mich eingetreten. Bis ich auf stehen, in die Küche gehen und mich mit einem Messer bewaffnen konnte. in der Küche lag aus das Telefon, Bis heute frage ich mich, warum ich seinen Vater angerufen habe. Vielleicht dachte ich, er würde mir helfen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich auf diesen Gedanken gekommen war.

Das alles ist lange her. Sehr lange. Die Zeit mit dem psychisch gestörten und alkoholabhängigen Bundeswehrsoldaten war nur eine kurze Episode in meinem Leben, kurz nach meiner Ankunft in München. Aber sie blieb nicht ohne Folgen. Der Arzt, den ich tags darauf konsultierte, sagte lapidar: „Ein Millimeter weiter, und sie wären tot.“ Ich bin zur Polizei gegangen, ich habe Anzeige erstattet. Sein Vater hat gegen mich ausgesagt, und am Ende ist der Sohn ungeschoren davongekommen. Es war alles meine Schuld. Die klassische Täter-Opfer-Umkehrung, wie in so vielen Fällen männlicher Gewalt gegen Frauen.

Aber waas heißt ungeschoren? Jahrzehnte später habe ich ihn auf Twitter „getroffen“. Da war ein Frührentner, Sozialhilfeempfänger und Aktivist einer Gruppe, die sich unter dem #Ichbinarmutsbetroffen austauscht und präsentiert. Er hat über 4000 Follower, Presse, Funk und Fernsehen berichten über ihn. Ich sehe ihn und erkenne – was Alkohol und Nikotin mit ihm und aus ihm gemacht haben. Ein Wrack. Jetzt auch physisch. Und ich erkenne auch, dass er die Realitäten nach wie vor nach seinem Empfinden buchstabiert.

Trotzdem bin ich mit ihm in Kontakt. Sehr sporadisch. Warum? Weil ich wissen will, ob er sich an diesen Vormittag in einer kleinen Wohnung in Haidhausen erinnert, an dem er um ein Haar – wortwörtlich – zum Mörder und ich zum Femizid-Opfer geworden wäre. Weil ich darauf warte, dass er seine Schuld eingesteht. Sich bei mir entschuldigt.

Nichts.

Letztes Jahr dann eine Nachricht von ihm: er ist schwer an Krebs erkrankt. Die Lunge. Es wundert mich nicht, nach über 40 Jahren massivem Nikotin-Abusus. Ich willige in ein Treffen ein. In einer Kneipe neben seiner aktuellen Wohnung. Er sitzt da mit Bier und Zigarette. Und berichtet. Vom Sohn, den er alleine großgezogen hat, nachdem die Mutter weggelaufen ist. Misshandelt? Und der Vater hatte wieder seine Freimaurerhände im Spiel? Aber das ist meine Spekulation. Er berichtet davon, wie schlecht er behandelt wurde, von Behörden, Kolleg*innen. Der Welt. Erzählt, dass er mit einer bekannten jungen Unternehmerin ein Buch schreibt – über Armutsbetroffenheit. Und kramt Erinnerungen aus.

An Gedichte, die ich geschrieben, Gerichte, die ich gekocht habe. Prahlt vor Saufkumpanen mit meinem Intellekt und meinen Büchern.

Ich gehe.

Lese noch zwei, dreimal auf Whatsapp. Es gehe ihm gut, er habe alles im Griff. Sein Sohn kümmere sich rührend um ihn.

Und dann auf Facebook. dass er „an seiner Krankheit verstorben“ sei. Viel zu jung. Ein weiteres Opfer der Armut Lange überlege ich, was ich unter diesen Post schreiben möchte. Formuliere eine Mail an seinen Sohn. Aber dann schreibe ich doch lieber diesen Beitrag hier in meinem Blog.

Warum hat mich sein Tod so betroffen?

Weil ich bis zuletzt auf die Chance gehofft habe, ihm zu vergeben. Nachdem er mich darum gebeten hat. Ist nicht passiert. Aber ich vergebe ihm trotzdem. Dennoch: ich werde mich immer an ihn erinnern. Besonders, wenn das Wetter umschwingt und mein Nacken schmerzt. RIP.

Auszug aus Arabien


„Der Krieg dauerte sieben Jahre, kostete 4400 US-Soldaten das Leben und den amerikanischen Steuerzahler eine Billion Dollar: Jetzt hat die US-Armee ihre Kampftruppen aus dem Irak abgezogen“ – so titelt der Stern heute zum Abzug der letzten US-amerikanischen Kampfeinheit aus dem Irak.

Drei Fragen stellen sich mir beim Lesen: 1. Ist es präzise, das, was da heute zu Ende geht, als „Krieg“ zu bezeichnen? 2. Wie hoch waren die Verluste auf Seiten der anderen Kampfbeteiligten? und schließlich: 3. Wenn jedem Ende ein neuer Anfang innewohnt: was beginnt ab heute? Im Irak? Oder auf den Kriegsschauplätzen, auf die sich die Auseinandersetzung verstärkt verlagern wird? Weiterlesen „Auszug aus Arabien“