MiniKrimi Adventskalender 2023


Ein paar Worte vorweg

Ja, meine Lieben: es ist wieder soweit! Und diesmal könnte der Advent nicht vorweihnachtlicher beginnen. Denn auch wenn Schnee dort, wo Weihnachten seinen Ursprung nimmt, nämlich in Palästina, nicht zum jahreszeitlichen Standard gehört – für uns kommt die Zeit rund um das Fest gefühlt am besten weiß daher. Woran das liegt? Vielleicht daran, dass wir uns gerade jetzt so gerne an unsere Kindheit erinnern. „Leuchtet der Himmel rit: Christkind backt Kuchenbrot.“ „Von drauß vom Walde komm ich her..:“. Oder „Dicke rote Kerzen, Tannenzapfenduft, und ein Hauch von Heimlichkeiten liegt jetzt in der Luft.“

Ja. Solche Erinnerungen sind ein Privileg, das nur wenige Menschen weltweit teilen. Gerade jetzt, so kommt es uns vor, sind so viele von Krieg und Leid betroffen. Ganz in unserer Nähe. Und in dem Landstrich, in dem das Christentum seinen Ursprung hat. Aber die Wahrheit ist, dass es immer überall auf der Welt gewaltame Konflikte gibt. Und oft dauern diese über Jahrzehnte an, vor allem in Afrika und in Asien, aber auch in Südamerika. Und der jüngere Konflkt im Nahen Osten ist über hundert Jahre alt.

Was bedeutet das für uns und unser Weihnachtsgefühl? Dürfen wir das überhaupt, uns freuen? Über den Schnee, über den Duft nach Glühwein und Zimt? Auf das Fest, auf die Geschenke? Wenn um uns herum so viele Menschen leiden?

Die Antwort darauf müsst Ihr selbst finden. Mich machen die Erinnerungen an weihnachtliche Momente und die Vorfreude auf eine hoffentlich schöne Zeit empfindsamer und aufmerksamer für andere. Ich bin dankbar für alles, was ich habe und erhalte, für den Frieden, den ich leben darf. Und ich versuche, gerade jetzt noch bewusster darauf zu achen, dass jch nicht nur nehme, sondern gebe. Nicht nur den Menschen um mich herum, die ich kenne, schätze und liebe, sondern auch denen, die mir ganz zufällig begegnen.

Von Meister Eckhart ist der Satz überliefert: „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.“

So möchte ich es halten. Nicht nur, aber vor allem in dieser Adventszeit.

In diesem Jahr freue ich mich ganz besonders, dass mein MiniKrimi Adventskalender nicht nur von mir, sondern auch von meinen „Mörderischen Schwestern“ mit spannenden, mystischen, dramatischen, vielleicht auh komischen Geschichten gefüllt wird. Dazu gesellen sich hoffentlich wieder liebgewonnene Weggefährtinnen aus den letzten MiniKrimi Jahren.

Den Anfang macht heute eine Autorin, die ich als die (heute ehemalige) Präsidentin der Mörderischen Schwestern kennen und schätzen gelernt habe. Ihre Geschichte passt gut zu meinen Vorüberlegungen und ist ein nachdenklicher Anfang dieses Adventskalenders.

Morgen geht’s dann tragisch und komisch „zur Sache.“

Pupuze Berbers Geschichte ist kein Krimi im eigentlichen Sinn. Aber die Reflektion von Erlebtem, Gefühltem und Gedachten aus ihrer Kindheit in einem türkischen Dorf ist voller Dramatik.

Danke, liebe Pupuze Berber, für diesen Beitrag.

Mehr von und über Pupuze Berber lest Ihr hier: https://pupuze.de/pupuze-berber/

Adventskalender MiniKrimi vom 1. Dezember

Die Bürde der Kindheit

Es fällt mir schwer, nach so langer Zeit zu rekonstruieren, warum ich ausgerechnet an diesem Tag einen Witz brauchte, und wie ich auf die Idee kam, einen zu erfinden. Ich und ein Witz, das ist an sich schon witzig. Ich kann nicht mal welche erzählen. Möglicherweise ist dieses Achtsamkeitsbuch schuld. Achtsam sein. Nicht die Gedanken einfach so frei lassen, wie meine Großmutter ihre Kühe aus dem Stall, sondern ihnen bewusst auflauern und merken, wohin sie gehen. Das tat ich dann auch. Ich ließ meine Gedanken grasen in dem verregneten Grün, aber das machte den Kühen rein gar nichts aus. Sie waren verrückt, sprangen vor Freude in die Luft, muhten laut, verdrehten ihre Augen, warfen den Kopf hin und her, konnten sich nicht satt sehen und riechen an der feuchten Luft und den vielen Trieben, die kurz davor waren, aus der Erde zu schießen. Der Frühling war da! Was so ein Winter aus uns macht?

Dann sah ich die erste Verkaufsbude, die Läden zwar noch geschlossen, aber das würde sich bald ändern. Endlich. Der Spargel und die Erdbeeren. „Wo bleibt der Witz?“, schoss es mir durch den Kopf. Ich pfiff und holte meinen Gedanken zurück von der Bude und hin zu Herrn Becker. Es würde nicht so schwer sein, auf Kosten des Politikers Witze zu machen, denn er hatte die Wahl verloren. Seine vielen Plakate lagen geknickt am Boden. Vermutlich hatten sich Jugendliche einen Spaß erlaubt, neben dem Auftragen des kurzen Bärtchens auf Kandidatenoberlippen. Ich wollte mir den Spaziergang ein wenig spaßiger gestalten, wenn ich schon trotz Regenschirm nass wurde. Also machte ich ein paar gedankliche Anläufe, um einen Witz zu kreieren.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Die Wahl hat nichts verloren.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Er hatte keine Wahl zu gewinnen.

Herr Becker hat die Wahl verloren. Die Wahl hat gewonnen.

Herr Becker hat die Wahl nicht vermehren können, weil er nicht wusste wie. Die Wahl ist gestorben.

Herr Becker hat die Wahl verloren und nicht wiedergefunden. Er könnte nicht mal einen Regenwurm finden.

Meine Witze waren zum Schreien schlecht.  Und der Regen war inzwischen so stark, dass ich Mühe hatte, voranzukommen, ohne auf die vielen Regenwürmer zu treten. Ich lief achtsamer. Es war interessant, zu beobachten, wie sie sich fortbewegten. Der vordere Teil raffte sich ineinander, woraus dann der Kopf nach vorne schoss und den hinteren Teil nach sich zog. Ich kniete nieder und schoss mit Mühe ein Foto. Und dann machte ich noch ein Video, um genau diese Bewegung festzuhalten. Im Innern des Wurms sah ich weiße kleine Kügelchen, und ich könnte behaupten, er habe Styropor gefrühstückt, aber weder wusste ich, ob Regenwürmer frühstücken, noch von was sie sich ernährten. Fraßen sie sich nicht durch die Erde hindurch, um sich fortzubewegen, und behielten das Nahrhafte nicht bei sich? Ich setzte meinen Weg fort.

Wie vermehrten sich Regenwürmer? Legten sie Eier? Hatten sie ein Geschlecht? Ich stellte mir diese Fragen und kannte die Antworten tatsächlich nicht. Was wusste ich über Regenwürmer? Nichts. Oder doch? Hatte ich nicht wegen Regenwürmern jahrelang Panik, bei Regen einzuschlafen? Und das kam so:

„Das ist eine wahre Geschichte. Eine Frau hat sie mir im Krankenhaus unter Tränen erzählt“, hatte Mutter mit ihrer Erzählung begonnen. Ich war fünf Jahre alt, als ich sie hörte.

„In einem Dorf…“, fuhr sie fort. Sie hatte nicht erwähnt, wie dieses Dorf hieß oder wo es war, es könnte auch unseres gewesen sein, denn damals hatte ich noch keine Vorstellung von der Größe der Welt. Ich kannte nur unser Dorf und die kleine Stadt, in der ich zweimal beim Arzt und einmal beim Fotografen gewesen war. Und weil mir diese Geschichte so eine entsetzliche Furcht einjagte, verortete ich den Vorfall sehr weit weg von uns. So waren ich und alle anderen Kinder geschützt, dachte ich.

„…lebte eine Stiefmutter. Sie hatte zwei Stiefkinder, die sie loswerden wollte, und zwar so unauffällig und natürlich wie möglich. Denn die Kinder hatten Vater, Oma, Opa, Tanten, Onkel, also ein ganzes Dorf, das sie beschützte. Also sammelte die Frau Regenwürmer, wenn es regnete.“ Leider regnete es bei uns sehr oft.

„Nachts, wenn die Kinder schliefen, schlich sie sich zu ihren kleinen Köpfen und setzte die Regenwürmer in deren Nasenlöcher. Die Würmer fraßen sich durch den Rotz bis zum Gehirn durch. Und auch dort fraßen sie weiter und nisteten sich ein.“ Das Gehirn war ihre Erde geworden, nie regnete es, nie mussten sie raus, so wie ich heute.

Wegen dieser Geschichte – denn bald wussten alle im Ort darüber Bescheid und erzählten es in diversen Varianten, fügten weitere grausame Details hinzu, machten aus zwei Kindern drei, vier, oder fünf, manch einem reichte das nicht aus, und auch die Großeltern der Kinder mussten dran glauben, bei manchen sogar das frisch gekalbte Rind inklusive aller eierlegenden Hühner und so weiter – hatte ich aus kindlicher Neugier einen Regenwurm zerteilt. Anstatt zu verbluten, wie mein Kälbchen beim Schlachten, bewegte sich jede der Hälften in unterschiedliche Richtungen.

Die Regenwürmer würden sich also im Kopf der Kinder in Ringe teilen wie Salamischeiben. Und aus jeder Scheibe würde ein eigenständiger Wurm heranwachsen und anfangen, sich im Gehirn durchzufressen. Und auch diese Würmer würden sich teilen und vermehren und…

„Sie fraßen, und fraßen, bis sie nichts mehr hatten. Als der Raum im Schädel leer war, waren die Würmer vor Hunger verzweifelt und fielen übereinander her. Und weil sie so viele geworden waren, krochen sie aus Nase, Ohren und Augen der Kinder wieder heraus. Die Unglücklichen waren da schon längst tot, Gott hatte Erbarmen gehabt. Die Verwandten beweinten sie und vermuteten, die unaussprechliche Krankheit habe sie in kurzer Zeit dahingerafft. Die kleinen Körper wurden unter Tränen gewaschen, in weiße Tücher gewickelt und, geschnürt wie kleine Bonbons, der nassen Erde übergeben.“

Mutter hatte die Geschichte nicht so erzählt, ich übertreibe wieder, wie immer. Sie hatte in ihrer Version nichts ausgeschmückt, nichts erklärt, und hörte auf, als die Stiefmutter den Kindern die Regenwürmer in die Nase legte und diese daraufhin starben. Sie wusste nicht mal, dass ich lauschte, während sie mit den anderen Frauen am Feuer saß und erzählte. Sie wusste nichts über den Kopierungsvorgang der Regenwürmer durch Sprengung der Körperringe, das hatte ich mir ausgedacht und mich dadurch schlimmsten Ängsten ausgesetzt. Ab da schlief ich bei Regen nicht ein. Denn da kamen sie aus der Erde.

Und Mutter… ich nannte sie Mutter, aber…war sie meine Mutter? Einmal war ich mitten in der Nacht hochgeschnellt und saß nun kerzengerade im Bett. Meine Körperhaare hatten sich aufgestellt wie die Stacheln eines Igels, kalte Schauer rannen mir den Rücken hinunter wie Regenfäden am Fenster. Sie war definitiv nicht meine Mutter,  und sie würde mich umbringen! Mit Regenwürmern!

Heute weiß ich, auch dank des Achtsamkeitszwangs, warum ich an Mutter gezweifelt hatte. Das Chaos meiner Kindheitstage konnte ich glücklicherweise entwirren, und die Ereignisse in chronologischer Reihenfolge hatten mir vieles erklärt. Denn diese vermeintliche „Wahrheit“ hatte ich erfahren, als ich etwas jünger gewesen war, das lag ein halbes Jahr zurück, und daran hatte ich mich in dieser Nacht erinnert.

Wie alles andere, war auch das meiner Neugierde geschuldet. Meine Großmutter und ich waren mit den Kühen unterwegs gewesen, ließen sie grasen. Sie hatte ihr Strickzeug dabei, ließ die Wolle von einem Stoffbeutel über ihren Nacken zu ihrem linken Zeigefinger gleiten und strickte, hinter dem Vieh herschlendernd, Wollsocken für den Winter. Ich inspizierte rote Käfer, machte mit den Zähnen verschiedene Muster in große Bohnenblätter, suchte nach Heidelbeeren, bis ich die Unterhaltung von zwei Frauen hörte, die auf dem Weg zur Mühle waren.

Die Jüngere sagte: „Sie kommt aus Aron, was willst du machen.“

Die Ältere schnalzte drei Mal mit der Zunge, drehte dabei ihren Kopf von rechts nach links und antwortete: „Dabei sage ich immer: wenn dein Rock eine aus Aron berührt, zieh ihn aus und verbrenne ihn.“ Erst hatte mich diese Unterhaltung nicht weiter beschäftigt, meine Umgebung, Großmutter und die Kühe boten viel Abwechslung. Doch zu Hause, als wir bettfertig gemacht wurden, fragte ich Mutter, woher ich kam.

Vermutlich schickte es sich nicht, mir die Wahrheit zu sagen, nämlich dass ich die Frucht ihres Geschlechtsverkehrs mit meinem Vater sei. Stattdessen antwortete sie:

„Dich habe ich in Kestanlik gefunden.“ Ausgerechnet Kestanlik. Das ist noch heute ein dunkler steiler Abhang mit Esskastanien, daher kommt der Name, von der Kastanie. Natürlich wollte ich auch wissen, wo sie meinen jüngeren Bruder fand.

„In Düz“.

Das traf mich hart. Düz ist vielleicht der schönste und ebenste Platz in unserem bergigen Dorf, wo wir Ball spielen konnten, ohne ständig den den Hang heruntergerollten Ball suchen gehen zu müssen, was sehr anstrengend war, denn wir waren mehr hinter dem Ball her als beim Spielen. Er ist aus Düz und ich aus Kestanlik. Mein Bruder und ich stammten also nicht aus demselben Ort. Sind wir denn überhaupt noch Geschwister? Ist er mein Bruder? Ist sie dann meine Mutter? Die Sonne schien im Hof, und sie knetete in der Zinkwanne die Schmutzwäsche mit ihren Händen wie Brotteig. Ab und an stiegen Seifenblasen über ihren Kopf. Mein Bruder hatte seinen Spaß und wollte sie fangen, doch sie zerplatzten, sobald er sie berührte. Er schrie vor Freude und jauchzte über die zerplatzten Laugenblasen, immer und immer wieder, bis er hinfiel und seine Nase blutete, Mutter ihre Hände an ihrem Rock abtrocknete und sich um ihn kümmerte. Dieser Trottel, da war ich fast froh, mit dem nicht verwandt zu sein.

Aber dann war ich ganz allein.

MiniKrimi Adventskalender am 9. Dezember


Diesen kurzen MiniKrimi habe ich schon 2014 geschrieben und heute nur etwas aufgepeppt. Er passt zum Münchenhimmel, heute, grau und schneebeladen, ahnungsvoll.

Luise und die Elster

Was ist passiert?

Benommen schaut Thea sich um. Das Zimmer dreht sich um seine eigene Achse, und sie lehnt sich an die Wand, um nicht umzukippen.

Wie ist sie hierhergekommen? Eben noch kauerte sie auf dem Kiesboden vor den Stufen, die zur großen, dunklen Haustür führen, und kramte vergeblich in ihrer Handtasche nach dem Schlüsselbund. Thea hat die Villa von ihrer Großmutter geerbt, vor knapp einem Monat. Sie soll darin wohnen, das war Großmutters Wunsch. Aber sie ist sich noch nicht sicher, wie sie sich entscheiden wird. Alles ist so fremd, riesengroß, düster und bedrohlich, wie in einer Geschichte von Edgar Allen Poe.

Aber es war eine Elster, kein Rabe, die sie vom bröckelnden Fenstersims aus argwöhnisch beobachtete, bevor sie ihr ein paar gekrächzte Laute hinunterwarf und, als Thea nicht reagierte, energisch das schwarze Federköpfchen schüttelte. Zu spät.

Thea wurde schwarz vor Augen.

Und jetzt steht sie in einem ihr fremden und gleichzeitig entfernt vertrauten Raum. Ein Ankleidezimmer, ganz offensichtlich. In ordentlichen Reihen hängen altmodische Anzüge und Hemden, gegenüber Kleider im Stil der sechziger Jahre, allesamt schwarz. Pullover und Blusen, Socken und Schuhe, alles säuberlich eingeräumt. Es riecht nach Lavendel und Mottenpulver.

Was mache ich hier, fragt sie sich. Da rascheln die Kleider wie von einem plötzlichen Windstoß bewegt, die Röcke schwingen und die Schuhe klappern mit den Absätzen. „Finde die Wahrheit. Tu es für mich“, flüstert die Luft. Ein Nerzmantel schüttelt sich heftig, und aus seinen Falten weht ein kleines Foto heraus. Ein junges Mädchen mit frischem Gesicht, roten Locken und einem adretten Dienstmädchen-Häubchen. Das Foto ist schwarz umrandet, so, wie es früher bei Traueranzeigen üblich war. Luise, 1965, steht auf der Rückseite.

Thea öffnet die Verbindungstür, die zu einem Schlafzimmer führt, und da steht sie . Luise. Das Dienstmädchen-Häubchen liegt am Boden, eine Kaskade roter Locken fällt in rhythmischen Schlägen weich gegen ihren rosigen Rücken. Zwei Hände umklammern ihre nackten Pobacken, und ein Schopf braungrauer Haare schmiegt sich an ihren Hals. Ist es das, was ich sehen soll? Ein lautes, befriedigtes Stöhnen, Schopf und Hände lösen sich von dem Frauenkörper. „Zieh dich an und sag meiner Frau, meine Migräne sei besser geworden, dank ihres Kaffees, und dass ich gleich unten bin.“ Der Mann, der Theas Großvater war, geht in’s Badezimmer und erfrischt sein Gesicht mit Wasser und Parfum. Sie erkennt den Duft ihrer Kindertage. Eine Mischung aus Moschus, Tabak und Zufriedenheit.

Im Schlafzimmer zieht Luise sich die Kleider hoch und steckt die Haare unter das Häubchen. Sie geht zum Fenster und macht es weit auf, beide Flügel. Beugt sich hinaus in die Nacht, hebt das Gesicht zu den Sternen. Was sie wohl denkt? Thea, die unsichtbare Zuschauerin, spürt einen Lufthauch und sieht einen Schatten ins Schlafzimmer gleiten. Schwarze Schwingen erheben sich lautlos hinter Luise, und wie von selbst fällt das Mädchen aus dem Fenster. Der Sturz an sich wäre kaum tödlich gewesen, hätte nicht gerade dort eine Sense an der Hauswand gelehnt, die Klinge nach oben gerichtet.

Ein leises Seufzen, voller Schmerz und Zufriedenheit. Kommt es aus Luises Mund? Oder von dem Wesen in schwarz., das sich aus dem Fenster lehnt und in die Dunkelheit hinunterschaut?

So, denkt Thea. Nun weiß ich also, dass mein Großvater ein Schürzenjäger und meine Großmutter eine Mörderin war.

Und jetzt? „Nichts, es genügt mir, dass es jemanden gibt, der weiß, wie ich wirklich gestorben bin“, flüstert es aus der Kastanie im Hof.

Thea schließt die Augen,. Einen Moment? Eine Stunde? Als sie sie wieder öffnet, kauert sie auf der obersten Steinstufe der alten Familienvilla, in die sie bald einziehen wird. Das weiß sie jetzt. Denn das Unheimliche ist einem Gefühl tiefen Friedens gewichen, so, wie ein Gewitterhimmel, der nach dem Sturm wieder leuchtend blau strahlt.

Über ihr krächzt eine Elster. Ein Windstoß weht ihr in einem leuchtenden Blätterbüschel den Schlüsselbund vor die Füße.

Adventskalender MiniKrimi am 23. Dezember


Falsch verbunden

„Was ist denn das für eine Frau da neben Opa? Die sieht ja spektakulär aus!“

Marie liegt bäuchlings vor dem Kamin, auf ihrem Schoß ein altes Fotoalbum. Hinter ihr auf dem Sofa, mit einer warmen Decke über den Füßen, sitzt ihre Großmutter. Die beiden haben sich vorgenommen, in der heuer so stillen Weihnachtszeit etwas aufzuräumen und auszumisten. Und heute sind die Fotoalben dran. Dieses hier ist so verstaubt, das hat sicher in den letzten 20 Jahren niemand mehr duchgeblättert.

„Lass mal sehen. Das ist ja….. wie kommt denn das Bild da rein? Ich wusste nicht, dass Max überhaupt noch ein Foto von…. von….. dieser Frau aufgehoben hat.“

Marie spitzt die Ohren. „Das hört sich nach einer spannenden Geschichte an, Oma. Erzähl!“

„Ja, das ist nicht nur eine spannende Geschichte, das ist ein richtiger Krimi.“

Inge lehnt sich auf dem Sofa zurück, schließt kurz die Augen, wie um die Erinnerungen zu sammeln und zu sortieren.

„Das Foto ist von 1950. Damals waren dein Opa und ich noch nicht verheiratet. Er war Postbeamter in einer kleinen Stadt in Hessen. So ein Postbeamter war damals eine richtig wichtige Persönlichkeit. Max verkehrte in den besten Kreisen der Stadt, und er war zu allen Festen eingeladen. Das Foto hier ist bei solch einem Fest entstanden.“

„Und wer ist denn jetzt diese geheimnisvolle Frau?“

„Ihren wirklichen Namen kenne ich gar nicht. Wir im Amt haben sie immer nur die schwarze Baronin genannt.“

„Die schwarze Baronin? Aber wenn Opa und du euch noch nicht kanntet, woher wusstest du dann von dieser Frau? Und was hatte sie mit Opa zu tun?“

Was sie mit Opa zu tun hatte, ist schnell erklärt: sie wollte ihn heiraten. Und ich kannte sie nicht persönlich – aber ich kannte ihre Telefonnummer!“

„Ach stimmt, du warst ja ‚das Fräulein vom Amt‘.“

„Genau. Und ich musste täglich mindestens zehn Anrufe an die Frau Baronin durchstellen. Und sie selbst telefonierte auch ziemlich viel. Damals war ein einfach, die Gespräche mitzuhören. Bei der schwarzen Baronin waren wir einfach neugierig, weil sie so „begehrt“ war – und von was für Typen! Da waren Stimmen dabei – richtig gruselig. Heute bin ich nicht stolz darauf, aber damals haben meine Kolleginnen und ich uns manchmal einen Spaß daraus gemacht, die Gespräche „abzuhören. Und dabei bekam ich ziemlich schnell heraus, dass die schwarze Baronin ihre Finger in ziemlich schmutzigen Geschäften drin hatte. Naja, und eines Tages rief jemand für sie an, dessen Stimme ich noch nie gehört hatte. Ich kann dir auch nicht sagen, warum, aber er war mir auf Anhieb sympathisch. Er war auch freundlich, nicht so kurz angebunden wie die meisten. Und er bedankte sich für die Verbindung – das war was ganz besonderes.

Und dann wollte er ausgerechnet die schwarze Baronen sprechen! Ich habe ihn natürlich durchgestellt. Und dann telefonierten die beiden immer öfter. Erst einmal die Woche, dann alle drei Tage und schließlich täglich. Inzwischen begrüßten wir uns auch schon wie alte Bekannte, und bevor er sich von mir verbinden ließ, fragte er immer, wie es mir ging. Ich fand ihn toll. Und ich machte mir große Sorgen wegen der schwarzen Baronin. Na gut, vielleicht war ich auch ein wenig eifersüchtig…..

Schließlich belauschte ich ei nTelefonat zwischen der Baronin und einem besonders fiesen Typen. Er hatte einen starken Berliner Akzent und hörte sich für mich wie ein echter Gangster an. Er drohte der Baronin, die wohl eine Rechnung bei ihm offen hatte, ganz unverhohlen. Sie beruhigte ihn und versprach, ihre Schulden sehr bald auszugleichen. Sie hätte da einen Mann an der Angel, der sei bodenständig und habe eine solide Barschaft. Sobald sie ihn geheiratet hätte, würde sie alles zahlen – und noch was drauflegen.

Mir wurde Angst und Bange, denn ich wusste, dass dein Opa eine Schwäche für die Baronin hatte. Es konnte sich also nur um ihn drehen. Als sparsamer Postbeamter hatte er ein bescheidenes Vermögen angespart. Das hatte ich alles über ihn rausbekommen. Wie gesagt, er interessierte mich…..

Ich wollte unbedingt verhindern, dass er der schwarzen Baronen ins Netz ging. Tagelang grübelte ich, aber dann hatte ich einen Plan.

Als der Berliner das nächste Mal bei der Baronin anrufen wollte, sagte ich ihm, die Leitung sei besetzt. Schnell wählte ich die Nummer von Max, sagte ihm, die Baronin wolle ihn sprechen, und hielt ihn so lange in der Leitung, bis die den Berliner und die Baronin verbunden hatte. Dann schaltete ich ihn dazu und hoffe, dass er als Lauscher das richtige zu hören bekommen würde. „

„Was für ein ausgebuffter Plan, Oma. Und – hat es geklappt?“

„Sonst wärst Du heute nicht hier, Marie. Ja, es hat geklappt. May müssen die Ohren geklungen haben, als die Baronin den Berliner wieder mit dem Hinweis auf den baldigen Geldsegen beschwichtigt hat. Aber damit nicht genug: Sie hat ihm auch erzählt, dass sie sich einen dämlichen Postbeamten geangelt habe, stinklangweilig, aber dafür gutgläubig – und gut situiert. Max hat sich nie wieder bei ihr gemeldet, und ich durfte ihre Anrufe an ihn nicht durchstellen.

Nach einiger Zeit lud er mich das erste Mal zum Essen ein…… naja, und der Rest ist Geschichte. Aber die Baronin muss ihn mächtig beeindruckt haben, wenn er ihr Foto die ganzen Jahre aufgehoben hat….“

„Ach, Oma. Vielleicht wollte er sich nur daran erinnern, dass du ihn damals gerettet hast. Was für eine romantische Geschichte!“

„Ja. Da hat sich die Baronin geirrt. Max war alles andere als langweilig. Er war im Gegenteil sehr romantisch. Weißt du, ich vermisse ihn“

„ich auch.“

Foto: deacademic.com