Ein Mord, wie er im Buche steht
Er steht schon eine ganze Weile vor dem Bücherschrank. Die Fußgängerampel wird rot und grün und rot. Er wippt auf den Ballen, macht einen Ausfallschritt Richtung Kaufhof, so, als habe er sich entschieden, die Straßenseite zu wechseln. Er schaut nach rechts, nach links. Dreht sich abrupt um, schiebt die Glastür des Bücherschranks auf und greift sich gezielt ein Buch heraus. Schaut wieder nach links und rechts und geht dann davon, nicht über die Schleißheimer, sondern den gleichen Weg zurück auf der Elisabethstraße.
Zuhause angekommen wirft er die Schlüssel auf das Sideboard neben der Tür. „Johann, du warst aber lange weg, bringst du mir einen Kaffee? Bitte!“, ruft eine Stimme aus der Wohnungstiefe. Gleich, antwortet er. Gleichgleichgleich, flüstert er. Geht in die Küche und macht sich an die Arbeit, misst ab, rührt, mixt. Dabei schaut er immer wieder in das Buch. Nur keinen Fehler machen, jetzt! „Der Kaffee ist fertig“, summt er vor sich hin und trägt die Tasse erwartungsvoll ins Wohnzimmer.
Er steht eine ganze Weile vorm Bücherschrank. Schaut sich um und vergewissert sich, dass ihm niemand gefolgt ist, ihn keiner beobachtet. Dann öffnet er schnell die Glastür und stellt ein Buch hinein. An die Stelle, wo er gestern eines rausgenommen hat. Er ist immerhin ein Profi. Auftragsbestätigung ist bei ihm Ehrensache. Eigentlich müsste er der Stadt einen Dankesbrief schreiben. Anonym, aber trotzdem. Diese Bücherschränke sind die idealen Briefkästen. 100% anonym, versteht sich.