Adventskalender MiniKrimi vom 3. Dezember 2018


Fototapete

Jedem sein Päckchen

Paketzusteller bedienen Klingelbretter wie eine Klaviatur. Nicht nur in der Minervastraße 89, aber hier, in einem Hochhaus, haben sie natürlich eine besonders große Auswahl. Melitta Vukovic war es leid, immer wieder die Briefe und Päckchen für ihre Nachbarn anzunehmen. Aufgrund ihres Namens hielten die Fahrer sie vielleicht für die Hausmeisterin. Oder sie verständigten sich untereinander mit einem geheimen Nachrichtensystem und wussten deshalb alle, dass sie immer zu Hause war. Melitta litt an Agoraphobie. Sie war arbeitsunfähig und mit einer reißfesten Kette aus Ängsten an ihre vier Wände gekettet. Mit Fototapeten versuchte sie, sich in die Ferne zu träumen. Nach Hawai, in die Alpen, an die Chinesische Mauer. Das klappte aber nicht wirklich. 

Melitta hätte gerne auf ihre großzüge Witwenrente verzichtet, mit der sie sich locker eine Kreuzfahrt im Jahr hätte leisten können. Einmal auf der Bank auf dem Spielplatz im kleinen Park vor der Minervastraße zu sitzen, dafür würde sie alles geben. 

Stattdessen hockte sie tagein, tagaus in ihrer Wohnung im Erdgeschoss, und der einzige Kontakt mit der großen weiten Welt waren die Pakete, die sie entgegennahm.Flache Plastiktüten mit Kleidung, schwere Kartons vom Bücherversand, einmal war sogar ein ganzer Kratzbaum bei ihr abgegeben worden. Die Nachbarn bedankten sich mal verschämt, mal überschwänglich, die besonders originellen legten ihr eine Schachtel Merci auf die Fußmatte. Melitta hasste Schokolade.

Anfangs hatte sie versucht, einfach nicht aufzumachen. Aber das hatte sie nicht durchgehalten.  Dann war Tom Müller im achten Stock eingezogen. Schon am nächsten Tag kam das erste Päckchen für ihn an. Sie wunderte sich, dass er direkt nach dem Einzug – den sie durch das Küchenfenster beobachtet hatte – schon wieder unterwegs war. Aber sie nahm sein Päckchen an, als Einzugsgeschenk, sozusagen. Gegen zehn Uhr am gleichen Abend klingelte es bei Melitta Sturm. Sie hatte sich grade mit einem Cuba Libre vor ihre Hawai-Tapete gesetzt und wollte nicht aufmachen. Aber Tom Müller klingelte Sturm, riss ihr das Päckchen aus der Hand und knurrte: „Nächstes Mal tragen Sie’s mir rauf und legen es vor die Tür, klar?“ 

Nächstes  Mal, dachte Melitta, nehme ich das Päckchen nicht an. Aber dann tat sie es doch. Es kam jeden Mittwoch, nie stand ein Absender drauf, es war weich und geruchlos. Ja, Melitta schnüffelte tatsächlich daran. Denn natürlich war sie neugierig. Und jeden Mittwoch stand Müller vor ihrer Tür, riss ihr das Päckchen aus den Händen und stürmte damit in den Aufzug. Es war ein Ritual, ein Tanz, den die beiden führten. der junge Mann mit den tätowierten Armen und gepiercten Ohren und die alte Frau mit der Angst vor offenen Räumen. Er blaffte sie an, sie rümpfte die Nase. Dann, eines Mittwochabends, kam er nicht. Sie lauerte bis Mitternacht hinter der Eingangstür. Umsonst. Auch am nächsten Tag – Fehlanzeige. Drei Tage später erst klingelte es. Er hatte eine geschwollene Nase und blutunterlaufene Augen. „Besuch von den Bullen“, brummte er zur Erklärung und dann: „Gottseidank hast du mir das Zeug nicht raufgebracht, sonst säße ich jetzt im Knast. Aber warum nicht?“

Sie erklärte ihm die Sache mit der Agoraphobie. Er staunte. Dann riss er das Päckchen auf, gab ihr einen kleinen braunen Klumpen daraus und erklärte ihr, wie sie daraus Plätzchen backen sollte. „Erst essen, dann fliegen,“ sagte er und lachte. 

Seitdem genießt Melitta ihre Tage in der Minervastraße. Morgens überlegt sie sich, ob sie in die Berge oder ans Meer reisen will. Dann macht sie sich mit einer Tasse Tee und ihrem Plätzchenteller auf den Weg in ihre Traumwelt. Und jeden Mittwoch kommt Tom Müller und füllt ihren Proviant auf. Sie sollen auch schon mal gemeinsam geflogen sein……

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