MiniKrimi Adventskalender am 1. Dezember

Vorhänge vor einem Fenster.

So, let the tale begin. Herzlich willkommen zum MiniKrimi Adventskalender 2025.

Meine Co-Autorin Lydia H. und ich entführen euch in diesem Dezember wieder in die schicke Siedlung an der Minervastraße am Stadtrand von München. Dort leben ganz unterschiedliche Menschen. Alte und junge, schöne und unscheinbare, frohe und traurige. Und wie in jeder Siedlung passieren dort viele Geschichten. Die einen schön, die anderen schaurig. Aber immer ein wenig geheimnisvoll.

Der letzte Vorhang

Ein lautes Klirren erschütterte das elegante Erdgeschoss der Minervastraße 7. „Neiiiin!“, entfuhr es Lisa. „Nicht das Porzellan meiner Oma.“ Fassungslos starrte die junge Frau erst auf den Umzugskarton, der ihr gerade aus den Händen geglitten war, und dann auf den Mann, der wie aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht war.

Dr. Best, ohne Zweifel.  Dieselbe arrogante Ausstrahlung wie früher.  Vor Lisas innerem Auge zogen sofort die Geschehnisse der letzten 5 Jahre vorüber. Geschehnisse, die letztendlich zu ihrem Auszug aus der Minervastraße geführt hatten.  Aus ihrer Oase. Aus ihrem sicheren Hafen. Hier hatte sie sich zum ersten Mal seit ihrer Scheidung wieder zu Hause gefühlt. Hier hatte sie neue Leute getroffen, zaghafte Freundschaften geknüpft. Wieder begonnen, dem Leben zu vertrauen.

Und jetzt stand ausgerechnet der Mensch vor ihr, dessen Behandlungsfehler dazu geführt hatte, dass sie alles verloren hatte. Schon wieder.  Dass sie noch einmal vor den Scherben ihrer Existenz stand – und nicht wusste, ob sie genug Kraft für einen weiteren Neuanfang haben würde.

„Entschuldigung“, sagte der Mann zu ihr. „Ich bin, glaube ich, ihr Nachmieter. Die 3 Zimmer Wohnung im dritten Stock?“ Lisa konnte es nicht fassen. Der Typ erkannte sie nicht einmal mehr.  Nach all dem, was er ihr angetan hatte! Und nun nahm er ihr auch noch ihre Wohnung weg. Ihren letzten Rückzugsort. „Ja“, antwortete sie kurz angebunden, dreht sich um und trug den Karton mit dem zerbrochenen Porzellan zu den Mülltonnen. Nichts als Scherben, dieses Leben.

In den nächsten Tagen war Lisa mit der Einrichtung der neuen Wohnung beschäftigt. Ein Zimmer am Stadtrand von München.  In einer der neu aus dem Boden gestampften Siedlungen, die den Mietnotstand mindern sollten. Die meisten der Wohnungen waren für Menschen mit einem sogenannten Wohngeldanspruch des Jobcenters oder des Sozialamtes reserviert. Menschen wie Lisa, die seit der Katastrophe vor 5 Jahren zu 100 Prozent erwerbsgemindert war. Dazu kamen Langzeitarbeitslose, Rentner und Geflüchtete. Leute, die das Stadtbild störten. An den Rand geschoben. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Lisas persönliche Katastrophe, lebensbedrohlich, physisch wie psychisch, hatte vor Gericht nicht mal zu einem Bußgeld für den verantwortlichen Arzt Dr. Best, bzw. Dr. Biest, wie Sie ihn getauft hatte, geführt. Das beauftragte Gutachten kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände gehandelt hatte. Eine Krähe…, das kennt man ja. Dr. Biest, bei dem Lisa 15 Jahre in Behandlung war, hatte es schlicht versäumt, ihr jemals den Blutdruck zu messen – wofür er nicht belangt werden konnte. Wie hätte er als ihr Hausarzt, auch auf den Gedanken kommen können, dass eine schlanke, sportliche Frau in der Mitte ihres Lebens einen Bluthochdruck entwickeln könnte. Das bisschen Schwindel, naja, das kennt man doch bei Single Frauen. Schlechter Sex vielleicht, oder gar keiner. Hysterie, typisch weiblich. Hat ja schon Freud so erkannt. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellte.  An einem schönen Junimorgen vor 5 Jahren brach Lisa mit unerträglichen Schmerzen zusammen und wurde mit Blaulicht ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort stellte sich heraus, dass sie an einem Aortenaneurysma litt, welches an diesem Morgen gerissen war. Die Ursache war zweifelsfrei ein jahrelang nicht erkannter und folglich nicht behandelter Bluthochdruck.

Nachdem Lisa unter laufender Reanimation ins Krankenhaus eingeliefert worden war, folgten Notfalloperation, Herzkreislaufstillstand, wieder Reanimation, die allerdings erst nach 7 Minuten erfolgreich war, und ein Schlaganfall. Wie durch ein Wunder erwachte Lisa auf der Intensivstation. Sie hatte überlebt. Aber um welchen Preis! Körperlich ein Wrack, konnte sie ihren Job als Bereiterin in einem Gestüt ab sofort nicht mehr ausüben.  Es folgten traumabedingte Depressionen und letztendlich die Aussteuerung aus dem ersten Arbeitsmarkt.  Massive finanzielle Einbußen, Schulden… und das Ende ihrer Zeit in der geliebten Minervastraße. Ihre Bekannten hatten sich da längst nach und nach verabschiedet. Die Gespräche mit einer traumatisierten, verhärmten und mit ihrem Schicksal hadernden Frau waren mehr Qual als Freude.

Nun also ein neuer Lebensabschnitt. Der letzte Vorhang? Hier zwischen den Ausgestoßenen fühlte sich Lisa zumindest unter ihresgleichen. Und wenn sie kaum einen der Wortfetzen verstand, die ihr auf den Fluren entgegenflogen? Egal. Sie hatte längst die Fähigkeit verloren, zu kommunizieren.

Der Plan entstand beim Putzen des Fensters ihrer Einzimmerwohnung. Quadratisch, praktisch, nicht sehr gut. So anders als die liebevoll gestalteten Fenster in der eleganten Minervastr. 7, die die letzten 15 Jahre ihr Zuhause gewesen war. Doppelflügelig und groß. Und nicht leicht zu reinigen. Es war immer ein beinahe akrobatischer Akt gewesen, dieses Balancieren auf einer Leiter, um auch die oberen Rahmen zu erreichen. Ein Lächeln huschte über Lisas Gesicht.  Zumindest dieses Problem hatte sie jetzt nicht mehr. Dafür aber Dr. Biest. Die Idee war Lisa fast zwangsläufig gekommen. Sie war einfach naheliegend. Und den Schlüssel zur Wohnung hatte sie auch noch. Die Übergabe sollte erst am nächsten Tag stattfinden. Erst? Oder schon?

Um 19:00 h stand Lisa in ihrer ehemaligen Wohnung.  Wehmut überkam sie, als sie ein letztes Mal auf den blühenden Garten schaute, auf das sanfte Grün und hinüber bis zum tannenumstandenen Teich. Aber sie hatte keine Zeit, sich in Erinnerungen zu verlieren. Sie nahm den mitgebrachten Schraubenzieher und machte sich ans Werk.  10 Minuten später verließ Lisa die Minervastraße zum letzten Mal. Die Rückfahrt vom noblen Münchner Stadtteil zu ihrem Zuhause, für das ein Acker hatte weichen müssen, gestaltete sich als noch beschwerlicher als die Hinfahrt. Eine schnelle Anbindung an den ÖPNV war zwar angedacht, hatte aber bei der dort angesiedelten Klientel offenbar keine Priorität für die Verkehrsplanung. Und Lisas kleiner roter Sportwagen war leider schon lange Vergangenheit.  So wie ihr gesamtes Leben.

Ein paar Tage später las Lisa die kurze Notiz in ihrer Tageszeitung: „In der noblen Minervastraße kam es gestern zu einem tragischen Haushaltsunfall. Der neue Mieter einer Wohnung im dritten Stock verlor scheinbar das Gleichgewicht, als er schwere Gardinen anbringen wollte. Diese waren offensichtlich zu schwer für den Fensterrahmen, so dass sich dieser von der Wand löste. Den Sturz aus dem dritten Stock auf den Gehsteig hat der Mieter, ein bekannter Münchner Internist, nicht überlebt.“

Adventskalender MiniKrimi vom 10. Dezember


Der heutige Krimi wurde von Birgit Schiche geschrieben. Ganz lieben Dank dafür! Viel Spaß beim Lesen – und vielleicht denkt Ihr danach auf einmal anders über Eure lieben Nachbarn…

Eine liebe, nette Nachbarin

Claudia mochte ihre Wohnung. Drei Zimmer, Küche, Bad mit Badewanne und ein schöner, sonniger Balkon mit Blick ins Grüne mitten in der Großstadt. Seit fast dreißig Jahren wohnte sie nun schon in diesem gutbürgerlichen Stadtteil und es fühlte sich einfach richtig an. Das war auch gut so, denn seit Beginn der Corona-Pandemie arbeitete sie nur noch im Homeoffice. Also in ihrem Wohnzimmer am Esstisch, im Sommer sogar auf dem Balkon, was schon ein bisschen als Luxus gelten durfte. Doch nun im November war es kalt, grau und ungemütlich. Sie saß zum Arbeiten immer noch an ihrem Esstisch und langsam hasste sie ihren harten Stuhl, der ihr Rückenschmerzen bereitete. Die Tage waren seit Monaten bestimmt von Online-Meetings, Online-Workshops, Online-Vorträgen und Arbeiten am PC. Später dann Spiele-Abende oder Klönschnack mit Freundinnen, online natürlich. Was sie zu Beginn der Pandemie noch begeistert hatte und wovon sie kaum genug bekommen konnte, saugte ihr nun allmählich die Energie aus der Seele. Auf Dauer waren Online-Kontakte eben doch kein Ersatz für echte Sozialkontakte. Das machte was mit ihr, sie veränderte sich in kleinen, schleichenden Schritten. Aber so war das eben im Lockdown, und sie hielt sich an die Regeln. Aus Überzeugung. Und aus Respekt vor der bedrohlichen Krankheit, denn sie gehörte wegen einiger Vorerkrankungen zur Risiko-Gruppe. Außerdem wollte sie nicht klagen, sie wollte durchhalten. „Schlimmer geht immer“, dachte sie. Und vielleicht war das ein Fehler. Denn genauso kam es.

Vor kurzem erst waren neue Mieter in die Wohnung über ihr eingezogen, ein Pärchen. Vorgestellt hatten sich die beiden Neuen natürlich nicht, sowas war leider aus der Mode gekommen. In der Dachgeschosswohnung hatten die Mieter in den letzten dreißig Jahren schon so einige Male gewechselt. Claudia war inzwischen die „dienstälteste“ Mieterin im Haus, was sie ein bisschen stolz machte. 

Die neuen Mieter hatten den Oktober durchgängig genutzt, um die Wohnung zu renovieren. Den ganzen Tag hörte Claudia ein Schrabbeln wie beim Tapetenlösen, dazu Poltern, Hämmern – auch während der Mittagsruhe und am Wochenende. Die Schritte in der Dachgeschosswohnung klangen wie das Stampfen einer Elefantenherde. Zweierlei Stimmen, mal fröhlich plappernd oder schräg singend, mal fluchend oder streitend, klirrten Tag für Tag, Stunde für Stunde wie zu Geräuschen gewordene spitze Scherben auf sie herab. 

„Wenn sie mit der Renovierung fertig sind, wird es schon ruhiger werden“, versuchte sie ihren wachsenden Unmut zu beruhigen. Doch der ständige Lärm drohte, ihr den letzten Nerv zu rauben. Als wären die Belastungen durch die Corona-Pandemie nicht schon genug.

In Online-Veranstaltungen konnte Claudia kaum noch folgen, so fahrig und unkonzentriert war sie inzwischen. Wegen der Störgeräusche musste sie dauerhaft ihr eigenes Mikrofon ausschalten. So konnte sie sich kaum noch aktiv beteiligen, was auch bei ihren Vorgesetzten nicht gut ankam, verdammt. Den Ärger fraß sie in sich rein, wortwörtlich. Sie stopfte sich das Maul mit selbstgebackenen Weihnachtskeksen, schokoladigen Lebkuchen, buttrigem Stollen. Sie bekam wieder häufiger Migräne, vielleicht auch wegen der ungesunden Ernährung. Aber sie wollte nicht die Nachbarin sein, die sich „immer gleich beschwerte“. So wollte sie nicht gesehen werden, so war sie nicht. Alle kannten sie als nette, liebe Nachbarin!

Als endlich der Umzugswagen kam und die Helfer laut polternd die Möbel und Kisten ins Dachgeschoss schleppten, atmete sie auf. Jetzt würde bestimmt bald Ruhe einkehren. Darum sagte sie auch nichts, als das gerade am Morgen frisch geputzte Treppenhaus abends schon wieder völlig verdreckt war. Eigentlich hätten das die neuen Mieter selbst bereinigen müssen. Aber um des lieben Friedens Willen putze Claudia die Treppe abends noch ein zweites Mal. Es gab ja Hoffnung.

Doch auch zwei Wochen nach dem Umzug war es keineswegs leiser. Man hatte sich in der Dachgeschosswohnung inzwischen eingerichtet. Aber Teppiche schien es keine zu geben. Die trampelnden Elefantenschritte waren jedenfalls weiterhin laut und deutlich zu hören. Ebenso das Singen, Plappern, Streiten. Hinzugekommen waren mehrere Heulanfälle der jungen Nachbarin. Sie hatte dabei wirklich Ausdauer. Er schien eher der sportliche Typ zu sein, hatte er doch einen Boxsack aufgehängt, auf den er täglich enthusiastisch einprügelte. Tack, tacktack, tacktacktack, dazu die Beinarbeit, mindestens eine Stunde lang. Vorab übte er sich zum Warmwerden im Seilspringen. Klack-stampf, klack-stampf, klack-stampf, leichtfüßig war er wahrlich nicht. Sie hatte schon einige Male unwillkürlich nach oben an die Wohnzimmerdecke geschaut in der Erwartung, dort müssten sich Risse zeigen oder Staub würde bei jedem Sprung auf sie herab rieseln. Viele Male war sie schon unwillkürlich zusammengezuckt, hatte wütend geschnaubt. Außerdem liebte der neue Nachbar Sportsendungen, insbesondere Fußball, und konnte sich dabei regelrecht cholerisch ereifern – er brüllte jedenfalls wie im Fußballstadion. Offenbar war er HSV-Fan, da gab es gerade viel zu brüllen. Und zu fluchen.

Wenn er nicht mit seinem Sport beschäftigt war, widmete sich seine Lebensgefährtin ihrem offenbar noch recht neuen Hobby: Sie übte sich im Cello-Spielen. Man konnte zwar eine Weihnachtsmelodie erahnen, aber es war nicht gerade ein Vergnügen die ersten Takte von „Oh, Tannenbaum“ wieder und wieder zuhören, tagaus, tagein – Disharmonie pur. Manchmal spielte sie auch auf einer Blockflöte. Hier hatte sie offenbar einen Übungsvorsprung und konnte verschiedene Lieder wie „Jingle Bells“ und „Oh, du fröhliche“ anstimmen. Aber schöner klang das auch nicht wirklich. Claudia reagierte mittlerweile geradezu allergisch auf jedes aus der Dachwohnung auf sie wie klebriger Honig herab tropfende, polternde, an den Nerven zerrende Geräusch. So ging es nicht weiter.

Sie war diese Woche wieder mit der Treppenhausreinigung dran und machte sich gleich am Montagmorgen an ihre Reinigungspflicht. Jetzt, um acht Uhr früh, war es noch nicht einmal richtig hell. Claudia drückte auf den Lichtschalter – nichts. Auf ihrem Treppenabsatz war mal wieder die Birne kaputt. Dann musste sie die Stufen eben im Halbdunkel reinigen, irgendwie würde das schon gehen. Quasi im Blindflug fegte sie über die Stufen. Die Dachgeschossmieter und ihre – trotz Corona! – zahlreichen Gäste hatten reichlich Schmutz ins Haus getragen, statt sich unten die Füße ordentlich abzutreten. Nun musste sie ihnen auch noch hinterher putzen. „Bestimmt tragen die auch keine Masken und waschen sich nicht die Hände“, steigerte sie sich maßlos in ihren Ärger hinein. Und überschritt eine Grenze. Ein Plan reifte in ihren Gedanken. Claudia grinste böse, aber zufrieden. 

Hätte sie jetzt einer der anderen Hausbewohner gesehen, sie hätten die liebe, nette Nachbarin nicht wieder erkannt.

Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr hallte ein lautes Poltern gefolgt von einem Schreckensschrei durchs Haus. Dann: Stille. Claudia hielt den Atem an und widerstand nur mühsam der Versuchung, sofort nachzuschauen. Erst als sie die Stimmen anderer Nachbar:innen hörte, öffnete auch sie ihre Wohnungstür und trat hinaus. 

„Oh, mein Gott, wie schrecklich!“

„Ist er schlimm verletzt? Lebt er noch?“

„Hat schon jemand einen Krankenwagen gerufen?“

„Kann hier jemand Erste Hilfe?“

„Ja, ich“, rief Claudia den aufgescheuchten Nachbar:innen zu. Mit zwei Handgriffen löste sie die verräterische Nylonschnur von der unteren Kante des Treppengeländers, damit sie nicht auch noch selbst stolperte, und lief vorsichtig die vom Wischen noch feuchten Stufen hinunter. Ja, er war schon ein sportlicher, gut aussehender Kerl. Gewesen. Claudia spürte keinen Puls mehr, drehte ihn jedoch trotzdem gekonnt in die stabile Seitenlage. Die anderen nickten anerkennend. Sein Kopf lag in einem merkwürdigen Winkel zum Körper.

„Wie ist das denn passiert?“

„Er muss wohl auf den feuchten Stufen ausgerutscht sein. Es brennt im dritten Stock mal wieder kein Licht im Flur, und er hat es morgens immer sehr eilig.“

Na bitte, Claudia musste gar nichts sagen.

Mit dieser Erklärung gaben sich alle zufrieden, auch die Sanitäter und die später eintreffenden Polizeibeamtinnen, die routinemäßig den Todesfall untersuchten. Sie hatten keinen Verdacht und notierten „Tod durch Unfall“. Claudia hatte endlich wieder Ruhe. Dachte sie jedenfalls.

Denn die nun alleinstehende Mieterin aus dem Obergeschoss weinte jede Nacht laut jammernd und schluchzend. So war es auch Claudia unmöglich, erholsamen Schlaf zu finden. Sie hatte bereits dunkle Ringe unter den Augen, wirkte um Jahre gealtert und ließ deshalb seit neuestem in Online-Veranstaltungen ihre Kamera ausgeschaltet. Auf diese Weise war sie unhörbar, unsichtbar. „Untragbar!“, fand daraufhin ihr Arbeitgeber, der sie ausdrücklich rügte. Dabei war sie doch vor dieser verdammten Corona-Pandemie eine unverzichtbare Spitzenkraft gewesen! 

Tagsüber versuchte die junge Nachbarin, sich mit Musizieren von der Trauer abzulenken, „Oh, Tannenbaum“, immer wieder von vorne. Und zu Claudias Entsetzen kam sie zusätzlich auf die Idee, sich mit Springseil und Boxsack zu betätigen, um sich ihrem verstorbenen Liebsten nahe zu fühlen. Claudia war verzweifelt. Der Lärm bohrte sich unerbittlich in ihr Hirn und ihre Seele. Klack-stampf, klack-stampf. Tack, tacktack, tacktacktack. Elefantentrampeln, Cello-Geschrammel, Heulerei. 

„So nicht! Nicht in ihrem Haus! DAS war untragbar!“, schnaubte sie wütend, als ihr die harschen Worte ihres Arbeitgebers wieder einfielen. 

Als sie turnusmäßig erneut mit der Treppenhausreinigung an der Reihe war, überlegte Claudia, was sie tun könnte. Gerade wischte sie mit einem Tuch über das Geländer zum Dachgeschoss, an dem sich die trauernde Nachbarin seit dem Tod ihres sportlichen Lebenspartners beim Treppensteigen regelrecht festklammerte. Ja! Das war es!

Claudia verschwand in ihre Wohnung und stöberte in ihrer umfangreichen Krimisammlung. Richtig, hier stand es – sie wusste, was sie besorgen musste. Abermals erschien dieses kleine böse Glitzern in ihren Augen – und dieser fiese Zug um die Mundwinkel herum. Die liebe, nette Nachbarin.

Als zehn Tage später die junge Dachgeschossbewohnerin in ihrer Wohnung bewusstlos von einer Freundin aufgefunden wurde, stellte der Notarzt eine Vergiftung fest. 

„Sie hat so um ihn getrauert! Deshalb versuchte sie, den Schmerz zu betäuben, um endlich mal wieder schlafen zu können“, gab die Freundin später dem Polizeibeamten zu Protokoll. „Konnte doch keiner ahnen, dass sie eine Überdosis nimmt, wovon auch immer! Als ich einige Tage nichts von ihr gehört habe, bin ich mit meinem Zweitschlüssel in ihre Wohnung gegangen und hab sie gefunden.“ Die Freundin schluchzte. Die junge Nachbarin konnte nicht mehr gerettet werden und wurde zwei Tage vor Weihnachten neben ihrem sportlichen Lebensgefährten beigesetzt. „Tod durch Suizid“, stand auf dem Totenschein. Die Ärztin hatte mit all den schweren Corona-Fällen so viel zu tun, dass ihr gar keine Zeit blieb für Zweifel, Fragen, Untersuchungen oder gar eine Autopsie. 

Claudia summte leise vor sich hin: „Stihille Nacht, hei-lige Nacht …“, während sie ein letztes Mal in diesem Jahr das Treppenhaus putzte. Dem oberen Treppengeländer widmete sie sich dabei besonders sorgfältig. Endlich war in ihrem Haus wieder Ruhe eingekehrt. „Frohe Weihnachten“, wünschte die liebe, nette Nachbarin aus Corona-gerechtem Abstand allen Hausbewohner:innen, „und ein geruhsames Fest!“

Adventskalender MiniKrimi am 7. Dezember


Foto von kalhh auf pixabay

Heute präsentiere ich Euch einen Minikrimi meiner Autorinnenvereinigung-Kollegin Angelika Wessbecher. Klein aber gemein!

Mord am Reinmarplatz

Der Anfang war sehr verheißungsvoll. „Volle Fahrt voraus“ signalisierte das Liebeshoroskop von Ariane Mittermeyer, die sich vor einiger Zeit recht halbherzig in einem Singleforum angemeldet hatte. Nicht, dass sie auf Horoskope so viel gab. Nein, also wirklich nicht. Aber man konnte ja nie wissen.

Eines Tages fand sie eine Nachricht in ihrem Posteingang vor. Von einem Mann, der den Nickname „Perlentaucher“ trug. Ariane nahm dessen Profil unter die Lupe, entdeckte das Zitat aus einem Buch, das sie ebenfalls gelesen hatte und einen Songtext, der ihr gleichwohl bekannt vorkam.

Ariane war nicht darauf gefasst, welchen Gefühlssturm sie mit ihrer Antwort entfachte. Der „Perlentaucher“ schrieb, dass er glaube, in ihr eine Seelenverwandte gefunden zu haben, von blindem Vertrauen, von gemeinsamen Jahren war die Rede. Ariane stutzte. „Moment mal“. Da hatte einer die Rechnung ohne die Wirtin gemacht und überhaupt. Das ging ihr alles viel zu schnell, obwohl sie sich in seinen Worten regelrecht badete.

Daraufhin tat Ariane etwas sehr Hässliches. Eine Email (die vierte an jenem Tag) mit einem Hilferuf des liebeskranken „Perlentauchers“ war gekommen und sie lachte ihn in ihrer Rückantwort einfach aus. Der „Perlentaucher“, mit bürgerlichem Namen Peter Hitzlsberger, war außer sich vor Wut, was ja irgendwo auch verständlich war. 

Wenig später tauchte der „Perlentaucher“ (man beachte die Wortspielerei) in dem Haus am Reinmarplatz auf, das Ariane bewohnte. Es klingelte an der Tür, da stand ein ihr unbekannter Mann, hob den Arm und gab einen gezielten Schuss auf ihren Kopf ab. Ariane war auf der Stelle tot.

Dieses Ende war in ihrem Horoskop nicht vorauszusehen gewesen.