Eisstockschießen
„Das kann doch gar nicht sein“. Kommissar Beck lässt seinem Unmut freien Lauf. Es ist zwei Uhr nachmittags, außer Kaffee hat er heute noch nichts zu sich genommen, davon allerdings mehr als zwei Kannen. Seit acht Uhr sitzt er im Vernehmungsraum, er hat mit zehn Personen gesprochen, und keiner will den toten André Mühlich bemerkt haben. Obwohl alle, wirlich alle, an ihm vorbeigelaufen sein müssen, einige sogar mehrfach.
„Das ist mir in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht vorgekommen“, bestätigt seine Assistentin Sara Wehner. Nicht, dass sie so lange dabei wäre wie Beck. Aber in zehn Jahren ist auch ihr noch nie so ein Fall untergekommen. Da sitzt ein Toter direkt neben der Eisstockbahn, stundenlang, und keiner kriegt was mit. „Diese verdammten Weihnachtsfeiern“, schimpft Beck. „Die Leute verballern den letzten Rest Verstand, den ihnen das Arbeitsjahr übrig gelassen hat, mit Glühwein. Und wenn dann um sie herum die Welt untergeht – egal“. „Naja“, gibt Wehner zu bedenken. „Also Mühlichs Kollegen haben ihn ja noch gesehen. Also, lebendig. Er war doch sogar einer der besten beim Eisstockschießen. Das hat einigen nicht gepasst. Dieser Pauli, der war richtig sauer, dass seine Mannschaft wegen Mühlich verloren hat. Wie hat er das gemeint, dass Mühlich sich an jeden Stock hängt?“ „Keine Ahnung. Die Redewendung kenne ich auch nicht. Aber ein verlorenes Spiel ist doch kein Grund, jemanden umzubringen! Und dann auch noch auf diese Art. Mit einem Korkenzieher mitten ins Herz.“ „Das spricht jedenfalls für eine Affekthandlung. Oder es sollte so aussehen. Hat die blonde Sekretärin nicht erzählt, der Chef hätte dem Sieger den neuen Abteilungsleiterposten versprochen? Das wäre dann doch ein Grund…“.
„Glaub ich nicht.“ Beck schüttelt den Kopf und geht noch einmal alle Aussagen durch. Die blonde Sekretärin, Mia, hat ausgesagt, dass sie André nicht mehr gesehen hat, nachdem er sich heiße Gulaschsuppe auf den Arm geschüttet hat, so gegen neun. Pauli, Andrés direkter Konkurrent, will ihn danach noch an der Eisstockbahn gesehen haben, direkt neben dem Glühweinfass, rauchend. Uhrzeit? halb elf? Natalja, die russische Praktikantin, ist beinahe über ihn gestolpert, auf dem Rückweg von der Toilette in den Stadl, in der die Firmenfeier stattfand. Da kniete André angeblich am Boden, als suche er etwas.
Die anderen Zeugen konnten sich „dunkel“ daran erinnern, eine Person gesehen zu haben, die neben dem Weinfass stand. Und zwar mindestens ab elf und dann bis zur Sperrstunde. Das heißt, sie haben ihn gesehen, ohne dass er ihnen aufgefallen wäre. Denn er stand da neben dem Weinfass wie einer von diesen Pappaufstellern zu Werbezwecken. Stocksteif und unbeweglich. Natürlich. Er war ja tot.
„Fehlt uns jetzt noch jemand? Oder können wir was essen gehen?“ Becks Magen fühlt sich an wie ein riesiger Hohlkörper. „Nur noch Frau Yidirim, die Putzfrau. Sie hat den Toten „gefunden“. Die kommt nach ihrem letzten Job.“ „Ach herrje, Yildirim. Da wird die Verständigung ja bis zum Abendessen dauern“, stöhnt Beck resigniert. Sunna Yildirim kommt pünktlich um halb vier. Sie hat den ganzen Tag Zeit zum Nachdenken gehabt. „Als ich zum Saubermachen in den Stadl gegangen bin, habe ich schon gesehen, dass jemand am Weinfass stand. Aber ich habe nicht weiter darauf geachtet. Aber als ich nach einer Stunde fertig war mit dem Putzen, stand er immer noch genauso da. Und das kam mir dann doch komisch vor“, erzählt Frau Yildirim in akzentfreiem Deutsch.
„Und vorher, also bevor Sie zum Putzen ins Stadl gegangen sind, haben Sie den Mann natürlich nicht gesehen.“ Es ist eine Feststellung. „Doch, ich habe ihn davor auch schon gesehen. Um elf, als ich zur Arbeit gekommen bin. Da stand er auch schon am Weinfass, aber nicht allein. Er hat mit jemandem….. geknutscht. Also, die beiden haben sich geküsst. Umarmt.“ „Konnten Sie ihn denn so deutlich sehen, dass sie ihn erkannt haben?“ „Nein. hab ich nicht. Zuerst. Aber dann nachher, dann habe ich ihn wiedererkannt. An dem großen Fleck auf dem Ärmel.“ „Na gut, danke, Frau Yildirim. Sie können dann gehen“. „Echt? Wollen Sie denn nicht wissen, wen er geküsst hat?“ „Wie……“. „Den habe ich nämlich deutlich gesehen.“ „Und wer war das?“ „Also, die anderen im Stadl haben ihn Pauli genannt“.
„André wollte reinen Tisch machen, bevor er die neue Stelle annahm. Ich habe versucht, ihn davon zu überzeugen, dass das Selbstmord gewesen wäre. Von wegen Toleranz. Schwule passen nicht zum Firmen-CI. Wir hätten beide unseren Job verloren. Ich hab mich mit ihm am Weinfass getroffen. Hab ihn umarmt und mit dem Korkenzieher erstochen. Als Natalja dazukam, habe ich mich mit ihm zusammen am Boden zusammenkauert, als würde er etwas suchen.“ Liebe ist wichtiger als ein Job, sagt Pauli am Ende seines Geständnisses. Aber diese Erkenntnis ist ihm zu spät gekommen.