Zeit finden………….


Nur noch drei Tage bis Weihnachten! Und noch fünf, sprich alle Geschenke zu kaufen! Mum, Pa, Sister, Oma, Freundin. Noch zwei Tage, um die Kohle dafür aufzutreiben! „Ich freu mich viel mehr über was Selbstgemachtes. Einen Kalender, zum Beispiel.“ O-Ton Mum. „Schenk mir keine Krawatte, die trag ich eh nicht. Schenk mir lieber, dass du mit mir Skifahren gehst, einen Tag lang.“ Sagt der Vater. „Ach, Kind, komm mich doch mal besuchen“, schrieb ihm Oma. Wünsche, die leider unerfüllbar sind. Denn Zeit ist genau das, was ihm fehlt, weiß Vic. Und er hat keine Ahnung, wo er die finden könnte. Die Ohrringe für Sarah gibt’s im Internet. Der Gutschein, mit dem er seiner Schwester die 24-Stunden-Hoheit über den gemeinsamen Computer schenkt, gilt zum Glück erst ab Weihnachten. Also nichts wie rein ins Web und nach „Elfenschmuck“ gegoogelt. Also geschmacklich liegen Welten zwischen uns, denkt er. Und lässt ganz nebenbei natürlich Facebook laufen. Da flackert etwas rechts am Bildschirmrand. Blöde Anzeige, denkt Vic. Aber dann kann er nicht widerstehen und klickt auf den Blauen Button. „Herzlichen Glückwunsch! Deine Suche war erfolgreich. Du hast sie gefunden: 1 Stunde ZEIT!“ So ein Schmarrn, denkt Vic und googelt weiter. Aber der Button verfolgt ihn auf jeder Seite. Schließlich schaut er auf die Uhr. Nur so, natürlich. Das kann doch nicht wahr sein! Grade eben war es noch 14.30h. Und jetzt steht der Zeiger eindeutig auf halb zwei. Ein Blick auf den Bildschirm: es stimmt. Auf irgendeine Weise hat sich die Zeit eine Stunde zurückgedreht. „Wow, Mann!“ Eine Stunde! Vic könnte einen Gutschein schreiben für den Vater. Ein Wochenende raussuchen, an dem er zur Oma fahren kann. Und ein paar Fotos zusammenstellen, für einen selbstgestalteten Kalender. Aber erst muss er unbedingt auf Facebook seinen Hauptgewinn mitteilen. Seine Freunde können das nicht glauben. Es entspinnt sich eine heftige, minimalistisch verbalisierte Diskussion im Chat. Als auch Sarah online geht, muss Vic ihr alles ganz haarklein berichten. Plötzlich blinkt der blaue Button wieder auf. „Dein Zeitgeschenk ist aufgebraucht. Hoffentlich hat es dir geholfen.“….

….Nur noch zwei Tage bis Weihnachten! Ella ist im Stress. Im Radio laufen rund um die Uhr Geschenketipps für Spätentschlossene. In der Schlange vor der Tankstellenkasse fliegen ihr Zeitschriftentitel um die Augen: „Festtagsmenu für Ihre Lieben. In 8 Tagen leicht vorzubereiten.“ „Die perfekte Bescherung – alles selbst gemacht.“ „Die schönsten Tisch- und Christbaumdekos, komplett mit Anleitung.“ Ella würde ihrer Familie gern ein ganz besonderes Festessen kochen und auch vorbereiten. Liebevoll Gelees einmachen, Pralinen kneten und Honigkerzen ziehen. Aber für all das braucht sie Zeit! Verzweifelt schaut sie in den Spiegel, der fatalerweise an der Kassendecke hängt. „Genau. Und um mich selbst so herzurichten, dass ich am Heiligen Abend nicht als Vogelscheuche unterm Christbaum stehe, bräuchte ich mindestens eine Woche.“ Aber wo findet sie die Zeit? Beim Zahlen fällt ihr der Geldbeutel aus fahrigen Händen. „Sie haben da noch was verloren.“ Der freundliche Herr in meliertem Grau reicht ihr einen leuchtend blauen Zettel. „Gehört mir nicht“, will Ella protestieren. Aber er ist verschwunden. „Herzlichen Glückwunsch! Deine Suche war erfolgreich. Du hast sie gefunden: 1 Stunde ZEIT!“ „Blöder Witz“, denkt Ella und schiebt den Zettel in die Tasche. Am Steuer fällt ihr Blick ganz automatisch auf die Uhr. Um vier muss sie bei Jakobs sein zur Jahresendbesprechung. Am Besten mit einem Teller selbst gekaufter Plätzchen für den Lieblingskunden. Das wird knapp. Was? Das kann doch nicht ….! 14 Uhr? Nicht drei? Im Radio kommen die Nachrichten. Kein Zweifel. Sie hat eine Stunde Zeit gefunden. Eine ganze Stunde! Ob mich meine Kosmetikerin noch schnell reinnehmen kann, so zwischendurch? Oder setze ich mich lieber ganz gemütlich ins Tambosi und schlürfe laut und lässig eine große Tasse Schokolade? Oder….nein! Als erstes hole ich die Plätzchen, und zwar bei dem Super Bäcker hinten in der Au! Verdammt. Der ganze Ring ist zu. Ein Riesenstau. Ella steht und steht. Sieht hilflos zu, wie die Zeiger an der Autouhr ihr unaufhaltsam davonrennen, mit der geschenkten Stunde. Kurz vor vier gelingt es ihr, bei Jakobs anzukommen, in der Hand einen Teller alter Plätzchen aus dem Supermarkt am Eck. Beim Bezahlen fiel der blaue Zettel aus der Tasche. „Hat dir dein Zeitgeschenk gefallen?“ liest sie….

…..Oskar schaufelt seine Pappkartons zusammen. Er muss hier nicht übernachten, unter der Isarbrücke. Sein Schlafplatz in Sankt Bonifaz ist frei. Zwanzig Leute auf dem Boden, für jeden eine Decke und am Morgen ein Kaffee. Nee. Oskar liebt die Freiheit. Auf das Wasser schauen, im Mundwinkel die Selbstgedrehte, neben sich ne Flasche Bier. Schön ist das hier. Vielleicht n bisschen kalt. Aber egal. Der Mantel aus der Kleiderkammer ist noch gut. Ein Glück, dass die Mari ihm den aufgehoben hat, heut morgen. Er schiebt die Hände in die Tasche. Wasn das? Ein blauer Zettel. „Herzlichen Glückwunsch! Deine Suche war erfolgreich. Du hast sie gefunden: 1 Stunde ZEIT!“ Hä? Oskar runzelt die Stirn. Was soll das denn? Er zweifelt nicht am Wahrheitsgehalt des Satzes. Er weiß nur nichts damit anzufangen. Eine Stunde Zeit! Das macht die Kälte nicht erträglicher, im Gegenteil. Und die Nacht ist ohnehin schon lang genug. Er hockt sich zwischen die Steine am renaturierten Ufer, faltet das Papier mit ungeschickten Fingern zu einem blauen Boot und lässt es treiben…..

Vic erzählt niemandem mehr von seinem Zeitgeschenk. Er schließt die Facebookseite und sortiert zwölf Fotos aus dem Urlaubsalbum. Das Segelboot, der kleine Hafen, ein Familienbild am buntkarierten Tisch mit einem Berg frischer Muscheln vor sich. Oma lacht besonders laut. Vic holt sein Handy, ruft sie an.

Ella kommt wieder viel zu spät nach Hause. Kochen, putzen, E-Mails lesen. Und die Weihnachtskarten schreiben. Ella macht den Kühlschrank auf. Und wieder zu. Fährt den Computer rauf. Und wieder runter. Geht in die Küche. Macht sich einen Chai. Nimmt einen Beutel Kräutersalz mit Ingwer, lässt die Wanne voll mit heißem Wasser laufen. Mit geschlossenen Augen plant sie ihren Weihnachtscountdown. Aber sehr genüsslich. Mariebastide 12/2011

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