MiniKrimi Adventskalender am 5. Dezember


Ihr Lieben, heute steckt hinter dem Türchen ein nicht ganz „Mini“-Krimi von mir. Mit etwas Magie, einer Prise Ironie und ein wenig Chi-Chi.

Viel Spaß beim Lesen – und ich freue mich über eure Kommentare und – ja! – auch über eure Kritik.

Der Tod steht im Tarot

Gerade mal vier Uhr nachmittags, und draußen kriecht schon die Dunkelheit um die Häuser. Lauert hinter Hecken und auf den kahlen Ästen der Linden im Park an der Minervastraße. In den Fenstern und an den Balkonen glimmen die ersten Lichter auf, die meisten in warmem Gold, nur die neuen Leute gegenüber haben eine von diesen bunt pulsierenden Leuchtketten um die Pfosten ihrer Terrasse gewunden. Wie geschmacklos, denkt Lenor und dann, zusammenhanglos, „wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“

Naja, das Paar, das in die Wohnung im zweiten Stock genau gegenüber von Lenor auf der anderen Seite des gepflasterten Wegs eingezogen ist, hat ja nun eines. Ein Haus. Sozusagen. Oder die beiden wohnen in einem. Kommt aufs Gleiche raus, am Ende, oder? Lenor hält kurz inne. Immer öfter ertappt sie sich dabei, dass ihre Gedanken mäandern, wie die Wege in der Siedlung. Kürzlich hat sie während einer Legung zweimal dieselbe Karte gezogen und völlig unterschiedlich interpretiert. Frau von Westphal war darüber so irritiert, dass sie beinahe vergaß, Lenor den diskreten Umschlag auf die Biedermeierkommode im Flur zu legen. Ha, vergessen! Das Gedächtnis der – angeheirateten – Baronin funktioniert tadellos. Ohne Punkt und Komma rattert sie alle Neuigkeiten aus der Minervastraße herunter, derer sie habhaft werden konnte. Oft mit einer gehörigen Portion an Konjunktiven, dort, wo Halbinformationen auf Vermutungen oder Spekulationen treffen. Spekulatius, aber ohne Mandeln. Die muss Irina ihr unbedingt mitbringen, morgen, vom Edeka.

Ob ich vielleicht doch mal zu Dr. Möwenschwanz gehe? Die Frage taumelt ungebeten in ihr Bewusstsein. Und ja, sie weiß, dass die Ärztin Möwenbranz heißt. Meistens. Aber nein mit meinem Gehirn ist alles in Ordnung. Und wenn nicht, dann will ich es doch lieber gar nicht erst wissen. Einfach immer ein Stückchen weiter in den Nebel driften, die Gedanken verblassen lassen und die Bilder so nehmen, wie sie kommen. Unscharf, aber dafür ohne Ecken und Kanten. Das ist doch nicht unangenehm? Besser jedenfalls, als das Restleben mit einem Berg von Tabletten und einem aufwändigen Plan an Therapien verbringen zu müssen.

Therapien. Ich therapiere auch. Jede Legung/Lesung ist ein Schritt auf dem Weg zur Heilung. Wenn die Karten mitspielen. Lenor legt Tarot, seit sie denken kann. Hat es bei ihrer Großmutter gelernt, im Wasserschloss. Nein, das war nicht romantisch. Von unten leckte das Wasser ins Erdgeschoss, und von oben tropfte es durch die Löcher zwischen den Ziegeln. Wie das Geld in den Händen ihres Vaters. Schließlich hatte die Großmutter einen Bauwagen restauriert, eigenhändig, und war mit der jungen Lenor auf die Jahrmärkte gezogen. Benno, Anwalt aus gutem, aber vor allem geldigen Hause, hatte sein Schicksal besiegelt, als er den roten Samtvorhang beiseiteschob und in den Wagen stieg. Die Großmutter hat Lenor nie verraten, ob sie das Tarotdeck beim Legen manipuliert hat. Jedenfalls heiratete Benno Lenor praktisch vom Fleck weg, und die Großmutter durfte ihren Lebensabend in einer gemütlichen Wohnung in der Nähe ihrer Enkelin genießen.

Ach ja, Benno. Wir haben uns eigentlich immer ganz gut verstanden. Und dank der Karten hatte ich ihn immer fest im Griff. Schon komisch, wie abergläubisch intelligente und gebildete Männer sein können. Ob die Leute gegenüber gebildet sind? Hindert einen

Bildung nicht daran, solch scheußliche Lichterketten zu kaufen?

Sie hindert einen zumindest nicht daran, wenig Geld zu haben, denkt Lenor. Benno hat immer gearbeitet, aber er war kein Geschäftsmann, ebensowenig wie Lenors Vater. Ein paar falsche Aktienkäufe, und das Erbe seiner Eltern war verbraucht. Damals hatte es wohl großen Ärger mit einer entfernten Cousine gegeben, deswegen. Aber was genau vorgefallen war, hat Benno ihr nie verraten, nicht einmal auf dem Totenbett. Schade, eigentlich, sich auch noch auf dem Weg ins Jenseits mit Geheimnissen abzuschleppen.

Jedenfalls zahlt Lenor in der drei-Zimmer-Eigentumswohnung zwar keine Miete, aber die Ausgaben in der Siedlung sind so hoch, dass sie sich liebgewonnene Extras mit Tarot-Lesungen finanzieren muss. Einen Besuch in der Oper – Logenplatz, sonst kriegt sie ja nichts mit, Augen und Ohren sind schließlich mit ihr in die Jahre gekommen. Oder ein neues Paar Schuhe. Leider ohne hohen Absatz, dafür aus dem Sanitätshaus, aber die kosten gleich doppelt so viel wie die schönen High Heels in der Boutique in der Minervastraße. Oder ein Abendessen im Canale Grande, Bennos Lieblingsrestaurant. Nur gut, dass um sie herum einige Damen – und Herren – wohnen, die dem Tarot nicht abgeneigt sind. Erstaunlicherweise sind das nicht nur die Seniorinnen. Die lassen gerne die Männer, die die Agentur zweites Glück für sie ausgesucht hatte, vom Tarot auf Ehetauglichkeit prüfen. Aber es kommen auch jüngere Frauen, Singles auf der Suche nach dem Traummenschen, Ehefrauen mit unerfülltem Kinderwunsch, (ver)zweifelnde Verliebte und verzweifelte Bankrotteure.

Kurz, Lenor kann sich über Zulauf beklagen. Konnte. Inzwischen jedoch weist ihr Terminkalender immer größere Lücken zwischen den Sitzungen auf. Sie gibt sich alle Mühe. Dimmt das Licht, zündet duftende Kerzen an – außer, ihre Kundin ist Allergikerin, und mischt die Karten mit feierlicher Konzentration.

Und dennoch: kürzlich fing Frau M. kurz nach der zweiten Karte an, schrecklich zu husten. Ihr Gesicht wurde blassblau, und sie rang deutlich nach Luft. Lenor hatte die falschen Kerzen angezündet, und Frau M. konnte sich nur dank ihres Inhalators vorm Ersticken bewahren.

Bei Rosi P. brachte sie mehrmals die Augenfarbe des am Horizont wartenden Traummannes durcheinander. Aber schlimmer noch: das ist jetzt vier Wochen her, und der Typ hat Rosis Weg immer noch nicht gekreuzt. Wenn ich er wäre und Rosi sehen würde, würde ich mich sofort unerkannt aus dem Staub machen, denkt Lenor. Aber ihrem Geschäft sind solche Missgriffe abträglich.

„Ich habe jüngst gehört (fragen Sie mich nicht, von wem, das habe ich vergessen), dass man munkelt, Sie seien wohl zu alt fürs Kartenlegen,“ hat Frau von Westphal ihr bei der letzten Lesung erzählt. Bezeichnenderweise nach dem Fauxpax mit der doppelten Karte.

Und wenn sie mich dann fragt, woran ich meinen Gedächtnisschwund festmache? Ich kann Frau Dr. Möwenschwanz doch nicht sagen, dass ich beim Tarotlegen patze?

Lenor schaut aus dem Fenster. Die bunten Lichter flackern und flimmern. Sie kann gar nichts erkennen, draußen. Schlimm. Ob ich mal rübergehe und mit den Leuten rede? Oder ist das übergriffig? Lenor ist hin- und hergerissen. Und wie immer, wenn sie unschlüssig ist, nimmt sie ihr Tarotdeck zur Hand. Geübt mischt sie so lange, bis sie die Karten in ihren Händen vibrieren spürt. Es gibt immer welche, die gelegt werden wollen.

Lenor schließt die Augen. Legt die große Ouvertüre. Alles soweit im grünen Bereich. Dann die letzte Karte: der Tod. Lenor benutzt für sich das Crowley Thoth Tarot, während sie in ihren Legungen immer mit dem Rider-Waite-Deck arbeitet. So viel einfacher zu verdeutlichen, findet sie. Aber Lenor lebt von Kindesbeinen an mit den Karten. Sie schmiegt ihre Deutungen auch gerne an die okkulten Andeutungen des geltungssüchtigen Aleister Crowley an. Ein genialer Irrer – aber das macht ihn in ihren Augen sympathisch.

Der Tod, also. Neuanfang, Loslassen von dem, was zu schwer geworden ist. Blablabla. Der Tod hat für eine mit 78 auch eine ganz pragmatische Bedeutung. Und welche Karte hat sie direkt davor gezogen? Den Pik Buben. Soso.

Sie versucht es noch einmal. Sie weiß ja inzwischen, dass sie sich auf sich selbst nicht mehr immer und unbedingt verlassen kann. Aber hier: Pik Bube, gefolgt vom Tod.

Nachdenklich schaut Lenor aus dem Fenster. Inzwischen ist es stockdunkel draußen, die Häuser sind nur noch weiße Schatten entlang der Wege. Einzig der Balkon gegenüber flackert im tanzenden Licht der Girlanden, von grün zu rot, von gelb zu blau. Eine Form tritt hinaus, schmal und geschmeidig, die huschenden Farben malen Flecken auf ein düsteres Gesicht. Ein expressionistisches Gemälde, halb fertig. Da hebt der Mann die Augen und starrt Lenor an. Durch die Dunkelheit hindurch, über den Weg hinweg, als trennten sie keine Kälte, kein Fenster. Der Blick trifft sie als eisiger Hauch, Lenor fröstelt in ihrem warmen Wohnzimmer.

Wer bist du?, fragt sie. Und starrt zurück. Eine winzige Ewigkeit lang stehen sie sich gegenüber, zwei körperlose Duellanten, und messen ihre Kräfte. Wie kommt sie darauf?, fragt sich Lenor. Wieso Kräfte? Und wieso messen? Sein Blick brennt auf ihrer Stirn, und sie erkennt ihn. Er ist der Pik Bube.

Mit einem entschlossenen Griff lässt Lenor den Rolladen herunter. Fast scheint es ihr, als suchten die Augen des Mannes eine Ritze, ein Durchkommen. Aber nein. Sie hat ihn ausgesperrt. Nur – für wie lange? Sie weiß, was er vorhat. Diesmal haben die Karten sie nicht belogen, betrogen. Warum? Darum geht es nicht. Oder vielmehr: das ist egal. Fakt ist: sie muss sich entscheiden. Kämpfen oder…?

Am nächsten Morgen zieht Lenor sich mit besonderer Sorgfalt an. Nicht wie sonst die Leggins mit der Laufmasche, die muffeligen Wollstrümpfe und darüber einen karierten Rock, einen Baumwollpulli und eine löcherige Strickweste. Sie hat auch andere Kleidung, Die gute aus besseren Tagen, die sie für Besuche in der Stadt, in der Oper oder bei der Ärztin aufhebt. Was sie heute vorhat, ist genauso wichtig, nur leider nicht so glückverheißend wie ein Opernabend und noch unangenehmer als ein Arztbesuch. Und gefährlicher.

Es ist Sonntag, und die Siedlung liegt in tiefem Schlummer. Nicht mal Emma Peel und John Steed, die beiden Dobermänner der Agentur zweites Glück, sind wach. Schade, zwei Detektive hätte Lenor gut brauchen können. Stattdessen legt sie sich ihren Kaninchenkragen um. Er ist blassbraun und passt eigentlich nicht zum tiefroten Wollmantel. Aber wie die Tarotkarten wollte der Kragen mitgenommen und um ihren Hals getragen werden. Lenor hat sich noch nie darüber gewundert. Warum sollen Dinge keine Seele und ergo auch keinen eigenen Willen haben?

Die Lichter am Balkon gegenüber im zweiten Stock sind tagsüber stummgeschaltet. Als Lenor den Weg zwischen ihren Häusern überquert, löst sich ein schmaler Schatten von der Wand und geht in die Wohnung. Noch ehe Lenor die Klingel berührt, summt der Türöffner.

Willkommen in der Höhle des Löwen. Mach dir’s bequem, flüstert die Spinne. Auf dem Treppenabsatz ringt Lenor nach Atem. Den Aufzug hat sie vermieden. Man muss ja keine unnötigen Risiken eingehen.

„Guten Tag“, sagt der schmale Mann mit den schwarzen Augen und dem durchdringenden Blick. „Kommen Sie rein.“

Die Höhle des Löwen ist enttäuschend unspektakulär, auch wenn Lenor sich keiner klaren Erwartung bewusst ist. Keine Säbel an den Wänden. Kein Revolver auf dem Couchtisch. Nur eine Wohnlandschaft, eine schlichte Schrankwand, ein Picasso hinter Glas und eine Teekanne mit zwei Tassen. Gift also. Kluge Wahl und unter Umständen schwer bis gar nicht nachzuweisen.

„Tee?“, fragt der Mann und schenkt ein, ohne ihre Antwort abzuwarten. Natürlich lässt er ihr keine Wahl. Aber er ist höflich, das könnte ein Fehler sein. Leider kann Lenor ihre gute Erziehung nicht über Bord werfen, sich auf dem Absatz umdrehen und gehen. Das würde selbstverständlich auch nichts nützen, und bei der nächsten Gelegenheit würde er sie vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, unvorbereitet treffen.

„Sehr gerne, danke. Schwarz.“ Nur für den Fall, dass der Zucker vergiftet ist und nicht der Tee. Arsen? Daran kann man sich gewöhnen, und die Dosis, die für das Opfer tödlich ist, schadet dem Mörder nicht, so dass er als Täter ausscheidet, weil er ja den gleichen Tee getrunken hat.

„Sehr gern. Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

„Danke. Bitte, darf ich fragen, ob wir uns kennen?“

„Ja, Sie dürfen. Und nein. Jedenfalls nicht persönlich.“

„Ah. Und warum?“

„Warum ich Sie töten werde?“

„Ja, genau. Sie scheinen nicht erstaunt darüber zu sein, dass ich das weiß.“

„Nein. Ihre Karten werden es Ihnen verraten haben. Damit habe ich gerechnet. Das ist ja sogar Teil meines Plans. Sie sind halt so. Neugierig und so unglaublich selbstsicher. Sie denken wahrscheinlich, Sie können in letzter Minute noch einen Trumpf aus dem Hut zaubern. Da muss ich Sie leider enttäuschen. Eine alte Dame besucht ihre Nachbarn. Die Frau ist nicht da, und um das Warten zu verkürzen, bietet der Mann der Damen einen Tee an. Sie trinkt ihn, und dann erleidet sie einen Herzanfall. Im Tee wird man später nichts finden, das ist ja klar. Kommen Sie, trinken Sie. Wir wollen das doch nicht unnötig in die Länge ziehen.“

„Natürlich nicht. Kluger Plan. Aber darf ich fragen, warum?“ Lenor blickt sich um. Das Gemälde kommt ihr bekannt vor.  Ein Picasso. Ja natürlich.

„Ah, Sie sind schon selbst drauf gekommen? Eigentlich ist es Onkel Bennos Schuld. Aber der ist ja nun schon tot. Also bleiben nur Sie. Nein, nein, ich weiß, dass Sie inzwischen arm wie

eine Kirchenmaus sind. Mir geht es nur noch um Rache. Manche Dinge dürfen einfach nicht ungestraft bleiben. Was schauen Sie mich denn so an? Sie wissen gar nicht, wovon ich rede? Dieser Benno! Hat er Ihnen nicht mal auf dem Totenbett gebeichtet, wie er seine Cousine, meine Mutter, übers Ohr gehauen hat? Am Ende fand er es sogar noch amüsant. Aber sie ist daran zugrunde gegangen.“

Lenor runzelt die Stirn. Sie versteht diesen Mann nicht. Was zum Teil auch daran liegt, dass er sich offensichtlich immer mehr in Rage redet. Seine Stimme kratzt, seine Augen sind gerötet. Jetzt hüstelt er auch noch. Ob sie ihm etwas Tee…?“

„Benno hat den Löwenanteil vom Erbe seiner Eltern bekommen. Klar. Aber seiner Cousine hatten sie im Testament den Picasso vermacht. Damit hat meine Mutter fest gerechnet. Sie führte ein großes Haus, meine Ausbildung an internationalen Schulen war auch nicht billig – kurz, sie wollte das Bild schnellstmöglich verkaufen.“

„Ah jaaaa.“ Langsam beginnt Lenor, zu verstehen.

„Ja, genau! Der Auktionator ließ das Bild natürlich schätzen. Und wissen Sie was?“

„Es war wahrscheinlich eine Fälschung,“ mutmaßt Lenor.

„Genau! Benno hatte das Original offenbar selbst schon zu Geld gemacht, nach seinem Aktienfiasko. Und meine…“ er unterbricht sich und hustet schwer. Sein Gesicht ist rot und geschwollen. „Meine Mutter“, röchelt er und greift sich mit beiden Händen an den Hals, „meine Mutter hat diese Schmach nicht ertragen. Sie hat sich.. um….ge….bracht“, flüstert er. Dann bricht er auf dem Boden zusammen.

Die Wohnungstür geht auf, eine junge Frau kommt herein. Sieht ihren Mann am Boden liegen, schreit auf, rennt aus dem Raum und kommt mit einem Autoinjektor zurück. Aber es ist schon zu spät. Panisch schaut sich die Frau im Wohnzimmer um. „Wo ist das Kaninchen? Er ist hochallergisch gegen Kaninchen.“

Lenor legt der jungen Frau kurz die Hand auf die Schulter und geht zur Tür. Beim Hinausgehen dreht sie sich nochmal um und sagt eindringlich: „Schütten Sie den Tee weg. Der ist kalt und absolut ungenießbar.“

MiniKrimi Adventskalender am 3. Dezember


Toxischer Advent

Wenn Mias Stimmung wetterabhängig wäre, hätte sie sich heute gleich nach dem Aufstehen und dem ersten Blick aus dem Fenster wieder unter die Bettdecke verkrochen und den Tag damit verbracht, Netflix zu durchstöbern.

Aber so ist sie nicht. Sie kann jedem Wetter etwas abgewinnen. Nicht umsonst hat sie jahrzehntelang das Credo ihrer Mutter angehört. „Change it, leave it or love it.“ Tiefe Nebelbänke über den Wiesen? Feuchtbraune Blätterhaufen am Straßenrand? Klumpige Wegfurchen, in denen sie mit ihren Profilsohlen zentimetertief einsinkt? Glänzendgraue Straßen, auf denen sich die Lichter spiegeln, noch um 10 Uhr morgens?

Das ideale Wetter für ein freundschaftliches Gespräch mit Finn. Das hat sie ohnehin schon viel zu lange vor sich hergeschoben. Wahrscheinlich denkt er, sie leide unter der Trennung. Vielleicht glaubt er sogar, sie fühle sich verlassen? Oder, die schlimmste Möglichkeit – und gleichzeitig die Finn-typischste: Er liest ihre bisherige Zurückhaltung als Schuldeingeständnis. In seinen Augen, in seinem Denken, nein, in seiner Überzeugung hat er schließlich nur die Reißleine gezogen und sich aus einer toxischen Beziehung gerettet, in der er jeden Tag bevormundet und gedemütigt wurde.

Finn, also. Meinst du wirklich, dass du dafür schon bereit bist?, fragt ihre Katze Nestor mit kritischem Blick. Bist du komplett über alles hinweg? Die Ohrfeige? Der zerstörte Laptop? Der Fake-Anruf bei deinem Chef, der dich den Job gekostet hat? Ja, alles verarbeitet? Und dass Finn jetzt mit Anja zusammenlebt, ihrer – ehemaligen – besten Freundin? Mit der er ein Kind erwartet (während Mia mit ihm nur eine Katze haben durfte)?

Alles vorbei. Nicht vergessen, nein. Aber von gestern, halt. Und zwar sowas von. Toxisch. Ja, Das war sie wohl gewesen, diese große Liebe. Gift für sie und ihr Selbstwertgefühl. Seit der Trennung geht es ihr viel besser. Und das will sie Finn unbedingt zeigen. Ein Blick in den Spiegel: Kastanienbraune Locken fallen lang über die Schultern. Die Augen leuchten. Brauen, Wimpern, Lippen – alles perfekt. Beim allerersten Blick wird er erkennen, wie GUT es ihr geht. Nein, sie will ihm nichts beweisen. Und natürlich will sie ihn auch nicht verführen. Im Gegenteil: sie will ihm und Anja jede Spur von schlechtem Gewissen nehmen. Sie sollen nicht denken, dass sie ihr Glück zu dritt auf Mias Kosten genießen.

Siehst du, das wäre dann ja wohl geklärt, sagt sie und schaut Nestor triumphierend an. Nun muss nur noch das Treffen arrangiert werden. Der Impuls dazu muss natürlich von Finn ausgehen. Aber das ist kein Problem. Sie kennt diesen Mann in- und auswendig. Viel besser, als Anja ihn je kennen wird.

Mia aktivert bei ihrem Smartphone die Rufnummer-Unterdrückung. Dann lässt sie es bei Finn genau dreimal klingeln. Sie weiß, er kann es nicht ertragen, einen Anruf verpasst zu haben. Und wenn er nicht weiß, wer ihn angerufen hat, wird er solange recherchieren, bis er eine Antwort hat.

Tatsächlich dauert es keine 10 Minuten, bis Finn sich bei ihr meldet. „Hast du mich gerade angerufen? Warum ist deine Rufnummer unterdrückt?“ „Das ist sie nicht! Das hab ich noch nie gemacht. Und nein, ich habe dich nicht angerufen. Ich bin gerade auf dem Sprung und wollte zum Weihnachtsmarkt in der Blutenburg.“

„Du hast NICHT angerufen…. Hm.“ Finn kann es nicht ertragen, sich zu irren. „Naja, egal. Ist doch schön, dass wir uns jetzt sprechen! Wir wollten uns doch schon so lange treffen. Hey – was hältst du davon, wenn wir zusammen zur Blutenburg gehen? Wie in alten Zeiten? (Er lacht, und vor Mias Augen schlendern zwei eng umschlungene Gestalten durch den mittelalterlichen Burghof. Probieren Ringe an, essen Waffeln, trinken Glühwein und Punsch. Ja, es gab auch schöne Momente. Aber die wiegen die Schmach nicht auf. Vorbei ist vorbei).

„Ehm…..“ Mia zögert. „Najaaa – und was ist mit Anja?“

„Die ist heute bei ihrer Mutter.“ Ach so. Klar. Finn hat Ausgang. Wer weiß, wie oft er sich so verhalten hat, als wir noch zusammen waren?, fragt Mia sich. Und mit wem er sich getroffen hat? Außer mit Anja?

„Ok. Aber ich wollte gerade losgehen. Ist dir das nicht zu knapp?“

„Nein, das passt prima. Ich bin in ner Viertelstunde am Parkplatz an der Würm. Dann können wir gemütlich am Bach entlanglaufen.“

Gemütlich? Ja! Mit warmen Uggs, dem langen grauen Dauenmantel, rotem Schal und roten Lederhandschuhen, die Locken durch die nebelfeuchte Luft wie mit Diamanten bestreut, die braunen Augen verführerisch geschminkt, ist Maja in Bestform für einen Adventsspaziergang an der romantischen Würm. Finn schaut sie lange an, dann schließt er sie spontan in die Arme. „Du siehst toll aus!“ Große Tropfen hängen an den braunkahlen Zweigen, als hätten sich die Bäume für sie beide geschmückt. Der Bach murmelt und raunt. Am Horzont leckt zartes Abendrot an fransigen Wolken. Und über die Dächer der Kirche und der alten Bauernhäuser schwingt sich ein Weihnachtslied.

„So schön!“, flüstert Mia. Und Finn berührt ihre Wange mit einem sanften Kuss. Dann erzählt er ihr von seinem neuen Leben. Anja hat die Wohnung ausgesucht, die Möbel und das Kinderzimmer. Das Baby wächst und gedeiht – Finn ist sich sicher, es ist ein Junge.

„Da hat sich ja alles verändert, in deinem Leben“, sagt Mia. „Ja,“ sagt Finn. „Manchmal ist mir das richtig unheimlich. Manchmal denke ich, wir zwei….“

„Zu spät“, lacht Mia. „Und außerdem: meinst du, ich hätte weitermachen wollen?“

Finn lacht. Na klar, sagt sein Blick.

Die Blutenburg ist voller Menschen. Alle wollen endlich wieder den Trubel genießen. Die Luft schwirrt von Stimmen und Trompeten, es duftet nach Waffeln, Bratwurst und Gewürzen. Mia und Finn schieben sich durch die Massen. „Ich hol uns einen Glühwein“, sagt Mia. „Für mich nur einen Punsch. Du weißt doch…“ „Hey – ich kenne dich doch! Du, mir ist hier mit den vielen Leuten total warm. Hälst du mal meinen Mantel und den Schal?“

Nach einer Weile drückt Mia Finn einen Becher in die Hand. „Der Punsch ist mega lecker, schmeckt wie Glühwein, probier mal!“ Finn trinkt und lächelt. Mia lächelt zurück. Als er zu husten beginnt, nimmt sie ihn besorgt am Arm und lotst ihn in eine ruhige Ecke. Da ringt er schon nach Luft, aber Mia küsst ihn, und die Umstehenden schöpfen keinen Verdacht. Ees sit sehr schnell vorbei.

Mia lässt FInn zu Boden sinken, versteckt, hinter einer Säule. SIe drückt ihm den Becher in die Hand, schlüpft in den Mantel, wickelt den Schal fest um den Kopf und geht langsam und genießerisch an den bunten Ständen vorbei. Unerkannt und unbekannt.

Am Ausgang hört sie Rufe: „Krankenwagen! Notarzt! Schnell!“ Sie bleibt nicht stehen. Toxische Beziehungen verdienen ein toxisches Ende.

„Er hat es selbst so gewollt. Warum musste er mir von Anja und dem Baby erzählen? Wie dumm von ihm. Er musste doch wissen, dass ich über seine schlimme Sulfitallergie Bescheid weiß. Und darüber, dass er immer sein Spray vergisst. Ich konnte nicht anders, ich musste ihm Glühwein statt Punsch holen. Das verstehst du doch, Nestor?“

Aber die Katze dreht sich von Mia weg und starrt stumm aus dem Fenster. Gottseidank hat sie keine Allergien.

Adventskalender-MiniKrimi am 15. Dezember


wahlkampf-logo

Unkontrollierte Eskalation

Strategieworkshop im Wahlkampf. „Wenn die Argumente ausgehen, muss man kontrolliert eskalieren. Dabei darf man den Gegner nicht schonen. Und sich selbst auch nicht.“

Der Chefdenker bekommt ein Honorar in der Dimension eines Mittelstreckenfliegers, also muss er wissen, was er sagt. Trotzdem jagen der Leiterin der Wahlkampfzentrale heiße Schauer über den Rücken. Wie meint er das? Oder hat er sich vorher die Konsequenzen von dem überlegt, was er da so gelassen ausspricht?

Ihm muss doch klar sein, dass der Kandidat am Ende ist. Seit Wochen im Umfrage-Tief. Nur ein Wunder kann ihn retten. Und sie ist dafür verantwortlich, dass dieses Wunder geschieht. Wie durch dichten Nebel hindurch hört sie den Chefdenker weitersprechen: „Was in solchen Fällen immer hilft..“ „Katzenvideos?“, versucht einer einen Scherz. Ausgerechnet der Presseverantwortliche! „Was in solchen Fällen immer hilft“, wiederholt der Chefdenker geduldig und in genau dem Tonfall, den sie bockigen Kindern gegenüber anwenden würde – vorausgesetzt sie hätte welche. „Also was da hilft ist der Mitleidsbonus.“

Fragende Gesichter in der Runde. Mitleid – weshalb? Weil der Kandidat im Privatjet von Termin zu Termin hetzen muss und mit Kaviarhäppchen und Champagner bei Laune gehalten wird? Oder weil er zufällig so gut aussieht, dass sich die hübschesten Blondinen darum reißen, neben ihm fotografiert zu werden, ungeachtet jedes Klischees?

„Ich werde Euch jetzt nicht näher erläutern, was ich meine (klar, sonst stünde er sofort mit anderthalb Füßen im Gefängnis, denkt sie), aber unlängst wurde eine Bürgermeisterin mit unerwarteter Mehrheit gewählt, während sie nach einem Attentat auf der Intensivstation lag…..“.

Sie hat es geahnt. Sie wusste es. Und sie weiß, was sie tun muss. Aber ihr wird schlecht bei dem Gedanken an die Durchführung. Sie gibt sich einen Ruck. Sie ist die Verantwortliche. Jetzt gibt es kein Zurück. Sie steht auf, geht leise aus dem Meetingraum und, setzt sich an ihren Schreibtisch, holt den vorbereiteten Umschlag aus der untersten verschlossenen Schublade und macht sich auf die Suche nach einem unauffällig platzierten Briefkasten.

„Spitzenkandidat von Briefbombe schwer verletzt!“, schreit es am nächsten Tag aus dem Blätterwald. Und wie erwartet finden die Boulevardzeitungen plötzlich und zum ersten Mal seit Wochen freundliche Worte für den armen Politiker, der so hart für sein Land arbeitet, dass er sogar selbst seine Briefe öffnet. Ein im Wortsinn durchschlagender Erfolg.

Aber dann – besucht ausgerechnet seine schärfste Konkurrentin den Verletzten im Krankenhaus. Medientechnisch perfekt inszeniert überreicht sie ihm einen großen Blumenstrauß.

Sie ist schon wieder auf dem Weg zum nächsten Wahlkampfauftritt, als der Spitzenkandidat einem anaphylaktischen Schock erliegt. Allein schon aus Selbstschutz werden die behandelnden Ärzte das nie nach außen dringen lassen, ebensowenig wie die Tatsache, dass sich ein Zweiglein Ambrosia in die Blumen gemogelt hatte.

Kurz nach ihrer Wahl wird die neue Ministerpräsidentin ihr Coming out bekanntgeben und mit ihrer neuen Liebe in die Staatsvilla einziehen. Dass die Geliebte mal Wahlkampfleiterin ihres stärksten Gegners war, ist zu diesem Zeitpunkt niemandem mehr bekannt.