Das Medikamententablett


Sonntagmittag. Regenhimmel. Draußen wischen in Minutenabständen Autoreifen Wasser von der Fahrbahn, platschend. Vor dem Fenster tropfen die Geranien. Meine Mutter steht im Zimmer. In beiden Händen hält sie leere Medikamententabletts, wie die, die man im Krankenhaus bekommt. „Mittwoch, Donnerstag“, ruft sie mich. „Wo ist heute? Muss ich heute keine Medikamente nehmen?“ „Doch, heute morgen habe ich dir schon 4 gegeben. Die nächsten Tabletten gibt es gleich zum Mittagessen.“ „Wo sind meine Medikamente? Ich will meine eigenen Medikamente nehmen, ich muss regelmäßig meine Medikamente nehmen!“ „Ja. Aber während du in der Tagesklinik bist, übernehmen die da die Medikamentengabe. Und weil du letzte Woche damit durcheinandergekommen bist und daheim nochmal deine eigenen Tabletten genommen hast, musste ich die alle wegpacken.“

Falsch. Doppeltfalsch. Ich weiß es, während ich es ausspreche, und deshalb schrillt meine Stimme beim letzten Satz und wird lauter. Sie schaut mich an, mit diesem prüfend scharfen Blick. Perfekte Tarnung. Oder krankheitsimmanent? „Du bist machtbesessen. Du willst Macht über mich ausüben. Du hast mir die Medikamente weggenommen. Gib sie mir sofort zurück. Du hast mir meine Medikamente gestohlen!“

„Nein, Mama, ich hab sie auf Wunsch der Ärzte in die Klinik gebracht. Ich habe sie nicht mehr.“ Lüge. Sie liegen verstreut oben auf dem Dachboden, hinterste Ecke, gleich vor dem Christbaumschmuck.

„Gib mir sofort meine Medikamente. Ich bin nicht verrückt. Ich kann meine Medikamente alleine nehmen. Ich bin für mich selbst verantwortlich! Gib sie mir jetzt sofort, oder ich springe aus dem Fenster!“

Der Teufel reitet mich. Oder die Verzweiflung. „Gut. Spring! SPRING!“ Verwirrung schleicht über ihr Gesicht. „Komm, wir essen. Dann gebe ich dir die Tablette.“ Ich gehe die Treppe hinunter. Unten klappern wir mit den Tellern. Sie kommt. „Meine Tochter ist machtbesessen. Sie will mich unterdrücken!“, sagt sie über die Kartoffeln hinweg. „Besessen“, zischt sie dem Wasserglas zu. Ich stehe auf und gehe ins Arbeitszimmmer. Ich will nicht riskieren, dass sie aus Trotz das Essen verweigert.

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