Adventskalender MiniKrimi am 16. Dezember


Heute freue ich mich sehr, einen kurzen und sehr unterhaltsamen Krimi meines Autorenkollegen Jörg Luzius zu präsentieren. Wenn Ihr genauso viel Spaß daran habt wie ich, dann schaut unbedingt auf der Weibseite seiner Gabriel Gilmore-Reihe vorbei. Dort findet Ihr mehr garantierte Lesefreude.

DER ÜBERFALL

Lady Milford war bisher noch nie überfallen worden und deshalb auf dieses Ereignis auch in keinster Weise vorbereitet gewesen. Zudem trug sie die falschen Schuhe. Nicht, dass sie gewusst hätte, welches Schuhwerk der Situation angemessen gewesen wäre, sie hatte für den Abend jedoch eine Einladung ins Theater erhalten, und zu einem derartigen Anlass wählte sie für gewöhnlich ihre roten Pumps. Da diese jedoch denkbar ungeeignet waren, um damit die Flucht zu ergreifen, entschloss sie sich, sich den Widrigkeiten dieses Abends zu stellen, als der bewaffnete Mann plötzlich vor ihr stand. Glücklicherweise jedoch war ihr Butler James an ihrer Seite, der als gebildeter Mann von Welt sicherlich wusste, wie man mit solch einer Situation umzugehen hatte. Noch jedoch übte dieser sich in vornehmer Zurückhaltung, schließlich hatte der Fremde mit dem Tuch vor dem Mund und der Waffe in der Hand ja das Wort ausdrücklich an Mylady gerichtet, als er gefordert hatte: „Geld oder Leben!“

Lady Milford reagierte letztlich, wie es einer Dame ihres Standes gebührte.

„Werter Herr“, sagte sie. „Wurden wir einander bereits vorgestellt?“

Der Vermummte verneinte dies.

„Dann sollten wir das sofort nachholen, ehe wir in geschäftliche Verhandlungen eintreten!“

Ihr Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie diese Formalität als unabdingbar erachtete.

Sie wandte sich an ihren Begleiter: „James, würde Sie die Freundlichkeit haben, mich mit diesem Herrn bekannt zu machen?“

„Selbstverständlich Mylady!“

Der Butler trat vor den Fremden hin und sagte:

„Dies ist Lady Milford. Von den Milfords zu Monkton – nicht etwa vom Zweig der Arlington-Milfords, wie oft fälschlicherweise angenommen wird.“

Der Fremde bedeutete ihnen, dass er diese Feinheit im weiteren Verlauf des Überfalls gebührend berücksichtigen werde.

„Und mit wem haben wir das Vergnügen?“

Der Mann schien daraufhin peinlich berührt. Er entschuldigte sich mehrmals, dass er ihnen seinen Namen leider nicht nennen könne, denn dieses sei in seinem Gewerbe nun einmal nicht üblich.

Lady Milford gab James durch ein Nicken zu verstehen, dass sie durchaus gewillt war, die gesellschaftliche Ausnahmesituation anzuerkennen und nicht auf einer namentlichen Vorstellung zu bestehen. Schließlich war sie nicht ganz so weltfremd, wie ihr oftmals unterstellt wurde.

James wandte sich wieder an den Maskierten. Da der Etikette nun genüge getan sei, könne man somit zum geschäftlichen Teil übergehen.

„Sie wünschen bitte?“

„Geld oder Leben!“, wiederholte der Angesprochene daraufhin seine Forderung. Er konfrontierte sein Gegenüber diesmal weit weniger schroff mit seinem Begehr, als er es noch beim ersten Mal getan hatte. Nun, da man gesellschaftlich einander nähergekommen war, hielt er seinen üblichen Geschäftstonfall wohl für nicht mehr ganz angebracht.

Lady Milford nahm dies mit Wohlwollen zur Kenntnis.

„Ich nehme an“, entgegnete James, „Sie meinen das Geld von Mylady.“

Der Vermummte bestätigte dies.

„Und somit auch deren Leben? Denn eine derartige Verpflichtung steht nicht in meinem Dienstvertrag.“

Lady Milford gab James zu verstehen, dass sie im Falle einer gewaltsamen Auseinandersetzung nicht auf den Opfertod ihres Angestellten bestehen würde. Dieser zeigte sich darüber zutiefst erfreut und wandte sich wieder an den Räuber: „Welche Summe schwebt Ihnen in etwa vor?“

Der Mann schien kurz zu überlegen und sagte dann fast zaghaft: „Für gewöhnlich bestehe ich ja auf allem, was die von mir Überfallenen bei sich tragen. In Anbetracht unserer besonderen gesellschaftlichen Beziehung jedoch, würde ich mich mit der Hälfte des Bargeldes von Mylady sowie den Ohrringen zufriedengeben.“

„Leider führt Lady Milford niemals Bargeld mit sich. Nehmen sie auch Kreditkarte oder Verrechnungsschecks?“

Dies sei leider aus Gründen möglicher Rückverfolgung nicht möglich, erklärte der Vermummte und drückte sein tiefstes Bedauern aus. Er würde dann allerdings neben den Ohrringen auch noch auf der Halskette bestehen müssen.

„Diese Kette ist ein Erbstück von Myladys verstorbener Großtante. Sie kann sie Ihnen unmöglich überlassen. Sie würde ihnen aber stattdessen ihr Diamantarmband anbieten.

Lady Milford hob den Arm leicht an, so dass der Schmuck an ihrem Handgelenk im Licht einer Straßenlaterne sichtbar wurde. Der Dieb trat einen Schritt näher, holte eine Juwelierlupe hervor und begutachtete das Stück. Schließlich zeigte er sich einverstanden. Die Beute wurde ihm daraufhin regelkonform ausgehändigt. Anschließend versicherte man einander, dass man mit der gegenseitigen Geschäftsbeziehung äußerst zufrieden sei.

Lady Milford beteuerte dem Unbekannten, dass es ihr eine Freude gewesen wäre, von ihm überfallen worden zu sein. Leider könne sie ihn nicht an ihre Freundinnen weiterempfehlen, da er ihr weder Namen noch Anschrift genannt habe.

Da könne man nichts machen, entgegnete dieser, aber so sei das nun einmal in seinem Gewerbe. Anonymität und Verschwiegenheit wären das A und O.

Mit einer Verbeugung verabschiedete er sich. Er wollte sich bereits abwenden und friedlich seiner Wege ziehen, da wandte er sich unvermutet noch einmal um. Es sei ihm äußerst peinlich, setzte er an, und normalerweise täte er so etwas auch nicht – aber da er an diesem Abend kein Bargeld erbeutet hätte, könne er nun das Taxi zu seinem Hehler nicht bezahlen, der ihn bereits mit der Beute erwarte. Ob James ihm nicht vielleicht mit 5 Pfund für den Bus aushelfen könne. Er nehme sonst niemals Geld von hart arbeitenden Angestellten, aber die Situation …

Der Butler nickte verständnisvoll. Als Proletarier müsse man einander schließlich solidarisch zur Seite stehen. Er zählte dem Mann die Münzen auf die Hand. Dieser bedankte sich wortreich und zog sich alsdann zurück in den Schatten, aus dem er gekommen war.

„Ein reizender Mensch!“, sagte Lady Milford. „Da werden die Damen vom Bridge-Club vor Neid erblassen, wenn ich ihnen von diesem Abenteuer berichte.“

Zufrieden machte sie sich wieder auf den Weg, und James ging ihr in gebührendem Abstand hinterher.

Adventskalender Minikrimi am 23. Dezember


Unschuld

Bernadette verstand die Welt nicht mehr. Eigentlich schon seit langem. Es passierten immer wieder Dinge, die ihr  völlig unerklärlich waren. Ihre Handtasche wurde gestohlen. Später fand ihr Sohn sie zwischen den Schuhen. Oder ihr Mann war plötzlich verschwunden. Stattdessen saß ein Fremder neben ihr und wollte das Abendbrot mit ihr teilen. Später war ihr Mann wieder da und behauptete. er sei nie weg gewesen. 


Aber jetzt war alles noch viel schlimmer.Jemand hatte sich als ihr Sohn ausgegeben und sie gekidnappt. Nun saß sie in einem fremden Haus, mit Unbekannten, und sollte angeblich solange dort bleiben, bis ihr Mann aus dem Krankenhaus wiederkam. Als ob Alfons jemals krank gewesen wäre. Vielleicht war er mit einer anderen Frau in Urlaub gefahren? Na warte, dachte Bernadette, und die Eifersucht brannte in ihr. Alfons und sie waren seit ihrer Schulzeit zusammen. Er hatte immer nur Augen für sie gehabt. Und nun? Der alte Stech hatte sich wahrscheinlich ein junges Ding angelacht. Krankenhaus! Wie lächerlich.

Und damit sie ihm nicht auf die Schliche kommen konnte, hatte Alfons Leute angeheuert, die sie überwachen und einsperren sollten. Ohhhh – ohnmächtig vor Wut schlug Bernadette mit der Faust gegen die Tür. 

Eine Frau kam ins Zimmer. „Bernadette, was kann ich für dich tun? Möchtest du etwas trinken? Ein Glas Wein vielleicht? Komm doch rüber ins Wohnzimmer. und wir schauen zusammen fern.“

„Du bist nett – wer bist du`“ „Ich bin Isa, deine Schwiegertochter. Ich kümmere mich um dich (und das ist nicht lustig“ – ergänzte Isa in Gedanken. Denn die Betreuung einer Demenzkranken war alles andere als leicht. Und immens zeitaufwändig).“ Ach ja, Isa. So seltsam das Leben rund um Bernadette herum geworden war, mit der Zeit fasste sie Vertrauen zu Isa. Sie war immer freundlich, warf ihr nie vor, dies oder das vergessen zu haben. Sie half ihr beim Anziehen und wusch ihr die Haare. Isa war nett. Netter als der Mann, der sich als ihr Sohn ausgab.

Deshalb war Bernadette ehrlich betroffen, als sie ihre Schwiegertochter eines Morgens weinend am Küchentisch fand. Bernadette konnte gut zuhören. Oder so erscheinen, als höre sie zu. Tatsächlich war es ihr möglich, stundenlang still dazusitzen, den Blick in die Ferne gerichtet. Nach einer ganzen Weile brach es aus Isa heraus: ihr Mann, Bernadettes Sohn, hatte eine Geliebte.

„Er auch!“ rief Beradette, die genau verstanden hatte, was Isa gesagt hatte. „Naja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!“. „Wieso?“ fragte Isa. Und Bernadette erklärte ihr, dass Alfons natürlich nicht im Krankenhaus war, sondern sich mit seiner jungen Geliebten im Urlaub befand.

Isa hörte fasziniert zu. Ihre Tränen versiegten. Statt, wie sonst, zu versuchen, Bernadette von ihrer fixen Idee abzulenken, hakte sie nach. Wie diese Geliebte denn aussähe. Wie alt sie sei. Und was Bernadette zu tun gedenke. Bernadette wusste zwar nichts über Alter und Aussehen ihrer Rivalin, aber dass sie sie mit der Walter PPK ihres Mannes, die sie zufällig in ihrer Handtasche gefunden hatte, erschießen würde, das war ihr klar. 

Am nächsten Tag erhielten Isa und ihr Mann einen Anruf aus der Klinik. Alfons sollte am nächsten Montag entlassen werden. Am Sonntag Nachmittag klingelte eine junge blonde Frau an der Tür. Sie hatte eine Mitteilung von Isa erhalten. Sie wollte sich mit ihr über Richard unterhalten, sie würde nicht sonderlich an ihm hängen, knüpfte an eine Trennung jedoch eine Bedingung. Darüber, so hatte sie geschrieben, wollte sie mit ihr sprechen.

Aber es war nicht Isa, die die Tür öffnete, sondern Bernadette. Isa war kreidebleich zu ihr ins Zimmer gestürzt und hatte gerufen: „Da steht eine junge Frau vor der Tür. Meinst Du, das ist Alfons Freundin?“ 

Bernadette war wortlos aus dem Zimmer gestürmt, mit der Handtasche am Arm. Sie ließ die junge Frau nicht zu Wort kommen, Der Schuss, den sie aus nächster Nähe abfeuerte, war natürlich tödlich.

Statt eine Haftstrafe zu verbüßen, wurde Bernadette in die beschützende Abteilung eines Bezirkskrankenhauses eingewesen. Als Demenzkranke war sie nicht schuldfähig. 

Alfons besuchte sie jeden Tag. Und kam auch jetzt nicht auf den Gedanken, eine andere Frau anzuschauen. Richard war durch die Ermordung seines Seitensprungs durch seine Mutter geläutert und betrog Isa nie wieder. 

Pause


Liebe Leser*innen – Weihnachten naht, und wir alle sind ziemlich stark mit den Vorbereitungen beschäftigt. Ich hätte trotzdem auch heute einen Minikrimi verfasst. Aber ich betreue seit vorgestern meine demente Schwiegermutter – spiele grade mit ihr Domino – und das nimmt mir viel Kraft. Abgesehen davon, dass ich ständig déjà-vu- Momente habe (wie sich das Verhalten dementer Personen doch gleicht, in vielem), ruft die Situation in mir Erinnerungen an meine Mutter und an unsere letzte gemeinsame Zeit sehr stark wach.

Ich habe meine Mum mit viel Liebe und Zuwendung gepflegt, und ich bin nach ihrem Tod erstmal sehr krank geworden. Dabei war ich so schwach, dass ich mich nicht aufraffen konnte, an mich und meine Heilung zu denken. All diese wird wieder lebendig.

Dazu die Weihnachtszeit, die wir immer sehr bewusst gelebt und genossen haben. Es ist nicht einfach, grade.

Deshalb heute also kein Krimi. Aber morgen!

Gute Nacht, ihr Lieben!

Adventskalender Minikrimi am 5. Dezember


Keine Wahl

Sie ist wach, lange, bevor der Wecker klingelt. Früher hat sie sich nach dem ersten „Kikerikiiii“ nochmal tief in die Daunen geschmiegt, und wenn Mami um sieben mit einer Tasse Kakao ins Zimmer kam und gut gelaunt rief „Sofia, aufstehen, der Morgen lacht!“, lugte nur die Nasenspitze aus der Decke hervor. Früher. Da hatte Sofia nie verstanden, wie Mami es schaffte, immer gut drauf zu sein. Sogar, wenn es draußen noch dunkel war, oder wenn sie einen tierisch ekligen Tag vor sich hatte, mit lauter unangenehmen Meetings und so. Jetzt kommt Mami morgens nie in ihr Zimmer, sondern liegt in unruhigem Medikamentenschlaf bis mittags im Bett.

Sofia schält sich aus der Decke – die Daunen sind in der Waschmaschine verklebt und hängen in Klumpen im Bettbezug. „Aufstehen, Simon, der Morgen lacht“, flüstert sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr. Eigentlich nervt es sie, dass er in ihrem Bett schläft, aber jetzt im Winter wärmen sie sich so wenigstens gegenseitig. Und Simon braucht alle Wärme, die er kriegen kann, denkt Sofia. Zärtlich streicht sie ihm das schlaffeuchte Haar aus der Stirn. Blonde Locken, wie Papa. Papa. Sofia schluckt etwas herunter, was wie Tränen schmeckt. Aber sowas kann sie sich nicht leisten. Nicht mehr. Sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

Sofia ist erst dreizehn, doch seit ihr Vater vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist – „hit and run“ – heißt das in Amerika, ist sie es, die den Familienalltag am Laufen hält. So gut sie es eben kann. Die Mutter ist chronisch depressiv, zu Zeiten sogar suizidal. Wenn du kein Einkommen hast und keines verdienen kannst, geht der soziale Abstieg ganz schnell. Vaters Geld war in einem halben Jahr verbraucht. Haus und Möbel wurden versteigert, dann der Umzug in die Sozialwohnung.

Sofia hatte kein Problem damit, in eine neue Schule zu gehen, eine Gesamtschule, was anderes gibt es nicht in der Nähe. Die Freundschaften aus dem Mädchengymnasium hatte sie da bereits hinter sich gelassen. Du wirst uninteressant, wenn du nichts mitmachen kannst. Kein Shopping, keine Clubs, und nach den Ferien hast du keine Urlaubsabenteuer zu berichten, weder von den Seychellen noch vom Sprachkurs in England. Nein. Ganz so stimmte das nicht. Es gab da schon ein paar Mädchen, die nicht so waren. Die gerne weiter mit ihr befreundet gewesen wären, weil sie sich mochten. Aber Sofia hatte einen Schlussstrich unter ihr altes Leben gezogen. Und alle und alles hinter sich gelassen. Außerdem hat sie gar keine Zeit mehr für Freundschaften.

Schließlich muss sie sich nicht nur um Simon kümmern, sondern auch um ihre Mutter. „Mami, Simon braucht neue Schuhe“, hat sie erst gestern gesagt und versucht, die dicke Mauer aus Tabletten und Gleichgültigkeit zu durchdringen. „Mir geht’s grade nicht so gut, frag Papa“, war die Antwort.

Frag Papa. Was würde er machen? Er würde sich kümmern, eine Lösung finden. In diesem Fall wohl vor allem: Geld verdienen. Sofia ist dreizehn und geht noch zur Schule! Aber sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen.

In den letzten Wochen hat sie angefangen, in der Pause mit ein paar Typen aus ihrer Klasse rumzuhängen. Eigentlich, nachdem Mandy, sowas wie die Anführerin der Mädchen, versucht hatte, sie fertig zu machen. „Du glaubst wohl, du bist was besseres?“ „Du wohnst in genau so ner dreckigen Sozialwohnung wie wir, ich hab dich heimgehen sehen, du Lauch. Du Bitch, du bist so wack….“ Sofia hatte zwar nicht den Wortlaut verstanden, aber wohl die Absicht. Früher, da hatte Papa sie zum Muay Thai-Training gefahren („Ich fände Ballett ja besser, aber vielleicht musst du dich mal verteidigen können“). Genau. danke Papa. Mandy war zu Boden gegangen. Und Sofia hatte eine neue Clique.

Sie wollte es sich nicht eingestehen, aber die Bewunderung der Jungs tat ihr gut. Sie lernte, Zigaretten zu drehen und Shisha zu rauchen. Eines Tages schenkte ihr Ben einen Minirock aus Kunstleder und sagte: „Den hab ich für Dich gefunden. Mach dich schön, wir gehen zu ner Party, die is lit af.“ Sofia verstand, dass sie nicht nein sagen konnte. Schweren Herzens löste sie ein mini Stück von Mamis Schlaftabletten in Simons Saft auf, legte ihn ins Bett und ging. Ben hatte nicht zu viel versprochen. Die Party war „echt cool“, wie Sofia sich ausdrückte. Es gab Bier und Wodka und Red Bull und Tabletten. Alles umsonst. Zum ersten Mal nach Papas Tod fühlte sie sich frei. Und gut.

Das ist jetzt vier Wochen her. Inzwischen hat sie kein schlechtes Gewissen mehr, wenn sie Simon die aufgelösten Schlaftabletten gibt. Der Kindergärtnerin hat sie gesagt, er hätte eine verschleppte Erkältung und sei deshalb tagsüber so teilnahmslos. Die Schule bringt sie irgendwie hinter sich. Sie ist immer noch besser als der Rest der Klasse, auch, wenn sie nicht lernt und keine Hausaufgaben macht. Der Lehrer lässt sie in Ruhe, denn sie hebt den Durchschnitt. Mandy macht einen Bogen um sie. Sie gilt als Bens Girlfriend. Er kauft ihr Klamotten, was zu essen, genug für sie und Mami und Simon, am Abend die Drinks und die Tabletten. Mehr als knutschen war bislang nicht drin, aber Sofia weiß, irgendwann wird sie sich revanchieren müssen.

Irgendwann war vor drei Tagen. „Süße“, hatte Ben ihr ins Ohr geflüstert und dabei immer wieder daran genagt. „Süße, meine kleine Bitch. Es wird Zeit, dass du mir zeigst, wie lieb du mich hast.“ Sofia hatte genug Wodka und Tabletten intus, um ihm als Antwort die Zunge ganz tief in den Hals zu stecken und sich rhythmisch an seinem Köper zu reiben. Aber das war es gar nicht, was Ben wollte. Er schob sie ein Stück von sich weg auf der abgewetzten, fleckigen Kunstledercouch und sagte, plötzlich ganz Businessmann: „Siehst du die drei Betties da drüben? Die sind echt Boyfriend-Material. Aber sie müssen noch auftauen. Mach mal.“ Und er legte ihr ein paar von den blauen Pillen in die Hand. „Nein, mach ich nicht“, hatte Sofia gesagt. Denn sie ist ein großes Mädchen. Ein starkes Mädchen. Sie zieht andere nicht mit runter.

Erstaunlicherweise hatte Ben sie nicht gezwungen. Aber am nächsten Tag auf dem Schulhof hat er sie am Arm gepackt und zum Zaun gezogen. Da standen zwei Männer, schwarz gekleidet, solche, die ihr Muay Thai-Trainer immer mit ganz harten Augen weggeschickt hatte. „Süße, wenn du keinen Stoff verticken willst, dann musst du was anderes machen. Ich hab wegen dir so viel Schulden bei den beiden hier gemacht, da musst du jetzt bezahlen helfen….“, sagte Ben.

Sofia hatte sich losgerissen und war in das Schulgebäude gerannt. Hatte ihre Tasche geholt, dem Lehrer gesagt, ihr sei schlecht, und war nach Hause gegangen, immer mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Zuhause hatte Mami Spaghetti gekocht, und sie saßen sich am Küchentisch gegenüber, es war fast wie früher. „Mami, ich hab da ein Problem“, hatte Sofia begonnen, ihr Herz auszuschütten. Aber ihre Mutter hatte schon wieder versonnen in die Pasta geschaut, nichts gegessen und nur abwesend gemurmelt: „Schatz, frag Papa.“

Als sie Simon vom Kindergarten abholte, fuhr ein schwarzes Auto hinter ihnen her, ganz langsam. In der Wohnung schloss Sofia die Haustür ab, zog die Vorhänge zu und legte sich mit Simon ins Bett.

Gestern Morgen hatte sie in der Schule angerufen und gesagt, „meine Tochter ist krank.“ Das gleiche hatte sie mit dem Kindergarten gemacht. Sie rührte sich nicht aus der Wohnung. Simon protestierte, ihm war langweilig, und den blöden Saft wollte er plötzlich auch nicht mehr trinken. „Der schmeckt so bitter, und dann ist mein Kopf immer soooo schwer.“ Sofia schaute den Schatten zu, wie sie sich über die Wände legten, und den Ameisen, die Simons verschmähtes Marmeladenbrot in unzählige Transportbrocken zerlegten und durch die Küche schleppten, wer weiß wohin.

Gestern Abend, Sofia war grade im Bad, hatte es an der Tür geklingelt, und Simon war schneller gewesen. Als Sofia dazukam, stand Ben da. Nur Ben. Er kam nicht rein, gab ihr ein kleines Päckchen und sagte: morgen holen sie dich ab. Tu, was sie dir sagen. Du hast deinen Bruder doch lieb. „Simon?“ fragte Sofia. „Simon!“ rief sie. Aber Simon war verschwunden.

Später, als sie auf dem Bett saß und ungläubig auf die Waffe starrte, die sie ausgepackt hatte, klingelte ihr Handy. „Hast du es dir überlegt? ja? Dann komm runter. Dein Bruder wartet im Auto. Wenn wir dir erklärt haben, was du zu tun hast, kannst du ihn mit rauf nehmen. Aber wenn du es dir morgen anders überlegst, ist er für immer weg. Wir wissen, wo er spielt….Klar?“

Jetzt bringt Sofia Simon zum Kindergarten. Wie jeden Morgen. Gibt ihm einen Kuss. Wie jeden Morgen. Um die Ecke wartet der schwarze Wagen. Sie steigt ein. Die Männer fahren mit ihr zu einer Garage, dort muss sie die Waffe abfeuern. Zur Übung. Es ist gar nicht schwer. Sie wird aus nächster Nähe schießen und braucht nicht wirklich zu zielen. Sie ist ein großes Mädchen.

Das Auto hält vor einem riesigen Gebäude, Stahl und Glas. Sie steigt aus. In der einen Hand hält sie ein Foto, in der anderen, in einem Beutel versteckt, die entsicherte Waffe. Sie wartet, und als der Mann auf dem Foto die Treppe hinunter kommt, steht sie vor ihm, sagt „Hallo“. Er lächelt sie freundlich an: „Hallo, Kleine!“ Und Sofia drückt ab.

„Nur wenige Minuten nach seinem Freispruch ist „Ali G. das Oberhaupt eines von zwei konkurrierenden Drogenclans, auf den Stufen des Gerichtsgebäudes erschossen worden. Tatverdächtig ist ein Kind, zwölf bis dreizehn Jahre alt. Die Polizei sucht nach dem Mädchen, das allerdings noch nicht strafmündig ist.“

Der Adventskalender-MiniKrimi am 2. Dezember


ivanko

Sport ist Mord

Ich sag’s ja, Sport ist Mord“. Kommissar Grubers Laune hat sich seit seiner Ankunft am Tatort kontinuierlich verschlechtert. Und das liegt nur zum Teil daran, dass ihn das Fitness-Studio mit seinen Spiegeln und chromblitzenden Geräten mit der Tatsache konfrontiert, dass er viel zu selten trainiert. Nein – solche Fälle ärgern Gruber. Die Frau ist zu junge und zu schön, um tot unter dem Gewicht eines Fitnessgerätes zu liegen. Sie ist auch zu sportlich. Ihr Jogginganzug unter dem Putzkittel sieht denen der Trainer zum Verwechseln ähnlich, bis auf den kleinen Anhänger. Der ist golden. Mit zwei eingravierten Buchstaben, AW.

„Der Fall ist klar, Chef“. Ich ruf schon mal den Staatsanwalt an, der soll das BKA informieren. Mafiamord in München. Schrecklich. Naja, wenigstens haben wir dann nichts mehr damit am Hut.“ „Das werden Sie nicht tun, Obermeier.“ Der Kommissar legt seinem Assistenten eine schwere Hand auf die Schulter.

„Chef – wieso? Die Tote hat einen Zettel in der Hand, auf dem steht „Wendetta“. Das ist italienisch und heißt Rache.“

„Ich weiß, Obermeier…“

„Und der erklärt alles. Carmela Santamaria war erst vor zwei Wochen als Putzfrau eingestellt worden.Sie kommt aus Neapel. Kerstin Roth, das ist die Pächterin dieser AnitaWagnerFitness-Filiale hier, hat mir alles erzählt. Sie sagt, dass Carmela sich sehr seltsam verhalten hat. Als würde sie rumschnüffeln. Vielleicht hat sie das Fitness-Studio als Tarnung benutzt. Oder wollte Geld waschen. Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist ihre Tarnung aufgeflogen, die Mafia hat sie hier aufgespürt und dann – basta.“

„Obermeier! Jetzt hören Sie schon auf. Der Fall ist doch sonnenklar. Stimmt, ihre Tarnung ist aufgeflogen. Stimmt, jemand wollte sie stoppen. Aber mit Mafia hat das nichts zu tun.“

„Das versteh ich nicht, Chef. Das müssen Sie mir erklären…!“

Bevor Kommissar Gruber seinem Assistenten die Lösung des Falles verrät, seid Ihr dran!

Na, wer hat „Carmela“ getötet? Und warum könnte das geschehen sein?

Ich freue mich auf Eure Ermittlungen!