Adventskalender MiniKrimi vom 4. Dezember 2018


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Tödliche Arien

Die Minervastraße liegt in einer Neubausiedlung am südlichen Stadtrand von München. Eine ruhige Gegend. Ein paar Familien mit Kindern, nicht zu viele, dazu sind die Wohnungen hier zu teuer. Ein idealer Rückzugsort für Rentnerinnen, wie Barbara.

Sie hat eine 2- Zimmer-Wohnung im vierten Stock. Das schönste an ihrer Wohnung ist der Balkon. Barbara hat ihn mit einer üppigen Vielfalt exotischer Büsche und Bäume in eine zauberhafte Oase verwandelt, die ein wenig an den verwunschenen Wald in der Zauberflöte erinnert. Tatsächlich hat Barbara ihren Beauceron Papageno genannt. Die beiden verbringen viel Zeit in dieser grünen Kulisse. Dann singt Barbara das Papageno-Lied, oder die Arie der Königin der Nacht. Der Beauceron liegt ihr zu Füßen, still wie der erlegte Lindwurm.

Die Oper ist Barbaras Leben. 40 Jahre hat sie dort verbracht, alle bedeutenden Aufführungen mit gemacht, von der Zauberflöte über Don Giovanni bis zu Carmen, Aida und dem Fliegenden Holländer. Sie kann sie alle auswendig, die unsterblichen Melodien. Champagnerarie, Habanera, Nessun dorma. Sie hat sie alle mitgesungen, auf ihrem Hocker in der Garderobe. 

Jetzt betritt die pensionierte Garderobiere selbst die musikalische Bühne. Und singt und schmettert, wann immer ihr danach ist. Morgens, mittags, abends, ja sogar nachts. Ihr unfreiwilliges Publikum auf den umliegenden Rängen in der Minervastraße ist alles andere als begeistert. Nachdem entsprechende Anrufe, Briefe, ja sogar Steinwürfe nicht gefruchtet haben, überlegen sich die verzweifelten Hausfrauen der Siedlung eine wirksame Methode und beauftragen den Hausmeister mit der nachhaltigen Lösung des Problems. Belle erklärt ihm den Plan in allen Einzelheiten. Und verspricht ihm nach getaner Arbeit eine süße Belohnung. Fred, der seit ihrer ersten Begegnung im Müllhäuschen unsterblich in Belle verliebt ist, zögert nur unmerklich.

Am nächsten Abend klingelt er bei Barbara. „Die Nachbarn aus dem dritten Stock haben sich beschwert. Ihr Hund hat auf den Balkon gepinkelt, und der Urin ist runtergelaufen. Das ist ekelhaft.“ „Papageno „pinkelt“ nicht, auch nicht auf dem Balkon, und schon gar nicht so, dass es den Erbenbergers auf den tropft“, wehrt sich Barbara. „Kommen Sie, ich zeige es Ihnen,“ sagt Fred und geht durch’s Wohnzimmer auf Barbaras Balkon. Im Gänsemarsch folgen Barbara und Papageno. Der Beauceron wedelt aufgeregt mit dem Schwanz, es liegt was in der Luft, er spürt es.

„Hier“, Fred deutet nach unten. Barbara kann nichts erkennen. Fred beugt sich etwas über die Brüstung. „Sehen Sie? Nein? Warten Sie“; sagt er, zieht die mit grünem Brokat bezogene Gartenbank an die Brüstung und schiebt Olga hinauf. „Sehen Sie jetzt?“ „Nein!“ „Weiter unten,“ sagt Fred. Er klettert neben Olga auf die Bank und drückt sie über die Brüstung, immer stärker. „Nein!“, ruft sie wieder und dann: „Lassen Sie das! Fass! Fass! Fass!“ Barbara rudert mit den Armen. Aber bevor sie endgültig das Gleichgewicht verliert, lässt Fred sie plötzlich los. Papageno ist seiner Herrin zu Hilfe gekommen. 

Die Polizei kann nicht davon ausgehen, dass der Hund den Hausmeister gezielt umbringen wollte. Und die Nachbarn, die behaupten, ganz deutlich Barbaras Befehl „fass“ gehört zu haben, stehen mit ihrer Aussage allein gegen die Opernfreundin, die glaubhaft versichert, sie habe immer nur „lass“ gerufen. Wie in einem Rezitativ. 

Belle und die anderen haben keinen Einfluss auf das Opernprogramm dieses Abends: Barbara schmettert auf ihrem Balkon im schrägsten Sopran den Triumphmarsch. 

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