Der Leuchtturm


17 Uhr. Die Mittagshitze ist einer vorabendlichen Wärme gewichen, die Parkbäume werfen kühlen Schatten vor sich her. Meine Mutter wird unruhig. „Der Hund muss raus“. Eine Feststellung, keine Frage. Sie bewegt sich in systematischer Ziellosigkeit zwischen Bett und Schreibtisch hin und her. Nimmt hier eine Bluse in die Hand, öffnet dort die Handtasche, kramt ohne zu suchen. Schließlich der Griff zum Haarspray, zwei Striche auf die Lippen. Der Gang ins Bad. „Ständig muss ich zur Toilette. Das war nie so.“ Seit Jahren dieser Satz. Dann nimmt sie ihre Handtasche, sucht nach den Taschentüchern darin. Findet sie nicht. „Hast du Taschentücher? Ich habe keine mehr!“ „Doch, Mama, du hast vorhin ein Päckchen eingesteckt“. „Ach ja? Das bildest du dir ein!“ „Ich hol dir ein neues Päckchen.“ „Nein, schau in die Tasche, hier! Da sind sie! ich wollte dich testen!“ Antwortlos gehe ich in die Küche zurück, zu Pasta, Pesto und Salatvorbereitungen. Oben höre ich sie weiterkramen. Jetzt wird auch der Hund unruhig. Bellt. Sie an. Endlich höre ich sie die Treppen hinuntergehen. Feste kleine Schritte, der Hall auf jeder Stufe wie ein tiefer Abdruck im Stein. „Ich gehe.“ Der Hund bellt wie verrückt und tänzelt vor der Tür. Keine Leine. „Hier, Mama.“ „Nein, das ist nicht die Leine.“ „Doch. Schau!“ „Ach ja, aber DIE habe ich nicht gemeint.“ Ciao.

„Hund, Hund, brav, langsam. Komm!“ Sie biegen um die Sportplatzecke, versinken   im Blättergrün und im Rauschen der Straße. Wohin gehen sie?

Als ich den Hund vor 2 Jahren gesucht und in einem Werbeanzeiger gefunden habe, hatte ich mir das so vorgestellt: Sie geht mit dem Hund spazieren. Sie verläuft sich. Der Hund bringt sie zurück nach Hause. Wenn sie allein in ihrer Villa ist, hat sie den Hund immer um sich. Zum reden. Streicheln. Füttern. Wenn sie stürtzt, wenn sie ohnmächtig wird, krank ist und nicht aufstehen kann, bellt er so laut und so lange, bis die Nachbarn, Hundenarren und Tierfanatiker, herbeilaufen und nach dem Rechten sehen.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. „Du hast den Hund doch ausgesucht, um mich zu überwachen. Das will ich nicht. Ich bin zu alt für einen Hund. Du hast ihn gewollt, jetzt hast du ihn. Ich kümmere mich nur um ihn, wenn ich bei euch bin, und auch nur, weil er leid tut.“ Das bedeutet, dass sie ihr Frühstück mit ihm teilt, ihn alle  Stunden in den Park führt und ihn mit Streicheleinheiten und Liebkosungen umwirbt. „Du bist der netteste hier im Haus. Du bist der schönste aller Hunde. ja, du bist treu. Du armer Hund, sie quälen dich hier. Wenn ich nicht zu alt wäre, würde ich dich mit zu mir nehmen.“ Nachts darf er auf ihrem Bett schlafen. Er hat eine grüne Ikeadecke am Fußende. Wenn ich morgens mit dem duftenden Kaffee in der Rosentasse – „deine Tassen sind alles hässlich Pötte, nur diese hier ist schön, ich kann nur aus dieser trinken“ – in ihr Zimmer komme, liegen beide aneinandergeschmiegt in der Matratzenkuhle. Der Hund so lang wie die kleine, schutzlos dem gelben Schlafgewand preisgegebene Person.

Wo gehen sie hin, auf ihren Spazierwegen? Wie Klingsors Zauberwald träumt die Angerlohe vor sich hin, der verwunschene Rest eines großen westlichen Waldes. Die Wege verändern sich je nach Jahreszeit, Sonnenstand und Witterung. Im Frühling liegt ein Teppich aus Blütenkristallen auf einem Meer aus hellem Grün. Die Bäume flüstern, was der Wind ihnen eingibt, und vor einem Gewitter toben die Äste in wildem Tanz. Dann ist es gefährlich in der Angerlohe. Im Winter trägt der Wald stolzes Weiß und singt ein Lied aus Stille und tropfendem Eis. Im Sommer verschlucken die Schatten das Licht und die Sonne. Auch am Nachmittag ist es hier drinnen dämmrig und kalt. Regenwege trocknen nie ab, totes Holz fällt und liegt. Zwischen Unterholz und hohen Gräsern öffnen und schließen sich täglich neue Pfade. Ein versunkenes Labyrinth, in dem sich nur selten Spaziergänger und Hunde, Walker und Waldkindergartengruppen begegnen. Hierhin geht meine Mutter mit dem Hund.

„Drei Stunden waren wir unterwegs“, sagt sie und setzt sich erschöpft auf den Holzstuhl im Flur. Lehmige Brocken an ihren Schuhen bezeugen ihre Worte. Der Hund hängt die Zunge ins Wasser. Drei Stunden waren vielleicht auch nur zwei. Fünfundvierzig Minuten dauert die große Runde, eine Stunde mit dem Umweg durchs Biotop. „Bis zu den hohen Türmen waren wir. Was sind das für Türme, weißt du das?“ „Sendemasten, Mama.“ Was sind Sendemasten?“ Tägliches Ziel und tägliche Frage.“Heute waren wir so weit, da war ich noch nie. Dann habe ich nette Leute getroffen und nach dem Weg gefragt.“

„Deine Mutter und den Hund treffe ich oft“, sagt die Besitzerin von Dina, dem Boxermix. „Sie weiß nie, wo sie ist, und fragt immer nach dem Leuchtturm. Was hat sie denn?“

Freiheit. Das hat sie. Noch.

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