MiniKrimi vom 14. Dezember 2014


Familiengeheimnis

Thea weiß nicht, wie sie hierher gekommen ist. Eben noch kauerte sie auf dem Boden vor ihrer Haustür und kramte vergeblich nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche. Und jetzt plötzlich steht sie in einem ihr fremden und gleichzeitig entfernt vertrauten Raum. Ein Ankleidezimmer, ganz offensichtlich. In ordentlichen Reihen hängen altmodische Anzüge und Hemden, gegenüber Kleider im Stil der sechziger Jahre, allesamt schwarz. Pullover und Blusen, Socken und Schuhe, alles säuberlich eingeräumt. Es riecht nach Lavendel und Mottenpulver.

Was mache ich hier, fragt sie sich. Da rascheln die Kleider wie von einem plötzlichen Windstoß bewegt, die Röcke schwingen und die Schuhe klappern mit den Absätzen. Finde die Wahrheit. Tu es für mich. Ein Nerzmantel schüttelt sich heftig, und aus seinen Falten weht ein kleines Foto heraus. Ein junges Mädchen mit frischem Gesicht, roten Locken und einem adretten Dienstmädchen-Häubchen. Das Foto ist schwarz umrandet, so, wie es früher bei Traueranzeigen üblich war. Luise, 19965, steht auf der Rückseite.

Thea öffnet die Verbindungstür zum Schlafzimmer, und da steht sie. Luise. Das Dienstmädchen-Häubchen liegt am Boden, eine Kaskade roter Locken fällt in rhythmischen Schlägen weich gegen ihren rosigen Rücken. Zwei Hände umklammern ihre nackten Pobacken, und ein Schopf braungrauer Haare schmiegt sich an ihren Hals. Ist es das, was ich sehen soll? Ein lautes, befriedigtes Stöhnen, Schopf und Hände lösen sich von dem Frauenkörper. „Zieh dich an und sag meiner Frau, meine Migräne sei besser geworden, dank ihres Kaffees, und dass ich gleich unten bin.“ Der Mann, der Theas Großvater war, geht in’s Badezimmer und erfrischt sein Gesicht mit Wasser und Parfum. Sie erkennt den Duft ihrer Kindertage. Eine Mischung aus Zufriedenheit, Moschus und Tabak.

Im Schlafzimmer zieht Luise sich die Kleider hoch und steckt die Haare unter das Häubchen. Sie geht zum Fenster und macht es weit auf, beide Flügel. Beugt sich hinaus in die Winternacht, hebt das Gesicht zu den Sternen. Was sie wohl sieht? Die unsichtbare Zuschauerin sehe einen Schatten ins Schlafzimmer gleiten. Schwarze Schwingen erheben sich lautlos hinter Luise, und wie von selbst fällt das Mädchen aus dem Fenster. Der Sturz an sich wäre kaum tödlich gewesen, hätte nicht gerade dort eine Sense an der Hauswand gelehnt, die Klinge nach oben gerichtet.

So, denkt Thea. Nun weiß ich also, dass mein Großvater ein Schürzenjäger und meine Großmutter eine Mörderin waren. Und jetzt? Nichts, es genügt, dass es jemanden gibt, der weiß, wie ich wirklich gestorben bin, flüstert der Wind in der Kastanie vor Theas Haustür. Und weht ihr mit einem roten Blätterbüschel den Schlüsselbund vor die Füße.

 

 

 

 

 

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