Adventskalender Minikrimi vom 16. Dezember


Foto: kerplode

Heute gibt es hier noch einmal einen weihnachtlichen Krimi von Birgit Schiche. Viel Freude beim Lesen!

Schneemannschicksal

Er räkelte sich wohlig in seinem warmen Bett. Durchs Fenster drängelte helles Tageslicht – er hatte verschlafen! Es war so ungewohnt still. Absatzklackern, Autogeräusche, Fahrradklingeln, murmelnde Stimmen drangen nur gedämpft herein. Verdammt, es hatte geschneit! Er fluchte leise. Im Gegensatz zu den meisten Menschen wünschte er sich keine weiße Weihnachtszeit. Mildes, graues Nuschelwetter war ihm lieber. Denn bei Kälte konnte er seine Arbeit kaum verrichten, und dabei war jetzt Hochsaison. 

Er eilte zur U-Bahn und fuhr zum Weihnachtsmarkt. Menschen schoben sich dichtgedrängt an kleinen Buden mit heißen Getränken und duftenden Leckereien, kitschigem Weihnachtsschmuck, vorgetäuschtem Kunsthandwerk und überteuertem Schnickschnack entlang. Ein kleines Karussel ließ Kinderaugen leuchten, während die Erwachsenen ein paar Runden lang frierend davor ausharrten. Er stellte sich unauffällig neben die Wartenden, rempelte wie zufällig bummelnde Weihnachtsmarktgäste an, mischte sich unter die glühweintrinkenden, bratwurstessenden Menschen, und schon nach kurzer Zeit hatten jede Menge Geldbörsen, Handys und Kreditkarten ihre Besitzer gewechselt. So viele, dass er sie irgendwo bunkern musste, bevor er weiter seinem Job nachgehen konnte.

Er sah sich um. Ein verliebtes Pärchen bewarf sich neckend mit Schneebällen. Zwei Kinder bauten am Rande des Weihnachtsmarktes an einem Schneemann. 

„Mia, Luis – kommt, wir müssen nach Hause!“

Nachdem der Vater mehrmals gerufen hatte, brachen die Kinder ihr Spiel missmutig ab und trotteten protestierend neben ihren mit Einkaufstüten beladenen Eltern davon. Das brachte ihn auf eine Idee: Er würde seine Diebesbeute im Schneemann verstecken! 

„Genial!“, lobte er sich selbst und grub unauffällig eine Höhlung in die große Schneekugel, die den Körper des Schneemannes bilden sollte. Wasserdicht in einer Plastiktüte verpackt wanderte seine Beute hinein und wurde mit Schnee bedeckt. Zur besseren Tarnung baute er den Schneemann fertig. Ohne dass er selbst es merkte, fingen seine Augen an zu leuchten und er war in seine Aufgabe ebenso versunken wie vorher die Kinder. Er spürte gar nicht, dass seine Finger – das wichtigste Werkzeug eines erfolgreichen Taschendiebes – eiskalt wurden, so war er darin vertieft, den Schneemann auszuschmücken, mit einer verloren gegangenen Wollmütze, Augen, Mund und Nase aus bunten Spielsteinen, die er an einem Sand stibitzt hatte, und einem dicker, roter Wollschal. Am Schluss betrachtete er stolz sein Werk – und seine vor Kälte tauben Finger. Mehrere Polizisten flanierten paarweise über den Weihnachtsmarkt. Er war in all den Jahren noch nie geschnappt worden und wollte auch jetzt nicht damit anfangen. Für heute konnte er seinen Job vergessen. Er trottete zur U-Bahn – nicht ohne noch einen stolzen Blick auf seinen verschmitzt lächelnden Schneemann zu werfen. Der war ihm wirklich gut gelungen. 

Zufrieden mit Decke und heißem Tee auf dem Sofa sitzend schaute er sich die Meldungen des Tages im Regionalprogramm an und traute seinen Augen nicht: Ein Kamerateam hatte ihn gefilmt, sein Gesicht in Großaufnahme, und von allen Seiten den besonders gelungenen Schneemann. Mehrere Minuten berichtete die Journalistin über den „Zauber, den der Schnee und die Weihnachtsstimmung auch auf einen „einsamen Mann im fortgeschrittenen Alter“ ausübte. Man bezeichnete ihn als „Weihnachtself“ und startete einen Suchaufruf, um ihn in die Sendung einzuladen. Sie wussten nicht, was sie damit anrichteten. Er seufzte.

Sein Telefon klingelte, er ging gar nicht erst ran, ahnte er doch schon, worauf es hinauslief. Morgen würde er gleich wieder hingehen, seine Beute aus dem Schneemann holen und verschwinden.

Doch als er am nächsten Tag, es war der 4. Advent, zum Weihnachtsmarkt kam, stand bereits eine Menschentraube vor seinem Schneemann. Schülerinnen, Touristen, ein Liebespaar – alle wollte ein Selfie mit dem Schneemann. Er nutzte die Gelegenheit, ihnen ein paar Sachen aus den Taschen zu fischen. Und dann geschah es: „Das ist er!“ rief jemand aus der Menge und zeigte auf ihn. Ein Horrormoment für jeden Taschendieb. Alle Köpfe drehten sich zu ihm um, Handys wurden für Aufnahmen in die Höhe gestreckt. Wildfremde Menschen zupften an seiner Kleidung, wollte ihm die Hand schütteln und nun auch Selfies mit ihm machen. „Der Weihnachtself!“, kicherten ein paar Mädchen und schmiegten sich für ein paar Fotos an seine Jacke. Die Menschen lieben eben kitschige Geschichten zur Weihnachtszeit, und es braucht heutzutage nicht viel, um plötzlich berühmt zu werden. Den Clip vom Vortag hatte längst jemand auf Youtube gestellt und durch die Social Media gejagt. Er war bekannt wie ein bunter Hund. Er flüchtete zur U-Bahn, raus aus der Menschenmasse, seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. 

„Die Fahrkarten, bitte!“, damit konnte man ihn nicht schocken, er hatte ein Abo … aber wo war sein Portemonnaie? „So ein Mistkerl hat mich beklaut, mich!“, wurde ihm klar. Und es fehlte nicht nur seine eigene Geldbörse, sondern auch alles, was er heute erbeutet hatte. Er hatte es nicht einmal bemerkt, wie er mit seinen eigenen Tricks beklaut wurde. Das nagte heftig an seiner Taschendieb-Ehre – und hätte ihn beinahe 60 Euro fürs Schwarzfahren gekostet. Aber der Kontrolleur erkannte ihn, bedauerte den „Weihnachtself“ ob seine Verlustes und ließ ihn kostenfrei weiterfahren – im Gegenzug wünschte er sich nur ein gemeinsames Selfie. Na prima – soweit war es schon gekommen. In tiefschwarzer Stimmung erreichte er seine Wohnung.

Am nächsten, ziemlich grauen Morgen weckten ihn die gewohnten Großstadtgeräusche. Tauwetter! Es schien gar nicht richtig hell zu werden. Wie von der Tarantel gestochen sprang er aus dem Bett, um noch vor den Menschenmassen zu seinem Schneemann zu kommen und die Beute zu holen. In der nass-grauen Pampe, zu der der Schnee in der Nacht bereits geschmolzen war, rutschte er mehrmals aus und wäre beinahe gefallen. Der Tag fing ja gut an. Streufahrzeuge waren unterwegs, und die Stadtreinigung mühte sich damit ab, die nassen Massen beiseite zu räumen, damit die Leute sicher von A nach B kommen konnten. Am Weihnachtsmarkt angekommen sah er, dass die Budenbesitzer bereits mit dem Abbau begonnen hatten. Gestern war der letzte Tag des Weihnachtsmarktes gewesen! Er schaute sich suchend um. Wo war sein Schneemann? Und noch viel wichtiger: Wo war seine Beute? Schneeschieber kratzten über Gehwegplatten, auch hier war die Stadtreinigung bereits bei der Arbeit. Seinen halb geschmolzenen Schneemann hatten sie schon weg geschaufelt. Von der Beute keine Spur. 

„Hallo, Weihnachtself!“

„Nicht schon wieder“, dachte er und wollte schnell verschwinden. Doch die Journalistin hielt ihn am Ärmel fest. Nach einem kurzem Gespräch lächelten beide. Er würde für mehrere TV-Auftritte als Weihnachtself ein nettes Sümmchen bekommen, ehrlich verdient. Er musste sich nun ohnehin einen neuen Job suchen, sonst würde er noch im Knast enden. Oder in der Gosse, wie der alte Mann in abgetragener Kleidung, der bettelnd zwischen den Buden herum schlurfte, auf der Suche nach ein wenig Geld oder etwas zu essen.Schließlich ging der Alte weiter, mit hängenden Schultern, herabgezogen vom Gewicht seinerPlastiktüten. Erst viel später, In der Sicherheit eines windgeschützten Ladeneingang, öffnete er staunend die Tüte, die er in letzter Minute vor der Stadtreinigung aus den matschigen Überresten des Schneemannes gerettet und schnell eingesteckt hatte. Das war eine schöne Bescherung!

Geld oder Cappuccino?


Menschen, Straße, Frau, Osteuropa, Roma

Es waren die kältesten Tage des Winters. Nach längerer Zeit war ich wieder auf dem Weg zum Büro einer meiner Kundinnen. Leider war am Straßenrand kein Parkplatz frei – wie immer am Montagmorgen, eigentlich. Und trotzdem fahre ich jedes Mal alle Gassen ab, stoppe vor jeder Einfahrt und überlege, ob ich mit meinem Wagen in die Lücke passe, die  die glücklichen Parkplatzfinder übrig gelassen haben. Mein räumliches Sehen ist schlecht, und rechnen kann ich auch nicht. Trotzdem erkenne ich meistens noch vor dem Versuch, mich dort hineinzuquetschen, dessen Sinnlosigkeit. Und fahre stattdessen in die warme, kostenfrei Tiefgarage. Der einzige Nachteil dieses Komfortparkplatzes ist tatsächlich der, dass ich sieben Wegminuten bis zum Büro zu laufen habe. Im Sommer kein Thema. Im Winter kalt und zugig, denn der Wind orgelt aus allen Registern durch die Schluchten der altehrwürdigen Gründerzeithäuser.

Als ich, mit eisigen Ohren und trotz Handschuhen klammen Fingern, die Kreuzung erreicht hatte, sah ich am Eingang der U-Bahn-Haltestelle eine junge Bettlerin sitzen. Vermummt und frierend hockte sie auf dem Stück Pappe und hielt den Vorbeieilenden wortlos eine Plastiktasse hin, den Blick starr vor sich auf den grauen Saum ihres Rockes gerichtet. Ohne nachzudenken sprang ich die Treppe hinunter in das Untergeschoss, kaufte im Stehcafé einen Cappuccino und fuhr mit der Rolltreppe wieder nach oben. Der entgegen gestreckten Tasse hielt ich den Becher hin, aus dem es einladend dampfte. „Geld gebe ich keines. Aber das ist schön warm“, sagte ich zu ihr. Die junge Frau hob ganz kurz den Blick, bohrte ihn in meine Augen, dann nahm sie den Becher und murmelte etwas, das ich nicht verstand. Schnell eilte ich weiter, hinein zum nächsten Bäcker, um einen Schneeball zu kaufen, diese fränkischen fettgebackenen, mit Puderzucker dick bestäubten Hefeteigkugeln. Ideal zum Kaffee an einem so kalten Morgen. Aber als ich die wenigen Schritte zurück zum U-Bahn- Eingang lief, war der Pappkarton verwaist. Hoffentlich hat sie einen windgeschützten Eingang gefunden, um ihren Cappuccino zu genießen, dachte ich. Und ist nicht von einem Aufpasser der Bettlertruppe wegen meiner Gabe bestraft worden.

Drei Tage später ging ich auf dem Weg zum Büro gleich hinunter in das U-Bahn-Geschoss. Kaufte einen Cappuccino und ein Croissant und fuhr die Rolltreppe hinauf. Oben auf dem Karton saß – nicht wie erwartet die junge Frau, sondern ein Mann.

Was mache ich bloß? fragte ich mich. Dann streckte ich ihm den Becher entgegen. Er sah mir offen ins Gesicht und sagte „Danke“. Das Croissant behielt ich in der Hand. Denn vielleicht saß die junge Frau ja vorne am Krankenhauseingang. Tatsächlich war auch dort der Pappkarton besetzt. Aber wieder mit einem jungen Mann. Was soll’s, dachte ich, und gab ihm mein noch warmes Croissant. „Danke“, grinste er – und schob es hinter sich in die Büsche zu einer recht beträchtlichen Sammlung von Bechern und Tüten.

„Habe ich alles falsch gemacht?“ fragte ich später die beiden Damen im Büro. Deutlich jünger als ich, und deutlich rationaler auch, wie mich ihre Antworten lehrten. „Da sitzen immer welche, wenn Du einem was gibst, musst Du allen was geben. Was nützt schon ein Kaffee? Außerdem soll man das Bettlertum nicht auch noch unterstützen. Nur, wenn niemand was gibt, werden die Banden die Stadt verlassen.“ Undsoweiterundsofort.

Ich kenne die Argumente. Habe sie selbst auch gerne gebraucht. Um mich reinzuwaschen. Wenn ich der Bettlerin vor mir nichts gebe, wird sie nicht deshalb verschwinden. Wenn ich ihr etwas gebe, wird sie einen Augenblick lang so sein wir ich, wie Du, wie jeder, der eine Tasse Kaffee in der Hand hält und den würzigen Duft einatmet, den herben Geschmack auf der Zunge spürt.

Morgen werde ich wieder in dieses Büro gehen, vorbei an der U-Bahn-Station. Ich werde erstmal schauen, wer auf dem Pappkarton sitzt. Und dann entscheiden, ob es nur ein Caapuccino wird oder auch ein warmes Croissant.

Was sagt Ihr? Was macht Ihr? Gebt Ihr Geld? Warum? Warum nicht? Schenkt Ihr ein Getränk, etwas zu essen? Warum? Warum nicht? Bitte, gebt mir Eure Tipps, Eure Meinung und Eure Kritik!

Bildnachweis: Das Foto ist von Michael Galda und zeigt eine Bettlerin aus Osteuropa. Sie ähnelt „meiner“ Bettlerin.

Und heute mal ein Nano-Fast-Liebesroman: Panik


Dienstagmorgen in der vollen U-Bahn: Zwei junge Leute stehen nebeneinander im Gedränge.  In einer Kurve rempelt sie ihn aus Versehen an. Ihre Blicke treffen sich. „Nettes Mädel“, denkt er und lächelt. Sie schaut ihm in die Augen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem breiten Strich. Dann guckt sie weg. „Schade“, denkt er. „Ich gefalle ihr nicht. Sonst hätte sie zurückgelächelt“. Beim nächsten Halt steigt sie aus, dreht sich am Bahnsteig nochmal um und sieht ihn an, ohne ein Lachen. „Mist“, denkt sie auf der Rolltreppe, „immer das gleiche. So ein süßer Typ. Bestimmt denkt er, ich fand ihn doof. Scheißangst! Morgen geh ich zum Zahnarzt. Zum ersten Mal in meinem Leben…. Oder übermorgen….oder…“

 

 

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