
Die Zeit heilt keine Wunden. Mit der Zeit verschorfen sie, verheilen, vernarben. Was aber löst den Heilungsprozess aus? Was fördert ihn?
In den ersten Wochen und Monaten nach dem Tod meiner Mutter konnte ich unsere gemeinsamen Spazierwege nicht gehen, ohne dass mir nach wenigen Schritten die Tränen in die Augen schossen. Wege, Wiesen, Bäume verschwammen zum immer gleichen Bild schmerzhafter Erinnerung, und ich sah sie neben mir gehen, resolut, dann zögernd, schließlich ängstlich. Ich hörte ihre Stimme, immer fest und jugendlich. „Nur so eine kleine Runde?“, „Wie viele Kilometer noch?“, schließlich nur noch „ich habe Angst, ich will nicht gehen.“ In diesen Monaten habe ich verstanden, was es heißt, wenn dir das Herz blutet.
Ich suchte andere Wege, solche, die ich nie mit ihr gewandert war. Die Hunden dankten es mir, und wir liefen spielten rannten ohne Schattenbilder.
Doch dann kamen wir nach Hause. Wo sie auf uns wartete. Ich spürte ihre unsichtbare Nähe, hinter mir auf dem Sofa, wenn ich am Schreibtisch saß. Sah sie die Treppe hinunter huschen, lautlos. Manchmal vergrub ich meine Nase in dem Tigerpulli mit den rosa Ohren an der Kapuze, in dem sie gestorben war. Ahnte ihren leichten Duft, der lange verflogen war.
Das Weinen überkam mich immer plötzlich, schüttelte mich mit harter Hand und ließ mich nach ein paar Minuten zurück, erschöpft und atemlos. Es waren diese Momente, in denen sie mir nahe kam, irgendwann. Mit vergessenen Zitaten, so sehr sie, so, wie sie in den letzten Jahren nicht mehr war. Mit ihrer Stimme und, ja, mit einer zärtlichen Berührung. Begegnungen zwischen den Welten, Wundenbalsam.
Und dann natürlich die Landmarken. Alles zum ersten Mal ohne sie. Es lebt sich näher am Horizont, als Vollwaise. Plötzlich ist die Endlichkeit keine mathematische Tatsache mehr, sondern eine Angst, und zwischen dir und dem Treibsand der Welt steht keine Wand mehr, kein Schutz. Meine Mutter schenkte mir eine Schneekugel. Kurz nach ihrem Tod lief das Wasser aus, und der Engel darin steht nun nackt auf dem Boden. So habe ich mich gefühlt, am ersten Advent. Beim Schmücken des Christbaums. Beim Decken der Tafel am Heiligen Abend. Beim „O du Fröhliche“ in der Christmette.
Immer wieder begegnete ich meiner Mutter im Traum. Immer lebte sie – immer war sie viel pflegebedürftiger, hilfloser, unglücklicher als bis zu ihrem Tod.
Am schlimmsten waren die Rauhnächte bis zum 1. Januar. Ich halte nichts von Orakeln und 12 sich öffnenden Monatstüren, nicht von offenen Zeiten. Aber ich bin dünnhäutig genug, um zu spüren, dass die sichtbare greifbare Welt durchlässiger ist für vieles, das um uns herum existieren mag, auch, wenn wir es im Alltag nicht wahrnehmen – oder wahrnehmen wollen. Ich schlief unruhig und angstvoll, im Halbschlaf eingehüllt von düsteren Nebeln.
In einer dieser traumwachen Nächte saß meine Mutter neben mir auf der Bettkante, schaute mit intensiv an und fragte – ich weiß nicht, ob wehmütig – „Ich bin wirklich tot, oder?“. Und ich antwortete: „Ja, Mammina.“
Im neuen Jahr sind die Nebel verflogen. Frischer Mut breitet sich aus, in mir. Ich gehe die altvertrauten Wege. Allein mit den Hunden. Dort drüben auf der Bank an der Schlossmauer saß meine Mutter und wartete ungeduldig, während ich die Tiere zumindest ein paar Runden rennen ließ. Heute springen die Hunde kreuz und quer über die Wiese, graben nach Mäusen und jagen sich gegenseitig. Ich schaue nach rechts zur verwaisten Bank. Da sitzt sie, Entspannt. Und lächelt zu mir herüber.
Und statt bitterer Tränen steigt Freude in mir auf, und ich lächle zurück.
Nein, die Zeit heilt keine Wunden. Aber mit der Zeit werden die Narben ein Teil von mir, der bereichert und immer weniger brennt.
Trotzdem: „Du fehlst“.
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